# taz.de -- Besuch im Holstentor: Das schiefe Tor von Lübeck
       
       > Die Nazis haben versucht, das Holstentor zum Zeichen nordischer
       > Wehrhaftigkeit zu machen und umgebaut. Und zwar so, dass einem schwindlig
       > wird.
       
 (IMG) Bild: In Lübeck steht das Holstentor, ein touristischer Hotspot. Man sollte unbedingt auch hingehen
       
       LÜBECK taz | Es ist immer gut, einen wohlvertrauten Ort auch mal mit neuen
       Augen zu sehen. Vielleicht mit dem Blick desjenigen, der sich einem Bauwerk
       erstmals nähert, das er bis dato nur von den 50-D-Mark-Scheinen kannte:
       Genau, das [1][Lübecker Holstentor] haben für unseren kleinen nordischen
       Ausflug gewählt: Lebhaft erinnern wir uns noch an unseren Schock beim
       ersten Anblick: So winzig, armselig, verkehrsumtost: Das sollte das
       berühmte mittelalterliche Stadttor sein? Welch ein Betrug, welch jäh
       zerplatzte Illusion!
       
       Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, findet es recht stattlich und ist
       selbst als Zugereister stolz darauf. Lang aber ist’s her, dass man den
       Innenraum betrat, das Stadtmuseum von 1950. Umso dringlicher, es
       nachzuholen. Und da kann man gleich anfangen über die schmale, steile
       Wendeltreppe nach oben zu kraxeln.
       
       Oben, das ist das erste Ausstellungsgeschoss mit fünf Fässern samt
       drehbaren Infoscheiben, die an Jahresringe erinnern. „Fernhandel“ lautet
       ihr Thema, und merkwürdigerweise werden nur drei der vier einstigen
       Hansekontore genannt – Brügge, Bergen, London, eines pro Fass. Statt des
       vierten, „Nowgorod“, hat man allerdings „Russland, Baltikum, Preußen“
       geschrieben und noch ein Fass für „Lüneburg und Schonen“ dazugestellt. Von
       im- und exportiertem Stockfisch, Tuch, Pech und Pelzen erfährt man hier.
       Von der Wand baumeln Säcke, damit man sich echt „fernhandelsmäßig“ fühlt.
       
       ## Eine konzeptuelle Dopplung
       
       Ein bisschen zusammengewürfelt wirkt das Ganze, und wenn man die nette Dame
       vom Tresen fragt, ob sich das nicht doppele mit dem [2][Hansemuseum]
       nahebei, schwört sie Stein und Bein, dass hier sei ein völlig anderes
       Konzept. Später ruft ihre Chefin an und sagt, natürlich sei das eine
       Doppelung, und bei der nächsten Sanierung werde das geändert.
       
       Aber wie auch immer, ein bisschen mittelalterlich wird einem schon zumute
       in dem Backsteingemäuer mit Kanonen und Gewehren in den Schießscharten. Nur
       dass von hier nie ein Schuss fiel und dass diese Waffen nichts mit dem
       [3][Holstentor] zu tun haben. Aber da es nun mal zur Stadtverteidigung
       gedacht war, fühlte man sich wohl verpflichtet, eine Handvoll Waffen
       hineinzugeben.
       
       ## Es sollte schon mal abgerissen werden
       
       Außerdem kann man dankbar sein, dass das Tor überhaupt noch steht: Mit
       einer Stimme Mehrheit entschied Lübecks Rat 1863, es nicht abzureißen,
       obwohl es schon eine Ruine war und dem geplanten Bahnhof im Wege stand.
       Genüsslich haben Tourismus- und Süßwarenindustrie das Tor seither zum
       Wahrzeichen gemacht. Im Café gegenüber wird es gar als riesiges
       Marzipanmodell feilgeboten.
       
       Dabei ist die jüngere Vergangenheit des Tors gar nicht so appetitlich,
       wollten die Nazis es doch zur Insigne nordisch-germanischer und speziell
       Lübecker Wehrhaftigkeit machen, mit Aufmarschplatz und Malereien. Wovon
       drinnen ein Aquarell Arthur Illies’ zeugt, der Hakenkreuze an die Decke und
       „Hitlergruß“-Männer an die Wände malen lassen wollte. Irritierend beiläufig
       steht da, dass dieser Entwurf „nicht umgesetzt“ wurde, als sei das eher
       bedauerlich.
       
       Auch beim Stadtmodell nebenan wundert man sich über die überdimensionierten
       Verteidigungs- und Befestigungsanlagen. Dann liest man, winzig an der Wand,
       dass SchülerInnen dies 1934 bastelten. Da war das NS-Regime auch in Lübeck
       schon installiert.
       
       Und als sei weiter nichts gewesen, setzt sich der geleitete Rundgang fort
       mit dem Thema „Macht“ und erzählt auf einem Bild vom 1363 öffentlich
       enthaupteten Bürgermeister Johann Wittenborg. Offiziell wegen einer
       militärischen Niederlage, aber die genaue Urteilsbegründung ist nicht
       überliefert. Daneben, in schmucker Vitrine, steht (!) ein Richterschwert
       jener Zeit. Es reicht einem bis zur Hüfte, und dass es nicht das „original
       Wittenborg’sche“ ist, macht die Sache nicht besser: Frisch auf Hochglanz
       poliert, scheint es auf den nächsten Delinquenten zu warten.
       
       Überhaupt ging es brutal zu im Lübeck vergangener Zeiten; Streckbank,
       Daumenschrauben und das Becken für glühende Kohlen, mit denen die
       Brandmarkeisen erhitzt wurden, sprechen eine deutliche Sprache.
       
       ## Warum der Raum so hoch ist
       
       Aber genug gegruselt. Steigen wir noch ins Obergeschoss, an dessen Decke
       allerlei Schiffsmodelle hängen. Warum der Raum so hoch ist? Weil die
       NS-Granden Zwischenböden herausnahmen, um eine repräsentative Weihehalle zu
       schaffen. Bei der Gelegenheit haben sie auch das einsturzgefährdete Tor
       stabilisiert und die Innenböden begradigt. Die stark geneigten Mauern
       nicht.
       
       Und jetzt versteht man, warum einem die ganze Zeit so schwindlig ist: Weil
       man gerade steht, aber Schiefes sieht. Das kriegt das Hirn nicht zusammen,
       und man wankt mit letzter Kraft nach unten.
       
       Puh, geschafft. Da geht man vorerst nicht mehr rein.
       
       14 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Holstentor
 (DIR) [2] https://www.hansemuseum.eu/
 (DIR) [3] https://museum-holstentor.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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