# taz.de -- Debatte um Letzte Generation: Klimakleben für alle
       
       > Die Debatte um die Letzte Generation muss abgerüstet werden. Denn ein
       > zukunftsfähiger Alltag gelingt nur, wenn die Mitte der Gesellschaft
       > mitmacht.
       
 (IMG) Bild: „Letzte Generation“ auf dem Marsch durch die Institutionen, hier zu Verkehrsminister Volker Wissing
       
       Wenn in einem Gespräch die folgende Wendung formuliert wird, gerät die
       Unterhaltung auf eine gefährlich schiefe Ebene: „Ich habe ja nichts gegen
       (Frauen, Flüchtlinge, Konservative), aber …“ Denn wer so redet, meint
       eigentlich: Ich habe sehr wohl etwas gegen Frauen, Flüchtlinge,
       Konservative, aber ich will das nicht zugeben.
       
       An diesem Punkt ist in Deutschland derzeit auch die Debatte um Klimaschutz
       und die Aktionen der „Letzten Generation“ angekommen. „Ich bin ja auch für
       Klimaschutz, aber er darf nichts kosten, ich definiere Freiheit über meine
       Gasheizung, ich muss mit dem Auto zur Arbeit.“ So schallt es aus den
       Parlamenten, Talkshows, Umfragen und so sagen es Menschen, die genervt vor
       „Klimaklebern“ stehen und aus ihrem Alltag gerissen werden. Aber ebendarum
       geht es der „Letzten Generation“ ja gerade: den Alltag zu unterbrechen, der
       die Klimakrise immer weiter anheizt.
       
       Das Tragische ist: Auf gewisse Weise haben alle Beteiligten recht. Die
       AktivistInnen fordern zu Recht radikalen und sofortigen Klimaschutz;
       Bundeskanzler Olaf Scholz warnt zu Recht, man dürfe die Menschen mit
       Klimaschutz nicht überfordern; die Opposition poltert zu Recht, die
       Regierung dürfe nicht das Klimaschutzgesetz entkernen; die Grünen verweisen
       zu Recht darauf, dass es nicht reicht, wenn nur sie in der Ampel
       Klimaschutz ernst nehmen; die FDP will zu Recht mehr Forschung und neue
       Techniken, um die Klimakrise zu bekämpfen.
       
       So aber kommen wir nicht weiter. Einen Ausweg gibt es nur, wenn wir die
       inhaltlich notwendige Forderung der Klimabewegung – „Schluss damit!“ –
       zusammenbringen mit den Ängsten und Hoffnungen einer Mehrheit der
       Bevölkerung, die am „Weiter so!“ klebt. Wenn die nötige Disruption von
       Prozessen, der Abschied vom fossilen Lebensstil, versöhnt wird mit der
       Sehnsucht nach Sicherheit und einem guten Leben.
       
       Klingt unmöglich? Ist aber die einzige Option, die toxische Debatte zu
       verlassen. Es braucht dafür einen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen
       und ökonomischen Kraftakt: Wir müssen Methoden finden, um schnell aus dem
       fossilen System aussteigen zu können – ohne Ängste zu verstärken, damit
       gingen hier die Lichter aus.
       
       Was heißt das konkret? Frisches Denken, freches Gegen-den-Strom-Schwimmen
       und schnelles Planen. Manches wird funktionieren, anderes nicht. Beispiele
       wären etwa:
       
       - Verpflichtende Solaranlagen [1][für alle Dächer beschließen].
       
       - Sich auf [2][technologische Durchbrüche etwa in der Zementproduktion]
       oder von Solarfassaden fokussieren und sie schnell umsetzen.
       
       [3][- Autofreie Innenstädte mit ÖPNV-Nulltarif] per Volksabstimmung in
       Kommunen durchsetzen.
       
       - [4][Einen Steuerstreik gegen fossile Subventionen organisieren].
       
       - Einen populären „Bundesbeauftragten für fossilen Ausstieg“ und eine
       „Bundesbeauftragte für zukunftsfähigen Einstieg“ auf Dauer-Werbetour
       durchs Land schicken.
       
       - Einen Fonds von Spenden und Abgaben gründen, um Agrarflächen aus der
       Intensivlandwirtschaft für Klimaschutz, Moorvernässung und Artenvielfalt
       herauszukaufen.
       
       [5][- Endlich ein sozial gerechtes „Klimageld“ einführen].
       
       - Radikales Energiesparen, [6][das sich an den Erfolgen des Jahres 2022 mit
       Einsparungen von 17 Prozent beim Gas] orientiert.
       
       Dringend nötig ist es aber erst einmal, die Proteste anders zu sehen,
       besser zu verstehen, mehr zu schätzen und in positive Energie zu
       überführen. Noch nie hat es in Deutschland eine so große Gruppe junger
       Menschen gegeben, die für ihre Zukunft und ein globales Problem so
       engagiert, so gut informiert, so brillant organisiert und so angstfrei
       agiert hat wie die Generation „Fridays“.
       
       Auch wenn wegen ihrer Straßenblockaden geschimpft wird: Die jungen
       Menschen haben die Regeln unseres Gemeinwesens sehr genau verstanden und
       halten sich meist akribisch an die politischen Spielregeln. Sie sind sehr
       gut (und oft besser als ihre KritikerInnen) informiert – Aussteiger sind
       sie nicht. Sie haben sich zusammengeschlossen, eigene Aktionsformen
       entwickelt, um die Gesellschaft zu verändern – „No Future“ ist nicht ihre
       Parole.
       
       Sie akzeptieren ein Risiko für ihre eigene Gesundheit und ihre eigene
       Karriere – Profilierung auf Kosten anderer kann man ihnen nicht vorwerfen.
       Sie sind in Verbände und Vereine gegangen, engagieren sich in Parteien –
       Politikverachtung sieht anders aus. Sie haben sich mit anderen Lobbygruppen
       vernetzt – Hilflosigkeit ist nicht ihr Problem. Sie haben sich ihre
       Forderungen vom höchsten deutschen Gericht bestätigen lassen –
       Verfassungsfeinde sind sie nicht.
       
       Und vor allem: Sie bleiben friedlich – die „Klima-RAF“ bleibt ein Phantom.
       Wer es herbeifantasiert, will die junge Protestbewegung für eigene Zwecke
       einspannen oder diskreditieren. Es ist im Gegenteil bemerkenswert, wie
       diszipliniert und politisch klug die AktivistInnen ihre Gewaltfreiheit
       trotz allen Gegenwinds und allen Frusts durchhalten.
       
       Anderswo brennen bei geringeren Anlässen die Barrikaden. Wenn konservative
       Opposition und Presse dennoch von „Terrorismus“ und „Gewalt“
       schwadronieren, zeigen sie nur, wie hilflos sie einer Bewegung
       gegenüberstehen, die sie nicht verstehen – und dass sie sich grundlegende
       Veränderungen in unserem System offenbar nur gewalttätig vorstellen können.
       
       Die „Letzte Generation“ hat aber auch ein Problem. Sie findet sich nur
       schwer damit ab, eine Minderheit in der Bevölkerung zu sein. Die Blockaden
       und die Forderungen richten sich an eine Mehrheit, die ihren Ideen kritisch
       bis ablehnend gegenübersteht. Es fehlt eine klare Strategie, wie die
       Bewegung dieser Falle entkommen will.
       
       Verglichen mit ihrem Pathos und ihrem Störpotenzial sind ihre Forderungen
       fast banal: Tempolimit, 9-Euro-Ticket, Bürgerrat, Gespräche mit der
       Regierung, wie am Beginn der Woche mit Verkehrsminister Volker Wissing.
       Alles gute Ideen – aber nichts, was uns einer echten Veränderung des
       fossilen Systems wirklich näher bringt. Keine Disruption.
       
       Das ist nicht nur der Fehler der „Letzten Generation“. Vor allem zeigt
       unser „Establishment“ einen unglaublichen Mangel an politischer Fantasie,
       mit dem drängenden Klimaproblem wirksam umzugehen. Viele Rezepte sind
       dieselben, mit denen wir schon seit 20 Jahren an effektivem Klimaschutz
       scheitern: viel Geld für Forschung, aber unfokussiert, weil
       „technologieoffen“; ein Staat, der Fossile Energien weiter subventioniert,
       Klimaziele und -gesetze, die mangelhaft umgesetzt werden – und nicht
       zuletzt eine Regierung, die das Land bis 2045 klimaneutral machen will,
       aber das konsequente Ende des fossilen Systems ablehnt, das damit
       einhergehen muss.
       
       Ganz egal, was die Spindoktoren von Regierung, Opposition, Teilen der
       Wirtschaft und der Medien jetzt wieder verbreiten: Der radikale Wandel, den
       die „Letzte Generation“ fordert, ist nötig und der einzige Ausweg aus dem
       Klima-Wahnsinn. Die wissenschaftliche Begründung dafür steht in den
       Berichten des UN-Klimarats IPCC, in den Untersuchungen von deutschen
       Behörden und Thinktanks und sogar im Koalitionsvertrag: Um die Klimakrise
       halbwegs im Griff zu behalten, ist es nötig, schnell, tiefgreifend, auf
       allen Feldern und an allen Orten zu handeln: Jetzt sofort alles anders zu
       machen – das ist Disruption.
       
       Wie das aussehen soll, kann die Gesellschaft aber nicht der „Letzten
       Generation“ überlassen, sie muss diesen Prozess selbst vorantreiben. Die
       Sicherstellung unserer Lebensgrundlagen ist keine exklusive Angelegenheit
       der „Grünen“ oder der „Letzten Generation“. Deshalb müssen sich auch alle
       Akteure beteiligen: Parteien, Behörden, Thinktanks, Firmen, Stiftungen,
       Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften, Kulturbetrieb. Dort ist inzwischen
       die Erkenntnis eingesickert, dass das mit dem Klima ein Problem ist. Aber
       ein ehrlicher Wettstreit darum, wie Deutschland und Europa klimaneutral
       werden sollen, steht noch aus.
       
       In der jeweils eigenen Blase müssen Ideen entwickelt werden, wie das
       konkret gehen soll, „Schluss mit dem ‚Weiter so‘“. Das macht viel Arbeit
       und Ärger. Aber es gibt ja Vorbilder: [7][Einen partiellen Steuerstreik
       haben in den 80er Jahren schon Rüstungsgegner ausgerufen]. Strikte
       Bauregeln wie eine Solarpflicht gibt es in anderen Ländern. Weit reichende
       und vernünftige Ver- und Gebote akzeptieren wir ganz selbstverständlich
       etwa bei Lebensmitteln, Waffen oder Versicherungen, der Gurtpflicht oder
       dem Rauchverbot. Kampagnen für autobefreite Innenstädte oder Fundraising
       für Landkäufe sind das Standardrepertoire der Zivilgesellschaft.
       
       Es müssen nicht alle, aber viele mitmachen – aus der letzten, aber auch der
       vor- und vorvorletzten Generation: Für eine Solarpflicht braucht es
       JuristInnen in der Verwaltung, keine Protestierer in Präventivhaft.
       Durchbrüche bei der Zementproduktion schafft am besten die
       Zementwirtschaft, nicht der Soziologiestudent mit Warnweste. Für das
       Klimageld brauchen wir Finanzexperten, für die Energiewende die Menschen
       auf dem Land, fürs Energiesparen die „Geiz ist geil“-Fraktion.
       
       Wir können von der „Letzten Generation“ vieles lernen. Vor allem dies: Der
       konsequente Kampf gegen die Klimakrise ist kein Hobby für junge Menschen
       oder Autohasser. Es ist die wichtigste Aufgabe, die dieses Land im 21.
       Jahrhundert zu bewältigen hat, gemeinsam und solidarisch. Damit sollten wir
       endlich anfangen.
       
       6 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.pv-magazine.de/2022/09/09/wwf-will-photovoltaik-pflicht-fuer-alle-daecher/
 (DIR) [2] https://www.mckinsey.com/industries/chemicals/our-insights/laying-the-foundation-for-zero-carbon-cement
 (DIR) [3] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/05/volksbegehren-autofreie-innenstadt-unzulaessig-berlin-senat.html
 (DIR) [4] https://www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-wirtschaft/umweltschaedliche-subventionen-in-deutschland
 (DIR) [5] https://www.rnd.de/politik/klimageld-der-ampel-was-es-kann-und-wer-es-bekommen-soll-YBQ7EL6L7NCMDGCH6JGGKPY73U.html
 (DIR) [6] https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Gasversorgung/aktuelle_gasversorgung/Rueckblick/start.html#:~:text=Im%20Jahr%202022%20hat%20Deutschland,Industrie%20entfielen%2058,6%20Prozent.
 (DIR) [7] https://www.spiegel.de/politik/papierkrieg-statt-krieg-a-fa35fbc6-0002-0001-0000-000014023008
       
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