# taz.de -- Kate NV und Angel Deradoorian als Duo: Berühmte strukturelle Freiheit
       
       > Exilrussin Kate NV und US-Künstlerin Angel Deradoorian veröffentlichen
       > als Duo Decisive Pink das experimentierfreudige Popalbum „Ticket to
       > Fame“.
       
 (IMG) Bild: Natürlich in Rosa: Kate NV und Angel Deradoorian sind Decisive Pink
       
       Was für ein tolles, frisches, blühendes Frühlingsalbum – wow! Ein
       Kirschblütenfeuerwerk der Ideen, aufgedreht, verspielt, manchmal albern,
       immer abenteuerlustig, ständig in Bewegung. Synthie-Pop der neuesten
       Generation, wobei der „Pop“-Anteil früherer Versionen nur noch als eine
       vage Ahnung existiert, weil das Songformat zugunsten größerer struktureller
       Freiheit aufgegeben wurde.
       
       Denn der „Synthie“ ist Platzhalter für die Zillionen von Möglichkeiten
       digitaler Klangerzeugung. Das Ganze geradezu irritierend erfüllt von einem
       Geist unbedingter Lebensbejahung. Name des Werks, sehr passend: „Wow“.
       
       Die Rede ist vom vierten Album der [1][russischen Musikerin Yekaterina
       Shilonosova, die ihre Kunst unter dem Pseudonym Kate NV veröffentlicht].
       Man hat das Gefühl, dass die 34-Jährige mit „Wow“ endlich gefunden hat,
       wonach sie die ganze Zeit gesucht hat. Die früheren Alben „For“ und „Room
       for the Moon“ – etwas konventioneller gearbeitet, der Ideenfluss immer
       wieder in Songstrukturen gepresst – wären die Vorstudien, „Wow“ ist nun
       der triumphale Beweis für die Richtigkeit ihrer Thesen.
       
       ## Songs als Fugen
       
       Mittlerweile gleicht die Struktur von Kate NVs Stücken eher Variationen
       oder Fugen als Songs, sie sind formal näher an Bach und Chopin als an Chuck
       Berry oder den Beatles. Und, sie beginnen gerne mit einem süßen, kleinen
       Motiv, einer kurzen harmonischen oder klanglichen Idee und entwickeln sich
       dann über drei bis fünf Minuten zu hoher, geradezu symphonischer
       Komplexität. Da die Stücke keine Songs sind, gibt es auch nur wenig Text.
       
       Was allerdings nicht bedeutet, dass es wenig Stimmeinsatz gäbe, im
       Gegenteil: Stimme hört man fast permanent, Gesangspassagen, mit und ohne
       Text, Stimmsamples und noch mehr kurze Sounds, bei denen man nicht weiß:
       Ist es Stimme, ist es Sample, ist es nur verfremdet oder hat es einen ganz
       anderen Ursprung? Das Stück „Razmishlenie (Thinking)“ besteht aus fast
       nichts anderem als Vielstimmigkeit, nur zusammengehalten von sparsamen
       Percussions.
       
       „Oni (They)“, Auftaktsong und erste Single des Albums, führt die
       Hörer*innen zunächst in die Irre, da er vorgibt ein Popsong zu sein,
       ganz im Stil des Vorgängeralbums „Room for the Moon“, sich dann aber
       auftürmt zu einem Hurrikan herumwirbelnder Vokalismen, bei dem einem
       schwindlig werden kann.
       
       ## Verspielt, sophisticated und komplex
       
       Wer über Kate NV nichts weiß und mit diesem Track in das Album einsteigt,
       wird womöglich vermuten, es hier mit einer japanischen Künstlerin zu tun zu
       haben. Nicht nur weil „Oni (They)“ auf Japanisch gesungen wird, sondern
       auch, weil die Soundästhetik und diese entwaffnend charmante Mischung aus
       Verspieltheit, Komplexität und Sophistication etwas ist, das in Japan seit
       den achtziger Jahren in immer größerer Perfektion entwickelt wird.
       
       Klangen Kate NVs bisherige Alben vor allem nach der avantgardistischen
       Variante des japanischen City-Pop jener Zeit, wie sie [2][Haruomi Hosono],
       Miharu Koshi oder Koji Ueno zum Blühen gebracht haben, ist die Musik auf
       „Wow“ eher in der Nähe von forschenden Genresprenger*innen wie Takeo
       Toyama und vor allem dem enigmatischen Nobukazu Takemura angesiedelt, den
       Kate NV als ihren persönlichen Helden bezeichnet.
       
       „Er ist einfach unglaublich“, verriet sie dem HHV-Magazin. „Als ich sein
       Album ‚10th‘ zum ersten Mal hörte, hat sich buchstäblich mein Leben
       verändert. Es ist einfach sehr witzig, sehr interessant und voller
       Freiheit. Ich habe das Gefühl, dass Nobukazu Takemura es auch liebt, Dinge
       zu erforschen. Manchmal klingt seine Musik sehr kindlich und voller
       vielfältiger Klänge, was ich mag, aber gleichzeitig fügt sich alles zu
       einem soliden Ganzen zusammen.“ Man mag sich wundern, dass eine russische
       Künstlerin angesichts der Weltlage derart optimistische und enthusiastische
       Musik macht.
       
       ## Fröhlich in düsteren Zeiten
       
       Tatsächlich ist ihr neues Werk ein altes Album, das sie 2019 direkt nach
       der Fertigstellung von „Room for the Moon“ produzierte, wobei viele
       Bestandteile noch viel älter sind. „ ‚Wow‘ ist leicht, geradezu sorglos“,
       erzählte sie im Interview mit dem Magazin Crack. „Ich habe lange hin und
       her überlegt, ob es richtig ist, fröhliche Musik in diesen düsteren Zeiten
       zu veröffentlichen.“
       
       Am Ende musste das Album raus aus ihrem System, um Platz zu machen für neue
       Ideen. „Ich bin froh, dass das Werk jetzt rausgekommen ist, denn ich könnte
       eine solche Musik derzeit nicht machen. Meine einzige Sorge ist, dass Leute
       denken könnten: ‚Bekommt sie denn gar nicht mit, was mit dem Krieg los
       ist?‘ Ich bekomme alles mit.“
       
       Ein Teil der Einnahmen von „Wow“ wird an die Organisation War Child
       gespendet, die sich um geflüchtete Kinder und Jugendliche kümmert. Im
       vergangenen Jahr schon hatte Kate NV das Digitalalbum „Bouquet“
       veröffentlicht, dessen Erlöse komplett an die Flüchtlingsorganisation
       helpingtoleave.org gingen. Direkt nach Beginn des russischen Angriffs auf
       die Ukraine, Ende Februar 2022, gab sie ihr Apartment in Moskau auf, in dem
       sie sechs Jahre gelebt hatte.
       
       ## Existenzielle Probleme im Exil
       
       Musik war plötzlich kein Thema mehr für Kate NV, sie wollte sie nicht mehr
       machen, sie wollte sie nicht mal mehr hören. Sie ergab sich in eine
       Exilantinnenexistenz, musste zunächst Visa-Probleme lösen, ließ sich
       schließlich für eine Weile in der Türkei nieder, dann in Belgrad, dann in
       Köln. Wo sie auf eine andere hochbegabte Exilantin traf: die Kalifornierin
       Angel Deradoorian.
       
       Angel Deradoorian war prägendes Mitglied der US-Avantgardepop-Band Dirty
       Projectors in deren bester Phase, beispielsweise auf den Alben „Bitte Orca“
       (2009) und [3][„Swing Lo Magellan“ (2012),] sie auch am Songwritingprozess
       mitwirkte. Danach gastierte die 36-jährige Künstlerin auf Alben von Björk,
       The Roots und sogar U2 und veröffentlichte die zwei Soloalben „The
       Expanding Flower Planet“ (2015) und [4][„Find the Sun“ (2020)].
       
       In der Musik oszillierte sie zwischen Dreampop, Psychedelic und
       Minimalismus. Hat man Deradoorian mal live gesehen, etwa mit den Dirty
       Projectors, wird man allerdings das Gefühl nicht los, dass das noch nicht
       alles gewesen ist, dass ein ganz großer Wurf noch in der Pipeline ist.
       
       ## Selbstironisch zum Fame
       
       „Ticket to Fame“ heißt – man muss wohl sagen: selbstironisch – das
       demnächst erscheinende gemeinsame Album von Angel Deradoorian und Kate NV
       unter dem Projektnamen Decisive Pink. Es ist nicht der Stoff, mit dem man
       berühmt wird, aber es könnte für beide ein entscheidender Fortschritt sein,
       weil es womöglich einen Weg aufzeigt in Richtung kollaborativen Arbeitens
       abseits klassischer Formate in Bands. Wie kann man voneinander lernen, wie
       kann man sich gegenseitig in Bewegung setzen und zu Dingen ermöglichen, zu
       denen man alleine womöglich nicht in der Lage gewesen wäre?
       
       Interessant ist, dass „Ticket to Fame“ viel entspannter wirkt als die
       Soloprojekte der beiden Protagonistinnen, so als hätten sie hier nichts
       unter Beweis zu stellen, weil jede sich auf die andere verlassen kann. Der
       gemeinsame Nenner sind durchaus wieder Popsongs, auskomponiert, aber
       vergleichsweise einfachen Zuschnitts, denen aber Extensionen eingeflochten
       werden, wie man sie von den experimentelleren Soloarbeiten der beiden
       Protagonistinnen kennt.
       
       Ein Highlight von „Ticket to Fame“ ist natürlich der Gesang: Kate NV und
       Angel Deradoorian sind beide exzeptionelle Vokalistinnen und
       glücklicherweise scheuen sie sich nicht, dieses Kapital großzügig
       einzusetzen.
       
       Dazu kommen digitale Jams, die ähnlich wie die Stücke auf „Wow“ eher
       minimal beginnen, sich aber meist zu einem kaum zu überblickenden
       Durcheinander auswachsen, und lustige Gesprächsjams wie das
       Frage-und-Antwortdurcheinander „What Where“ und „Potato Tomato“, eine
       Hommage an den Gershwin-Klassiker „Let’s Call the Whole Thing Off“.
       
       In dem Text von Ira Gershwin geht es ja darum, wie scheinbar bedeutungslose
       Dinge wie die unterschiedliche Aussprache von Wörtern eine Beziehung an den
       Rand des Scheiterns bringen können. Kate NV und Angel Deradoorian lassen
       diesen Überbau weg und werfen sich einfach fröhlich die beiden Wörter in
       unterschiedlichsten Sprechweisen und Betonungen zu.
       
       Hier gerät nichts in Gefahr, es gibt aber auch kein Versprechen für die
       Ewigkeit. Eine moderne Beziehung eben, Ausgang offen.
       
       26 May 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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