# taz.de -- Die Wahrheit: Meine Straße. Martins Straße
       
       > Geht man ein Vierteljahrhundert seinem Leben in der selben Straße nach,
       > lässt einen das jähe Verschwinden von Dingen und Menschen dort
       > innehalten.
       
       Dass ich da wohne, wo ich wohne, in der Straße, die das schöne Wort
       „Friede“ in ihrem Namen trägt, das habe ich der Wahrheit zu verdanken. Und
       das kam so: Vor fast nun einem Vierteljahrhundert bewohnte die damalige,
       verehrte Wahrheitseite-Hüterin und -Macherin Barbara Häusler eine Beletage
       in der Berliner Friedelstraße – der Wahrheit halber sollten wir schreiben,
       dass die Häusler’sche Beletage nicht im Hochparterre, sondern im zweiten
       Stock lag, dennoch aber alle Vorzüge einer Beletage aufwies, war es doch
       kultiviert gemütlich dort.
       
       Eines gewinnbringenden Tages verständigte die Häuslerin mich, die ich
       dringend aus München ins Berliner Exil wollte, dass ihr gegenüber in einer
       weiteren Beletage der Friedelstraße ein, für heutige Berliner Verhältnisse
       unvorstellbares, Schild prange, des Inhalts „Zu vermieten“.
       
       Flugs setzte ich den Vermieter über mein Interesse in Kenntnis; ebenso
       flugs zogen mein Anhang und ich wenig später nicht in die eigentlich
       annoncierte verschattete Beletage ein, sondern vier Stockwerke weiter oben
       in eine lichte Behausung. Sachen gab es, die gibt es heute seltener. Aperçu
       am Rande: Unser Domizil wurde zuvor erfolglos in Zeitungsinseraten
       beworben, bewusst falsch verortet als in Kreuzberg statt Neukölln liegend.
       Das heute so hippe Neukölln galt 1999 als Hort von Nichts, Müll und
       irgendwas mit Gewalt.
       
       ## Irrwitziger Aggro-Pfuhl
       
       Mit uns zog der Bundestag von Bonn nach Berlin, und im Zuge dessen wurde
       den Parlamentariern tatsächlich ein Crashkurs „Umsteigen am U-Bahnhof
       Kottbusser Tor“ angeboten, wie ich einst wahr und wahrhaftig in einer
       Postille las. Die Station liegt allerdings nicht in Neukölln, sondern
       unweit der Friedelstraße auf der hibbeligen Kreuzberger Seite. Von Bonn-Bad
       Godesberg aus betrachtet, galt aber zur Jahrtausendwende bereits der vom
       Berliner Zentrum Lichtjahre entfernte Kinderbauernhof Domäne Dahlem als
       irrwitziger Aggro-Pfuhl.
       
       Nun denn, wir zogen in die Friedelstraße, und da es zwei von der güldenen
       Morgensonne eifrig beschienene Fenster zu ihr hinaus gibt, haben wir
       allzeit den Überblick, ein wenig wie aus einem Jägerstand heraus, auf die
       Geschicke und das Gewirke dieser baumbestandenen Chaussee. Von einer
       kopfüberstehenden, in einem Kamin steckenden Gitarre schrieb ich bereits an
       dieser Stelle.
       
       Exakt uns gegenüber prangt sie dort weit oben noch immer. Ihr Verschwinden
       würde mich innehalten lassen, ähnlich dem Gefühl, als ich zusammenzuckte,
       war doch ein mir vertrauter, verlässlich anwesender sonnengelber
       Sonnenschirm am Haus nebenan plötzlich nicht mehr zu sehen. Heute morgen
       erst leuchtete er friedlich wieder an gewohnter Stelle.
       
       Was nie mehr leuchten, nie mehr meine Straße, die Friedelstraße, erleuchten
       wird, ist das liebevolle Lächeln, mit dem einem der ehemalige taz-Kollege
       Martin Reichert begegnete, traf ich ihn unten auf dem Trottoir. Auch er
       wohnte und lebte hier bis letzte Woche. Martin ist tot, Ruhe in Frieden,
       Martin.
       
       Sollten Sie Suizidgedanken haben, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe.
       Anononym bei der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111
       
       3 Jun 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harriet Wolff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Erinnerung
 (DIR) Nachbarschaft
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Im ewigen Eis von San Marino
       
       Was bitte haben Margot Honecker, Silvio Berlusconi und Eisbär Knut
       gemeinsam? Eine Reise an den Rand der bekannten Totenwelt.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Letzte Linde macht weiter
       
       Wahrheit Exklusiv: Besuch im Baumhaus der kriminellen Klebevereinigung.
       Ganz legal und mit tierisch bewegtem Mehrwert. Nur hier!
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ich, die Gitarren und noch mehr
       
       Ein Phänomen, zwei Städte: In Berlin und in Paris bringt ein verlassenes
       oder vergessenes Instrument die Gedanken zum Schwingen …
       
 (DIR) Die Wahrheit: Was kommt nach KI?
       
       Wahrheit exklusiv: Nach künstlicher Intelligenz (KI) kommt jetzt und in
       Zukunft künstlicher Witz (KW). Köstlich!