# taz.de -- Ende des Zweiten Weltkriegs: Siegesfeier oder stilles Gedenken?
       
       > Der Blick auf den 9. Mai verändert sich. Während der Kreml ihn weiter
       > propagandistisch ausschlachtet, entsorgt man in der Ukraine
       > Sowjetdenkmäler.
       
 (IMG) Bild: Das Denkmal von Nikolai Watutin, Kommandeur der Ersten Ukrainischen Front, wird in Kyjiw abtransportiert
       
       Ungeachtet der Tatsache, dass sich im aktuellen Krieg zwischen Russland und
       der Ukraine beide Seiten gern gegenseitig Nazis nennen, haben die
       Regierungen beider Länder sehr unterschiedliche Einstellungen zum Zweiten
       Weltkrieg. Und diese Diskrepanz innerhalb des ostslawischen Kulturraums war
       noch nie so groß wie jetzt.
       
       Der russische Diktator stellt den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der
       Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion hieß und im heutigen Russland weiterhin
       heißt, als größte Heldentat der Weltgeschichte dar. Der Präsident der
       Ukraine, der natürlich auch Rücksicht auf seine Wähler nehmen muss,
       bezeichnet ihn als eine der größten, vielleicht sogar die größte Tragödie
       für sein Land.
       
       Dabei hat Wladimir Putins außenpolitische Propaganda es geschafft,
       weitgehend die Illusion zu erzeugen, die Politik des Kremls gebe die
       Meinung des russischen Volks wieder.
       
       Die Menschen in Russland und der Ukraine aber haben, wie soziologische
       Untersuchungen zeigen, gar nicht so unterschiedliche Auffassungen über den
       Zweiten Weltkrieg, wie man vor dem Hintergrund des aktuellen Blutvergießens
       zwischen ihnen annehmen könnte.
       
       ## Trauer um Millionen Tote
       
       Nach Angaben der ukrainischen Meinungsforschungsgruppe [1][Rating] lag die
       Zahl der Menschen in der Ukraine, die diesen Feiertag im Mai als „Tag des
       Sieges“ bezeichnen, im April 2014 bei 73 Prozent und vier Jahre später bei
       58 Prozent. Im April 2022 war ihre Zahl auf 15 Prozent gesunken.
       
       Dementsprechend hat sich in acht Jahren die Zahl derjenigen, die diesen Tag
       vor allem als Gedenktag für die Kriegsopfer sehen, mehr als verdreifacht:
       von 24 Prozent 2014 auf 80 Prozent im Jahr 2022. Von April 2018 bis April
       2022 stieg die Zahl derer, die diesen Feiertag generell als ein Relikt der
       Vergangenheit betrachten – von 7 auf 36 Prozent. Sie hat sich also
       verfünffacht.
       
       Nach Angaben des Moskauer Lewada-Zentrums, des einzigen unabhängigen
       Meinungsforschungsinstituts in Russland, antworteten im April 2019 auf die
       Frage, welche Gefühle sie mit dem „Tag des Sieges“, also dem 9. Mai,
       verbänden, 27 Prozent der Russen, sie „trauerten um die Millionen Toten“.
       48 Prozent gaben an, „Freude über den Sieg unseres Landes“ zu empfinden.
       
       Wie Lew Gudkow, Direktor des [2][Lewada-Zentrums], auf taz-Anfrage
       mitteilte, hat seine Organisation in den Jahren 2021 und 2022 keine
       Umfragen zum „Tag des Sieges“ durchgeführt. Ob und wie sich dieses
       Verhältnis in letzter Zeit verändert hat, wissen wir also einfach nicht.
       
       ## Der Kult um den Sieg wurde aufgeblasen
       
       Aber die Statistiken zeigen, dass im Bewusstsein der Menschen in Russland
       dieser Feiertag, trotz der massiven neosowjetischen Propaganda, ebenso
       wie in der Ukraine langsam der Vergangenheit angehört: Während 2017 noch 54
       Prozent der Befragten in Russland den 9. Mai begehen wollten, waren es ein
       Jahr später nur noch 20 Prozent. Seit 2019 hat es keine Umfrage mehr dazu
       gegeben. Diese Angaben zeigen, wie der Kult um jenen Sieg, der in der
       Bevölkerung „Siegesrausch“ genannt wird, in den vergangenen Jahren aber
       künstlich aufgeblasen wurde.
       
       Und vielleicht ist das auch einer der Gründe dafür, dass in diesem Jahr die
       traditionellen Paraden zum 9. Mai in vielen russischen Regionen ganz
       abgesagt oder zumindest der Umfang der Feierlichkeiten stark reduziert
       wurde? Als offizielle Begründungen wurden Sicherheitsmaßnahmen angegeben.
       
       In der Zentral- und Ostukraine kam es durch den aktuellen Krieg zur
       nächsten Entsowjetisierungswelle, die im Gegensatz zu denen von 1991–94
       (nach der Unabhängigkeit des Landes) und 2014–15 (nach Euromaidan,
       Krim-Annexion und Kriegsbeginn im Dombas) weit weniger nachsichtig mit den
       Erinnerungsartefakten in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg war.
       
       So wurde zum Beispiel im Zentrum von Kyjiw ein Denkmal für [3][Nikolai
       Watutin], Kommandeur der Ersten Ukrainischen Front 1943–1944, abgebaut. In
       Dnipro hat man einen T-34-Panzer aus dem Stadtbild entfernt.
       
       Dies sind jedoch Einzelfälle und kein abgeschlossener
       Entsowjetisierungsprozess. Vor wenigen Wochen sprach sich der Stadtrat von
       Sumy dagegen aus, zwei Straßen umzubenennen, die nach sowjetukrainischen
       Kriegshelden benannt wurden. Und in Kyjiw trägt die Schule Nr. 13 den Namen
       des Partisanenkommandeurs Iwan Chitritschenko, der unter anderem 1943
       gefangene Polizisten bei lebendigem Leib öffentlich verbrennen ließ. Der
       Name der Schule wird nicht geändert, obwohl man in der ukrainischen
       Hauptstadt dank wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Medienberichten
       diese Fakten kennt.
       
       Die Einstellungen zum sowjetischen System bilden den Kern der aktuellen
       ideologischen Auseinandersetzungen, wenn wir versuchen, den derzeitigen
       Krieg als ideologischen Konflikt zu betrachten.
       
       ## Das Erbe Lenins
       
       Autoritarismus in Osteuropa ist rot angestrichen – und die neosowjetische
       Reaktion hat zuerst Lukaschenko und später Putin an die Macht gebracht.
       Deren Angriffe auf die Demokratie, die eine Entkommunisierung anstrebt, ist
       die aktive Verteidigung des Lenin’schen Erbes. So lächerlich das von außen
       betrachtet auch zunächst wirken mag.
       
       Dabei hat die Entkommunisierung in Russland selber auch Befürworter. Aber
       deren Aktionen sind hinter der Fassade der Diktatur nur wenig sichtbar. Ein
       besonders gutes Beispiel dafür sind die Ereignisse in Tarusa, einer
       Kleinstadt 140 Kilometer südlich von Moskau. 2020 hat der Stadtrat dort 16
       sowjetische Straßennamen durch historische ersetzt, was ein großes Echo in
       ganz Russland ausgelöst hat.
       
       Nur einen Monat nach Beginn des Kriegs, am 25. März 2022, hat derselbe
       Stadtrat unter dem Druck staatlicher Behörden diese Umbenennung wieder
       rückgängig gemacht.
       
       Während der mehr als 20 Jahre von Putins Herrschaft haben die
       westeuropäischen und US-amerikanischen Regierungen die ideologische
       Komponente des Kremlregimes ignoriert. In internationalen Verhandlungen hat
       man sich mit wirtschaftlichen, militärischen und ökologischen Fragen und
       der politischen Zusammenarbeit beschäftigt. Aber auf den Gebieten der
       Kultur und der Geisteswissenschaften standen der neostalinistischen
       Propaganda Tür und Tor offen.
       
       ## Schleichende Resowjetisierung
       
       Die Forderungen des Kremls, alle Errungenschaften des roten Totalitarismus
       zu loben oder zumindest zu würdigen, wurden als harmlose Spinnerei abgetan,
       auf die man sich einlassen konnte, um Vereinbarungen über andere, scheinbar
       wichtigere Themen zu erzielen.
       
       Aus einer Reihe von Gründen hat diese Fahrlässigkeit in Deutschland
       besonders krasse Formen angenommen. Die 2013 überarbeitete Dauerausstellung
       des Museums Berlin-Karlshorst, des ehemaligen deutsch-russischen Museums,
       ist ein gutes Beispiel für diese Schönfärberei des Stalinismus.
       
       Die Türen vieler Universitäten und profilierter Forschungszentren haben
       sich zudem einer schleichenden Resowjetisierung geöffnet. Und einige Medien
       veröffentlichten immer wieder Artikel mit der primitiven Dichotomie: Alles,
       was gegen den Nazismus war, war generell progressiv.
       
       Vermutlich haben solche und ähnliche Gedanken auch dazu geführt, dass der
       Park, neben dem ich in Berlin wohne, bis heute den Namen des gehorsamen
       stalinistischen Politikers Ernst Thälmann trägt. Thälmann war ein
       erbitterter Kämpfer gegen die Demokratie im Allgemeinen und die
       Sozialdemokratie im Besonderen.
       
       Langsam jedoch ändert sich im Westen die Einstellung zu diesen Fragen, wie
       nach dem 24. Februar 2022 deutlich wurde: Die neosowjetische Ideologie und
       der historisierende Militarismus führen in der Ukraine zu Blutvergießen und
       Zerstörungen im großen Stil. Und mehr noch: Die durch diesen Konflikt
       verursachten ökonomischen und ökologischen Katastrophen betreffen den
       gesamten Planeten.
       
       Mit Blick auf all die anderen Herausforderungen, mit denen die Menschheit
       konfrontiert ist, könnte diese Ideologie deshalb zu einem zusätzlichen
       Faktor werden, der die Lösung einer ganzen Reihe von Problemen unmöglich
       macht.
       
       Mit anderen Worten: Europa und insbesondere Deutschland stehen vor der
       Aufgabe, ihren eigenen historischen und kulturellen Raum zu entputinisieren
       und zu entsowjetisieren – vor allem in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg.
       
       Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey]
       
       9 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://ratinggroup.ua/en/
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Lewada-Zentrum
 (DIR) [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolai_Fjodorowitsch_Watutin
 (DIR) [4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexander Gogun
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) Stalinismus
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Russland
 (DIR) Novaya Gazeta Europe in der taz
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Tag der Befreiung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Tag des Sieges“ in Moskau: „Papa, es kommt kein Panzer“
       
       Mit zynischer Putin-Rede und kleinerer Militärparade begeht Russland den
       Jahrestag des 9. Mai. Über die Ukraine wollen viele Schaulustige nicht
       reden.
       
 (DIR) Gedenken zum 9. Mai: Putins Hurra, Makeievs Blumen
       
       Putins Propaganda-Rede zum "Tag des Sieges" steht in grellem Kontrast zum
       Stand der Erinnerungskultur in der Ukraine und anderswo.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: „Ernster atomarer Unfall“ droht
       
       Die Lage um das AKW Saporischschja wird laut des IAEA zunehmend
       unberechenbar. Die Wagner-Söldnertruppe soll in Bachmut Munition erhalten
       haben.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Sachar Prilepin durch Bombe verletzt
       
       Auf den nationalistischen Autor wurde in Russland ein Attentat verübt. In
       Bachmut sollen die Wagner-Söldner von tschetschenischen Kämpfern abgelöst
       werden.
       
 (DIR) 9. Mai-Erinnerungskultur in Russland: Erinnern braucht Dialog
       
       Das Feindbild Stalin verdrängt den rassistischen Kern des NS-Kriegs im
       Osten. Eine Replik auf die Thesen der „Nowaja Gaseta“-Autorin Julia
       Latynina.
       
 (DIR) Feiern zum 9. Mai in Moskau: Pomp, Panzer und Pathos
       
       In Moskau hielt Russlands Präsident seine Militärparade zum sowjetischen
       Sieg über Nazi-Deutschland ab. In der Ukraine blieb es derweil relativ
       ruhig.
       
 (DIR) 8./ 9. Mai 1945: Pervertiertes Gedenken
       
       Über den Tag der Befreiung herrschte lange Konsens. Jetzt wird der Zweite
       Weltkrieg zur Begründung für eine neue Menschenschlächterei herangezogen.