# taz.de -- Meisterschaft in Neapel: Schön verpackte Täuschung
       
       > Am Sonntag endet die Fußballsaison in Italien. Der Meister steht fest:
       > SSC Napoli. Was bedeutet dieser Sieg für die Stadt Neapel und ihre
       > Bevölkerung?
       
 (IMG) Bild: Fans jubeln am 4. Mai in Neapel
       
       NEAPEL taz | Hubschrauber kreisen am Abend des 4. Mai [1][über dem maroden
       Stadion Diego Armando Maradona in Neapel]. 50.000 Fans verfolgen das
       Auswärtsspiel ihres SSC Neapel in Udine auf 8 riesigen Leinwänden. Dann
       übertönt ein Schrei das Knattern der Rotoren. „I campioni dell’Italia siamo
       noi“, wir sind italienischer Fußballmeister, lautet der erlöste Refrain,
       sechs Spieltage vor dem Ende der Saison. Zuletzt war Neapel vor 33 Jahren
       Meister geworden. Trafen dieser und die zuvor von der Mannschaft rund um
       Diego Maradona gewonnenen Titel auf eine traurige und unruhige Stadt, so
       wird der jetzige in einem immer weiter ausufernden urbanen Gebilde
       gefeiert, das tiefgreifende Mutationen erfahren hat.
       
       In der neapolitanischen Tradition ist der 4. Mai der Tag der
       Zwangsräumungen, auf Italienisch sfratti. Mieter:innen, die mit ihrer
       Zahlung im Rückstand waren oder deren Mietvertrag schlicht auslief, wurden
       an diesem Datum auf die Straße gesetzt, seit das 1611 vom spanischen
       Vizekönig festgelegt worden war. Der 4. Mai war ein Tag der Verwirrung und
       des Wandels, der individuellen wie kollektiven Veränderung. Die Straßen
       waren voller improvisierter Karren mit Hausrat, die von Familien auf der
       Suche nach einem neuen Zuhause durch die Stadt gezogen wurden.
       
       Das Pittoreske ist verschwunden, im Sprachgebrauch der Stadt hat sich das
       Datum als Tag der sfratti, der erzwungenen Veränderung aber erhalten; und
       für die proletarischen Schichten hat sich wenig geändert, sie leben
       weiterhin prekär in jeder Hinsicht. Ein Weg, um diese ständige Unsicherheit
       zu verkraften, ist die Teilnahme an frenetischen Festen, bei denen sie
       endlich als Protagonisten historischer Ereignisse auftreten können, eine
       Art kollektiver Sublimierung des alltäglichen Elends.
       
       Am 4. Mai 2023, um 22.37 Uhr, pfiff der Schiedsrichter in Udine das Spiel
       ab. Auch ich war in diesem Moment im Stadion Diego Armando Maradona.
       Unzählige illegale Pyros leiteten die lang ersehnte Partynacht ein. Dieser
       4. Mai 2023 wird zweifellos das neue historische Datum sein, an dem die
       Stadt und ihre Bewohner:innen ihre größtmögliche Veränderung erlebt
       haben. Niemand hatte zu Saisonbeginn viel von der neu zusammengewürfelten
       Mannschaft erwartet. Und dann war sie das stärkste Napoli aller Zeiten
       geworden, stärker sogar als jenes mythische Team rund um das dadaistische
       Genie mit der Nummer 10, Maradona.
       
       ## Opfer einer Camorrafehde
       
       Ein riesiger sportlicher Erfolg also, in der Tat. Ein Sieg vor allem des
       Vorsitzenden und Eigentümers Aurelio De Laurentiis und seiner
       unternehmerischen Vision, mit der er immer wieder mit der Realität des
       neapolitanischen Fanmilieus und der Stadt insgesamt aneinandergeraten ist.
       Und diese alles in den Schatten stellende Meisterschaftsfeier nun: Ist das
       die Revanche für jahrhundertelange Vernachlässigung? Oder einfach eine
       wilde und unpolitische Selbstdarstellung einer Gemeinschaft, die schon
       immer Opfer von Klischees und Vorurteilen war? Wer weiß. Vielleicht ist es
       einfach nur eine Party, ein kollektives Besäufnis.
       
       Nach einer außergewöhnlichen Nacht war der Morgen des 5. Mai dann
       überraschend normal, der Alltag war zurückgekehrt. Die Party war nicht
       ausgeufert, die Corsos der Autos und Motorräder wurden durch Polizeisperren
       eingehegt. Das Fest fand in einer Fußgängerzone statt, die sowohl von
       Familien als auch von Ultragruppen durchquert wurde. Die Menge war der Star
       des Abends, aber sie war eine zahme Menge.
       
       Obwohl in den Medien von Toten und Verletzten während der Feierlichkeiten
       die Rede war, gab es in Wirklichkeit einen einzigen Toten: Ein 26-jähriger
       Mann wurde Opfer einer Camorrafehde, nicht der Exzesse um den Meistertitel.
       Das macht die Bluttat nicht besser, aber mit der organisierten Kriminalität
       lebt die Stadt seit Jahrzehnten, der Rummel der Meisterschaftsfeier bot
       schlicht eine Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen.
       
       ## Massentourismus als treibende Kraft
       
       Die Medien aber waren in die Stadt gekommen, um über den speziellen
       Ausnahmezustand im normalen Ausnahmezustand Neapel zu berichten, sie
       suchten den Aufruhr, den originellen Zugang, die schmissige Phrase, den
       folkloristischen Rahmen. Und dabei übersahen sie, dass sie in eine Stadt
       gekommen waren, die längst ihre Haut gewechselt hat; ein Neapel als
       soziales Gefüge, das sehr bewusst mit einer neuen wirtschaftlichen
       Situation umzugehen verstanden hat, mit dem Massentourismus als treibende
       Kraft.
       
       Eine Touristifizierung, die durch eine unerwartete, aber historisch
       bedingte Komplizenschaft zwischen der (unproduktiven) Bourgeoisie und dem
       Lumpenproletariat begünstigt wurde. Diejenigen, die jahrhundertelang als
       Nichtstuer, als Lazzaroni bezeichnet wurden, sind zu Unternehmern der
       folkloristischen Gastfreundschaft und des Erlebnistourismus geworden,
       getragen vom Laisser-faire der nominell linken Gemeinde- und
       Regionalverwaltungen, die seit mehr als einem Jahrzehnt regieren.
       
       Die Via Emanuele De Deo führt in die berüchtigten spanischen Viertel
       hinauf. An einer etwas breiteren Stelle befand sich bis vor ein paar Jahren
       ein Parkplatz. Inzwischen ist er zu einer obligatorischen Etappe auf den
       Touristenrouten der Stadt geworden. An der Fassade eines eher schäbigen
       Gebäudes befindet sich ein 1987 gemaltes, etwas unbeholfenes Wandgemälde,
       das Maradona beim umdribbeln eines Gegners zeigt; eine der zahlreichen
       Spuren, die die Feierlichkeiten zum ersten und zweiten Scudetto Ende der
       1980er Jahre im Stadtbild hinterlassen haben.
       
       ## Verkauf von Maradona-Kitsch
       
       Einige Monate vor Maradonas Tod im November 2020 tat ein Kunsttischler, der
       zum Kulturaktivisten avancierte, Mittel auf, um das Wandbild zu
       restaurieren. Mit Maradonas von vielen Emotionen begleitetem Tod entstand
       ein Wallfahrtsort, eine Goldgrube für Verkäufer jeder Art von
       Maradona-Kitsch. In Wirklichkeit hat dieses jahrzehntelang vollkommen
       unbeachtet gebliebene Bildchen nichts mit Maradona, der Mannschaft von
       Napoli oder der Stadt zu tun. Es ist einfach ein Mythos, der sich in einem
       der vielen Ströme des Napolitourismus entwickelt hat.
       
       Wenn ein Mythos die Massen anzieht, sind Zuschreibungen der Klebstoff: die
       billige Stadt; die Stadt der Pizza; die Metropole der Gastfreundschaft.
       Eine allerdings, die unfähig ist, ihre eigene Transformation zu gestalten.
       Eine, die ihr historisches Zentrum (Unesco-Weltkulturerbe) in eine
       Ansammlung von Ferienwohnungen verwandelt hat, im Dreiklang mit
       Billigfliegern und Airbnb.
       
       Dieselbe Stadt, die am 4. Mai den sportlichen Erfolg der mutigen Mannschaft
       um Trainer Spalletti in ein Fest des kollektiven Stolzes verwandelte, lebt
       davor wie danach einen Alltag der Unzulänglichkeiten, des Mangels, ja der
       Unbewohnbarkeit. Wo ist dieser Stolz, wenn es um Engagement für die
       existenziellen Dinge geht?
       
       ## Im Schatten des Scudetto
       
       In den Jahren 1987 und 1990 waren die Feiern im Grunde genommen ein
       städtisches Bacchanal. Die Stadt war sich selbst ausgeliefert und hat sich
       selbst überlebt. Diese Feiern waren nicht geplant, was vielleicht auch
       daran lag, dass das sportliche Ergebnis bis zum Schluss in der Schwebe
       blieb. Auf jeden Fall wurden keine institutionellen Vorkehrungen getroffen.
       Es war eine ganz andere und viel unruhigere Menge als nun am 4. Mai, es war
       ein Publikum, das in der Lage war zu verstehen, dass sich im Schatten des
       Scudetto, des sportlichen Sieges, alles in allem nichts ändern würde. Die
       Realität blieb, was sie immer gewesen war.
       
       Stattdessen scheint jene dynamische und geordnete Menge, die am 4. Mai 2023
       den Umzug des alten Neapels in etwas Neues gefeiert hat, in eine Falle zu
       tappen, in eine sehr schön verpackte Täuschung. Der Scudetto wurde von
       einer sportlich gut organisierten und gut trainierten Mannschaft gewonnen.
       Die Stadt hat ihrer Bevölkerung nichts dergleichen zu bieten. Sie hat
       keinen Titel gewonnen.
       
       Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
       
       Eine längere Version dieses Textes erschien in der Zeitschrift [2][il
       mulino]
       
       1 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Scudetto-fuer-Napoli/!5929870
 (DIR) [2] https://www.rivistailmulino.it/a/il-4-maggio-napoletano
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marcello Anselmo
       
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