# taz.de -- Wie der Punk nach Hannover kam: Ein Ganz-Vorher und ein böses Ende
       
       > Bis heute ist Niedersachsens Hauptstadt als Punk-Metropole unterschätzt.
       > Der Band „Wie der Punk nach Hannover kam“ nimmt die längst fällige
       > Korrektur vor.
       
 (IMG) Bild: Annette Benjamin und ihre Band Hans-A-Plast aus Hannover waren die ersten Punk-Stars in Deutschland
       
       Hannover im Mai 2023. Das ursprünglich besetzte Kulturzentrum Pavillon
       befindet sich am Rand der brutalistischen Szenerie um den Hauptbahnhof der
       von alliierten Bombern einst schwer getroffenen Stadt. Im Pavillon singt
       Der Moderne Man eines seiner alten Lieder. Nachdem man unter der
       Stadtautobahn hierhergelaufen ist, versteht man es noch besser: „Die Welt
       ist heute praktisch / Die Welt ist so bequem / Ich steh auf Fortschritt,
       Technik / Die Zukunft will ich sehn.“ Im Pavillon wird an diesem Abend das
       Erscheinen des Buchs „Wie der Punk nach Hannover kam“ gefeiert.
       
       Davor hängt ein nicht mehr junger Mann mit Iro und Lederjacke herum. Er ist
       aber noch deutlich jünger als die erste Generation von Punk in Hannover,
       die sich ebenfalls auf den Weg in den Pavillon gemacht hat. Drinnen ist ihm
       die Luft zu schlecht, sagt er, und so ganz überzeugt ist er auch von der
       Musik nicht. Nun nähert sich dem Iroträger ein junger Mann, Marke Hipster
       mit Bart: Diese Selbstbeweihräucherung nerve, sagt der Bart zum Iro über
       das Geschehen im Pavillon. Der Bartbesitzer hat sich den Iroträger
       offenkundig bewusst als „authentischen“ Punkadressaten für seine Klage
       ausgesucht.
       
       Damit hat Hipster-Bart gleich mehrere Probleme der Rezeption von Pop in
       Deutschland performt. „Punker“, das sind für Otto Normalverbraucherin auch
       45 Jahre nach der Ankunft von Punk in Mitteleuropa Menschen mit Iro,
       Lederjacke, Hund und der Frage: Haste mal ’n Euro. Kluge Leute wiederum,
       die es schon damals albern fanden, als Punkklischee rumzulaufen und sich
       heute mit ihrer Vergangenheit befassen, werden als kuriose Gestalten
       betrachtet, die sich auf ihre alten Tage selbst feiern. Lebten wir in
       England, wüsste jeder smarte Teenager, wer die Band Der Moderne Man war:
       Popgeschichte.
       
       ## Hannover war eine Punk-Metropole
       
       Der reich bebilderte Band „Wie der Punk nach Hannover kam“ wird nun
       hoffentlich zur Verbreitung der Erkenntnis beitragen, dass Hannover als
       Punk-Metropole bis heute sträflich unterbewertet wird. Herausgegeben wurde
       das bei Hirnkost erschienene Buch von Klaus Abelmann, Detlef Max und Hollow
       Skai.
       
       Skai war seit Ende der 1970er der federführende Chronist der Punkszene der
       Stadt. Sein Fanzine hieß No Fun, und das wurde bald auch Name eines
       unabhängigen Plattenlabels, auf dem heute als kanonisch geltende
       Punkplatten von Hans-A-Plast, Der Moderne Man, 39 Clocks, Mythen in Tüten
       und Bärchen und die Milchbubis erschienen. Skai und seine Freunde
       organisierten auch ein unabhängiges Vertriebsnetz für die neue Musik.
       
       Herausgeber zwei, Detlef Max, machte ebenfalls ein Fanzine, es hieß
       Schlappschiss. Klaus Abelmann schließlich war Herausgeber von
       Gegendarstellung, des selbsternannten Organs der Gossenpunks von Hannover.
       
       ## Sprechen über das, was wirklich passiert
       
       Ursprünglich schrieben in den Fanzines Fans über die Objekte ihrer
       Verehrung, über Popstars, Bands, Schallplatten und Konzerte, über Mode,
       Comics und Filme. Bald aber wurden die Zines zu einem eigenständigen
       literarischen Medium. „Sie sind genau die Art von Literatur, die die Kids
       wollen“, schrieb Rosa, Abelmanns Kollege bei der Gegendarstellung. „Ihr
       eigenes Leben, gedruckt auf Papier, man kann es kaufen. Erkenntnisse aus
       einem Zusammenstoß mit einem Proleten werden den Leuten mitgeteilt, von
       denen man meint, sie müssten es wissen, und auch, was auf der letzten Party
       am Rande geredet worden ist.“ Diese „Alltags-Stories“ handelten laut Rosa
       davon, „was wirklich passiert“.
       
       In „Wie der Punk nach Hannover kam“ sind nun zwar vor allem rückblickende
       Texte zu finden. Aber auch die leicht veränderte Fassung von einem der
       besten Texte, die je über Punk in Deutschland geschrieben wurden. Klaus
       Abelmann hat ihn 1980 verfasst: „Alles, was Sie schon immer über Punk
       wissen wollten (But Were Afraid to Ask)“. Darin berichtet Abelmann unter
       anderem von einer Party im Haus des weit über Hannover hinaus bekannten
       linken Kabarettisten Dietrich Kittner, dessen Sohn Konrad alias Votze
       Flamenco bei der Punkband Kondensators spielte. Im Verlauf der Fete fällt
       ein Gemälde, das die Revolution feiert, von der Wand und auch ansonsten
       herrscht veritables Chaos.
       
       ## Niemand ging in den Dohmeyers Weg, wenn er nicht musste
       
       Unruhe wird überhaupt gern gestiftet: „Ein echtes Punk-Konzert gliedert
       sich immer in ein Ganz-Vorher, ein Vorher, ein Nachher und ein böses Ende“,
       schreibt Abelmann. Der krönende Abschluss eines 1980er Punkkonzerts sei das
       gewohnt böse Ende mit Polizeigroßeinsatz, Personalienfeststellung, Anzeige.
       „Jemand hatte einen Blumentopf in die gute Stube einer hannoverschen
       Durchschnittsfamilie geworfen.“
       
       Aber auch die Musik selbst brachte Unruhe in die deutsche Kultur. Die 39
       Clocks, die sich eine Zeitlang Automats nannten, kamen 1977 bei einem
       Kulturgroßereignis nicht gut an: „Bei der documenta 6 wies ihnen Joseph
       Beuys persönlich die Tür, nachdem ihre Musik seine schöne Abschiedsrede
       bereits im Ansatz erstickt hatte.“
       
       Die Gegendarstellung schrieb für Leute, die in Punk das ideale Vehikel für
       ihre Teenagerebellion entdeckten. Nicht alle kamen aus bürgerlichen
       Familien. Rosa, einer der prägenden Autoren des Fanzines, ist lebender
       Beweis dafür, dass die von David Spoo, der bei Klischee Gitarre spielte, im
       Buch und auf der Pavillon-Bühne vorgebrachte These, Punk in Hannover sei
       ein Mittelschichtsding gewesen, mindestens nach einer Differenzierung
       verlangt. Zwischen unterer Mittelklasse und gutbürgerlichem Elternhaus
       liegen mitunter Welten. Hannover-Kleefeld, wo Rosas Familie lebte, galt als
       berüchtigt: „Niemand ging in den Dohmeyers Weg, wenn er nicht musste.“
       
       In manchen Bands kamen Studentinnen und Teenager, Leute, die ihre
       Freakvergangenheit nicht immer gut verbergen konnten, und moderne junge
       Menschen zusammen: Die Frauen und Männer von Hans-A-Plast waren vor Punk in
       der Anti-AKW-Singebewegung aktiv, ihre rotzige junge Sängerin Annette
       Benjamin war mit 17 von zu Hause abgehauen. In London hatte sie die Musik
       von X-Ray Spex und deren Sängerin Poly Styrene entdeckt.
       
       ## Kein Stress mit PMS!
       
       Im Pavillon zu Hannover tritt Annette Benjamin mit der
       Multiinstrumentalistin Cindy Weinhold auf. Sie singt zu moderner
       Synthiemusik die alten Texte von Hans-A-Plast. Benjamin hat derweil auch
       Die Benjamins mitgegründet. Dass das auf Interesse stößt und Die Benjamins
       auf Spotify gehört werden, hat auch damit zu tun, dass Punk unter den
       Jungen von heute eine Renaissance erlebt. Das vor kurzem erschienene
       Debütalbum der Benjamins beweist en passant, dass Annette Benjamin immer
       noch eine der prägnantesten Stimmen in der deutschsprachigen Popmusik ist.
       
       Das gilt, weniger wegen ihres Volumens als ihrer Texte, auch für Annette
       Simons, Sängerin von Bärchen und die Milchbubis. Sie hatten Anfang der
       1980er einen Szene-Hit, der den Titel „Jung kaputt spart Altersheime“ trug.
       Die Band tritt inzwischen – zum Trio geschrumpft – wieder auf, so kaputt
       waren sie dann doch nie. Annette Simons muss im Pavillon in Hannover
       manchmal erst den richtigen Griff auf der Gitarre finden, bevor das nächste
       Stück losgehen kann.
       
       Die Pause nutzt sie, um ihre Lieder anzumoderieren – es sind auch neue
       darunter –, und hat dann die Lacher auf ihrer Seite: „Viele fragen uns, wie
       es ist, alt zu werden. Super, antworte ich dann, vor allem für Frauen: Kein
       Stress mit PMS!“ So heißt auch das Stück, das die Band dann zum Besten
       gibt. Annette Simons schreibt immer noch hervorragende Pop-Lyrics.
       
       ## Den Iro kämmte er zur Seite
       
       Auf einigen der zahlreichen Schwarzweißfotos im Buch kann man die junge
       Annette Benjamin in verschiedenen Stilphasen bewundern. Überhaupt belegen
       die Fotografien eine faszinierende Fashion-Vielfalt. Ziggy XY, erster
       Sänger von Der Moderne Man, trug auf der Bühne Adidas-Turnschuhe, helle
       Stoffhose, schwarzes T-Shirt und eine Kassenbrille; Jens Gallmeyer schwarze
       Balken unter den Augen; die beiden Herren von den 39 Clocks meist Anzug,
       Hemd und stets dunkle Sonnenbrille; Blitzkrieg-Bassist Bärbel gar Tolle,
       Koteletten und Schnauzer, Rosa eine Mischung aus Iro und Vokuhila.
       
       Rosa beschreibt in seinem Buchbeitrag (der vor vielen Jahren von taz Nord
       [1][als Serie unter dem Titel „Wie der Punk nach Hannover kam“
       veröffentlicht worden ist] und also dem Buch seinen Namen verschafft hat)
       eine weitere Style-Variante: „Als alternatives Outfit, das ich fake popper
       nannte, trug ich manchmal einen weiten hellblauen Pullover, den eine
       Freundin an der Strickmaschine ihrer Mutter gefertigt hatte, dazu
       zerschlissene Hochwasserkarottenjeans und spitze schwarze Halbschuhe. Den
       Iro kämmte ich zur Seite. In diesem Outfit lernte ich Studentinnen kennen,
       es wirkte einfach nicht so abschreckend.“ Rosas Fake-Popper-Stil war mehr
       Punk als die Lederjacken-Uniform, verfolgte Punk doch eine Ästhetik der
       Negation.
       
       ## Als der Untergang Hannovers drohte
       
       Dass das ästhetische Programm von Punk oberflächlich zwar recht schnell von
       der autonomen Linken übernommen wurde, in deren Praxis aber nicht aufging,
       zeigt der Buchbeitrag von Karl Nagel, einem der Organisatoren der
       berüchtigten Hannoveraner Chaos-Tage. Anlass des ersten Chaos-Tags war eine
       taz-Geschichte. Jürgen Voges berichtete 1982 darüber, dass die Politische
       Polizei in Hannover den Auftrag bekommen hatte, die Punks der Stadt in
       einer eigenen Datei zu erfassen. Die antworteten nun darauf, indem sie die
       Punks der Republik nach Hannover einluden, um sich ebenfalls registrieren
       zu lassen. Ein guter Witz, der auf Plakaten mit dem drohenden „Untergang
       Hannovers“ in Verbindung gebracht wurde.
       
       Später – sein nun im Buch wieder abgedruckter Text ist schon einige Jahre
       alt – sinnierte Karl Nagel selbstkritisch über die Ideologisierung von
       Punk. Er habe selbst „Wesentliches“ zum Untergang von Punk beigetragen,
       meint Nagel, „kam ich doch selbst in die Szene als gestrandeter Linker, der
       Punk zunächst als besonders radikalen Ausdruck autonomer Ideen umsetzte.
       Der Parolen vorexezierte, die dann eifrig nachgeplappert wurden. Der auf
       Mob, Masse und Konformität setzte, statt auf Individualität und Experiment.
       Dass dabei wertvolle Fantasie und Originalität unwiederbringlich zerstört
       wurden – was ‚politisch bewusste Menschen‘ gern als ‚apolitische
       Grundhaltung‘ bezeichnen – wurde mir erst klar, als es zu spät war.“
       
       Punk in Deutschland war keine politische Bewegung, aber zeigte klare
       Haltung, indem er nein zu einer autoritären Gesellschaft sagte, in der noch
       viel Nazi-Ideologie steckte. Er lehnte Normierungszwänge ab und wandte sich
       radikal gegen die Verschiebung von Wunsch und Begehren in eine bessere
       Zukunft, zumal Letztere nicht zu erwarten war. Punk lebte und lebt im Hier
       und Jetzt.
       
       25 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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