# taz.de -- Gespräch mit Herlinde Koelbl: „Da muss das Volk kein Mitleid haben“
       
       > Die Fotografin Herlinde Koelbl über Angela Merkels Schönheit, animalische
       > Körperbehaarung, Leni Riefenstahls Verbitterung und Spuren der Macht.
       
       Dieses Interview erschien am 12. September 2009 
       
       taz: Frau Koelbl, würden Sie mir bitte den Bildband zu Ihrer Werkschau
       „Mein Blick“ signieren? Ich bin Fan. 
       
       Herlinde Koelbl: Das ist schön!
       
       Ihre Ausstellung, eine Werkschau mit Fotografien von 1976 bis heute,
       hauptsächlich Porträts, war berührend. 
       
       Das haben mir viele Menschen gesagt, die die Ausstellung besucht haben.
       Dass sie berührt waren. Und das ist ein ganz großes Geschenk, das finde ich
       wunderbar. Es ist etwas in den Bildern, das andere Menschen erreicht, sie
       vielleicht nicht verändert, aber anspricht. Das ist unser Leben, mit allen
       Ups and Downs, Abgründen und Freuden.
       
       Existenziell? 
       
       Ja, das ist das, was ich immer suche, das Existenzielle: Was liegt
       eigentlich darunter?
       
       Darum ging es auch bei den „Spuren der Macht“, da haben Sie unter anderem
       Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Angela Merkel über Jahre begleitet
       und porträtiert. 
       
       Es ist immer eine Suche.
       
       Sie sagen, Politiker tragen Masken? 
       
       Angela Merkel hat schon 1994 gesagt, dass sie lernen müsse, zu pokern,
       damit man ihr nicht jedes Gefühl an der Nasenspitze ansieht. Sie müssen
       sich eine Maske zulegen, wenn sie in der Politik dabei sein und zugleich
       überleben wollen. Sobald sie in Spitzenämtern sind, haben sie fast kein
       privates Leben mehr, alles ist öffentlich. Der Schweißfleck unter den Armen
       wird besprochen, das Dekolletee, ob sie einen langen oder kurzen Rock
       tragen. Alles wird bewertet. Bei den Männern ist es nicht ganz so, sie sind
       durch ihre Anzüge relativ gut geschützt.
       
       Das sind Uniformen? 
       
       Ja, und die schützen sie.
       
       Warum tun die Leute sich das an? 
       
       Es ist eine große Bestätigung für das Ego. Aber ich glaube, in der ganzen
       Breite bedenken sie diese Konsequenzen zunächst nicht, es ist ein
       Lernprozess. Dieses in der Öffentlichkeit sein, sich nicht alles anmerken
       lassen – da legt man sich dann eine Maske zu. Wenn ich Ihnen jetzt etwas
       sage, von dem ich schätze, dass es Sie verletzen wird, und ich sehe, dass
       ich Sie getroffen habe – dann hätte ich eine wunde Stelle, an der ich
       schrauben kann.
       
       Machen Sie das bei Ihren Porträts auch so? 
       
       Nein. Mir geht es ja nicht darum, Menschen zu beschädigen oder an den
       Pranger zu stellen.
       
       Außer einmal, da haben Sie die Serie „Feine Leute“ aus den oberen Rängen
       der Gesellschaft fotografiert, die kamen nicht gut weg. Da waren Sie böse. 
       
       So würde ich es nicht sagen. Es ist ein anderer Blick. Es waren öffentliche
       Anlässe, bei denen auch immer ganz viele Pressefotografen waren. Ich wollte
       die Rituale, die Körpersprache dieser Gesellschaft zeigen.
       
       Angela Merkel hat zugegeben, dass sie sich Ihrem Langzeitblick auch aus
       Eitelkeit ausgeliefert hat. 
       
       Das war doch sehr offen von ihr, charmant. Am Anfang fand sie das Projekt
       lästig und dann eben doch interessant.
       
       War nie jemand dabei, der keine Lust mehr hatte? 
       
       Nein. Es hat verschiedene Gründe, warum niemand von Bord gegangen ist. Es
       ist wie bei vielen von uns: Man ist immer im Getriebe und setzt sich nicht
       wirklich hin, um zu reflektieren. Und dann komme ich und frage: Was ist
       geschehen? Ich bin jemand, der in einer ruhigen und klaren Weise nachfragt
       und sie so zum Reflektieren bringt.
       
       Das hat fast was Therapeutisches. 
       
       Vielleicht. Aber so weit würde ich nicht gehen. Man muss sich Gedanken
       machen, nachdenken: Was war da eigentlich? Ich wollte eine Entwicklung
       dieser Menschen aufzeigen.
       
       Menschen lieben es, in den Spiegel zu schauen, aber wie sie wirklich auf
       andere Menschen wirken, werden sie nie erfahren. 
       
       Henning Schulte-Noelle von der Allianz, den ich auch porträtiert habe, hat
       mir genau das gesagt: Es war wie eine Spiegelung.
       
       Ist das narzisstisch? 
       
       Menschlich. Und man sucht ein Echo. Wenn jemand eitel ist, dann versucht er
       sich besser darzustellen, spreizt sein Gefieder. Aber das haben sie nicht
       getan. Es war ihnen willkommen, sich selbst reflektieren zu müssen.
       
       Wenn man Ihre Bilder anschaut, dann hat man den Eindruck, bei Schröder
       haben Verwüstungen stattgefunden, aber Frau Merkel hat eher gewonnen. 
       
       Sie hat gewonnen, ja. Gerhard Schröder sagte einmal: Manchmal ist es auch
       gut, wenn man manches verdrängt. Die Frauen haben viel stärker reflektiert,
       was mit ihnen passiert. Manche Männer wurschteln sich so durch, wie im
       restlichen Leben, sie bekommen die Zähne nicht auseinander, verdrängen. Sie
       wollen über Emotionales nicht nachdenken. Männer lieben den Wettbewerb, den
       Hahnenkampf. Frauen nicht so, oder verdeckter.
       
       Und wie verhält es sich bei Frau Merkel? 
       
       Sie schaut genau, wie die Gockel sich verhalten. Die Welt hat zur Kenntnis
       genommen, dass Gerhard Schröder seinerzeit am Gitter des Kanzleramts
       gerüttelt hat: „Ich will da rein“ – darüber wurde geschrieben,
       geschmunzelt. Aber das ist was Männliches. Wenn Angela Merkel das gemacht
       hätte, dann hätte sich alle Welt über sie lustig gemacht.
       
       Stattdessen hat sie nicht gerüttelt, sondern war einfach irgendwann drin.
       Und im Moment hat man auch wieder den Eindruck: Es steht gar nicht zur
       Entscheidung, ob sie wieder Kanzlerin wird. Das ist einfach so. 
       
       Ja, das war doch interessant, dass Obama zu ihr gesagt hat, dass sie doch
       entspannt sein könne, weil sie eh gewinnt. Dass die CDU/CSU die stärkste
       Partei sein wird, ist doch sehr wahrscheinlich. Aber es ist die Frage, wer
       gewinnt und wer verliert bei den anderen Parteien.
       
       Und wie lautet Ihre Prognose? Wer wird gewinnen, wer verlieren? 
       
       Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, viele werden noch an der Wahlurne, in
       letzter Minute entscheiden, ob sie FDP, SPD oder Grüne wählen. Aber
       entscheidend ist die Frage: Wen wähle ich als Gegenpol zur Union?
       
       Wen wählen Sie denn zur Bundestagswahl am 27. September – oder spricht man
       darüber nicht? 
       
       Das sage ich nicht.
       
       Aber den Unterschied in der Frage haben Sie gehört: Spricht man darüber
       nicht oder Sie nicht? 
       
       Das ist meine persönliche F…, Sache, darüber spreche ich nicht.
       
       Habe ich da gerade mit Freud Fassade gehört, oder habe ich mir das
       eingebildet? 
       
       Das ist meine Freiheit. Sie haben das falsch interpretiert. Nein, ich habe
       keine Fassade. Ich finde es wichtig, dass man man selbst ist.
       
       Ja, aber wir drehen gerade den Spieß um. Die Porträtistin wird porträtiert. 
       
       Ich habe es schon lieber auf der anderen Seite.
       
       Schon, nicht? 
       
       Ja, sonst hätte ich das anders gewählt. Ich stehe ja ganz bewusst hinter
       der Kamera. Schauspieler, Moderatoren, die müssen das lieben, vor der
       Kamera zu stehen. Nur dann sind sie gut.
       
       Gut, reden wir wieder über Angela Merkel: Die freut sich mittlerweile
       richtig, wenn sie was sagt und die Leute lachen oder applaudieren. 
       
       Das hatte sie eigentlich nie. Sie ist nicht eitel, und das hat ihr
       geholfen. Das ist ein Grundzug von ihr – ist das eigentlich ein Porträt
       oder ein Frage-Antwort-Interview?
       
       Ein Interview, Sie bekommen das zur Autorisierung. 
       
       Prima. Nein, sie ist nicht eitel, und das hat ihr immer geholfen. Und diese
       öffentliche Welt ist natürlich eine Welt der Eitelkeiten.
       
       Sie ist am Ende doch zu Udo Walz und zur Maskenbildnerin gegangen. 
       
       Irgendwann mal, aber sehr spät.
       
       Sie war stur? 
       
       Ja, das hat sie einfach nicht interessiert, und es war nicht wichtig.
       
       Am Anfang hat man immer nur hässliche Fotos von ihr gezeigt, aber dann
       schienen sich plötzlich alle einig: Von nun an ist Frau Merkel schön. 
       
       Das ist das Spiel der Medien. Es war offensichtlich, wie sich die Bilder
       von Angela Merkel in den Zeitungen plötzlich gewandelt haben. Man hätte
       fast denken können, sie war beim Schönheitschirurgen. Vorher gab es immer
       nur Hängefalten.
       
       Die gibt es auch immer noch, es ist eine Frage der Auswahl, oder? 
       
       Ja, denn ihr Gesicht hat sich ja nicht grundsätzlich geändert. Die Frage
       ist: Was wird ausgewählt? Was wird lanciert? Was wollen die Medien
       bezwecken?
       
       Frau Merkel steuert aber auch dagegen, sie beißt nicht mal mehr in eine
       Bratwurst, der Bilder wegen. Als Volk muss man sich ja fast schon schämen,
       was man den Politikern antut. 
       
       Das würde ich so nicht sagen. Es ist ja eine Wahl, die die Menschen
       treffen, Politiker zu werden oder in höchste Ämter zu streben. Da muss das
       Volk kein Mitleid haben. Ob Frau Merkel öffentlich in eine Bratwurst beißt
       oder nicht, ist nicht so wichtig. Aber entscheidend ist, ob ein Politiker
       gezielt zerstört oder diffamiert werden soll. Da gibt es eine eindeutige
       Grenze.
       
       Angela Merkel sagte Ihnen am Anfang des Langzeitprojekts „Spuren der
       Macht“, noch in den Neunzigern, dass sie Angst habe, aus dem Ganzen
       demoliert, beschädigt herauszugehen. 
       
       Darüber würde sie heute nicht mehr sprechen. Am Anfang, so erzählte sie
       mir, gab es für sie Dinge in der Politik, die sie verletzt haben. Je
       schwieriger die Aufgaben und die Gegner wurden, desto größer wurden die
       Verletzungen. Ihr Maßstab dafür habe sich verändert. Aber verletzbar bleibe
       sie immer.
       
       Manche Menschen wenden sich dann im Ergebnis ganz von den Menschen ab –
       Leni Riefenstahl hat am Ende auch nur noch Fische fotografiert. 
       
       Ja, sie wollte was anderes machen, und Nuba-Stämme gab es auch nicht mehr
       zu entdecken.
       
       Na ja, sie hatte keine Lust mehr auf Menschen, war womöglich verbittert. 
       
       Wahrscheinlich war sie verbittert.
       
       Bei Ihnen ist das anders? 
       
       Die Zugewandtheit ist mir immer geblieben.
       
       Können Sie Riefenstahls Werk von ihrer Biografie trennen? 
       
       Nein. In Amerika wird das gemacht, dort sieht man ihr Werk, und das wird
       sehr geschätzt. Wenn man nur ihr Werk betrachtet: Es war für die damalige
       Zeit außergewöhnlich. Seltsam ist nur, dass sie so dermaßen die
       Zusammenhänge verdrängt hat. Und nie an der Richtigkeit gezweifelt hat.
       
       Sie haben „Spuren der Macht“ gemacht, Riefenstahl hat die Macht inszeniert.
       Aber Sie haben ja durchaus auch Macht: Sie dürfen Ihre Spuren zeigen. 
       
       Ich sehe das überhaupt nicht als Macht. Wenn ich meine Arbeit als Macht
       sehen würde, könnte ich nicht so arbeiten, wie ich arbeite. Es gehört sogar
       ein Stück Demut dazu und das Zugewandte. Wichtig ist der Respekt vor
       Menschen, ganz gleich, ob sie berühmt oder mächtig sind.
       
       Ihre Arbeiten hängen im Museum, derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau, Sie
       sind international anerkannt und nicht irgendeine Pressefotografin, die von
       der Nähe zu Politikern abhängig ist. 
       
       Ich habe immer konzeptionell gearbeitet, von Anfang an. Die Konzeptarbeit,
       das war damals noch relativ neu. Wenn Sie journalistisch arbeiten, muss es
       dekorativer werden, Sie brauchen Eyecatcher, und nach kurzer Zeit geht man
       wieder. Aber wenn ich zwei Jahre Wohnzimmer fotografiere oder fünf Jahre an
       dem Projekt „Jüdische Porträts“ arbeite, muss ich mir ein Thema
       erschließen, viel dazu lesen. Und manchmal ergänze ich Bilder mit Texten.
       Das ist für mich das Spannende. Ich kann meinen eigenen Horizont erweitern.
       
       Mit der Kamera vor der Nase, das ist doch eine sehr distanzierte Art der
       Weltaneignung? 
       
       Es geht eher um Durchdringung.
       
       Aber ein Objektiv zwischen Ihnen und der Welt, das ist doch Distanz. 
       
       Das würde ich so nicht sagen, ich arbeite zum Beispiel nie mit langen
       Brennweiten, von Anfang an nicht. Wenn ich mit langen Brennweiten arbeite,
       kann ich meine Distanz bewahren, mein Gegenüber auch. Es muss aber eine
       Nähe entstehen. Viele Fotografen entscheiden sich für Stills oder
       Sachfotografie, weil sie eine Scheu vor Menschen haben.
       
       Andererseits fotografieren sich die Leute ja jetzt ohnehin alle selbst. Es
       gibt einen Trend zur Selbstdigitalisierung. Leute fotografieren ihr Essen
       und stellen das dann in den Blog. 
       
       Neulich hat eine Frau im Kreißsaal entbunden und dann sofort im Netz ihre
       Wehen beschrieben. Das ist extrem exhibitionistisch. Diese Form der
       Selbstdarstellung ist mir fremd. Und das wird einigen Leuten auch noch auf
       die Füße fallen. Was die da alles ins Netz stellen. Und in einer
       entindividualisierten Welt ist das eine Möglichkeit, sich darzustellen. Es
       ist ja auch zugleich eine vereinsamte Welt, und mit der Herstellung von
       Öffentlichkeit glaubt man dann, diese überwinden zu können …
       
       Und da sind wir dann wieder bei der Zugewandtheit. 
       
       Ja, die fehlt.
       
       Man muss sich selbst fotografieren, um zu sehen, dass es einen noch gibt,
       um sich spüren zu können. 
       
       Oder dass es einen noch gibt, und wenn ich das dann ins Internet stelle und
       andere reagieren darauf, dann bekomme ich auch Aufmerksamkeit, Zuwendung –
       nicht jedoch Zuneigung.
       
       Als Sie mit Ihrer Arbeit begannen, gab es das in der Form noch nicht.
       Werden Sie nicht überflüssig, wenn jetzt alle Welt fotografiert – inklusive
       sich selbst? 
       
       Heute kann jeder mit einer Digitalkamera ein Bild machen. Die Frage ist:
       Was ist ein Bild? Ich habe auch eine Digitalausrüstung. Aber je nach Thema
       oder Auftrag arbeite ich mit meiner Hasselblad-Mittelformat-Kamera oder
       digital. Aber ich sehe diese Sache relativ gelassen: Sie können auf den
       Auslöser drücken, aber entscheidend ist das Sehen. Was nehme ich wahr? Wie
       z. B. bei den „Spuren der Macht“, einen bestimmten Ausdruck der
       Persönlichkeit. Es ist ja auch ein Konzept, eine Idee dabei.
       
       Ohne Denken geht es nicht? 
       
       Genau. Das ist der Unterschied.
       
       Sie sind 1939 geboren und auf einem Bauernhof aufgewachsen. Danach sind Sie
       einfach in die große, weite Welt spaziert. Durften Sie das? 
       
       Ja, ich durfte das. Aber ich musste früh meinen eigenen Weg gehen, mich um
       mich kümmern. Man muss etwas tun, man muss säen, um später eine Ernte zu
       haben. Sonst wird das nichts. Das war in meinem Leben immer präsent.
       
       Damals lautete die Parole für Frauen: Karriere oder Kinder. 
       
       Ich bin recht früh weggegangen, und die Modeschule in München. Die Haltung
       war: Für eine Frau ist das ja nicht so wichtig. Aber da war ich früh
       anders. Es ist eine Haltung: Nicht warten, selbst etwas tun. Die Fotografie
       habe ich als Autodidaktin begonnen. Ich kannte absolut niemanden aus der
       Welt der Medien und Künstler. Aber es war genau das, was ich tun wollte.
       Und ich habe das mit Leidenschaft gemacht, das ist das Entscheidende. Aber
       ohne Disziplin nützt Ihnen das auch wieder nichts. Eine Idee, Spuren der
       Macht, muss man auch durchführen.
       
       Sie haben sich immer mit Tabus beschäftigt, dem Tod, dem Sterben, Sex,
       Körperbehaarung. 
       
       Sie haben auch welche!
       
       Ist jetzt wieder modisch, weil alle ganz körperrasiert sind. 
       
       Ja, animalisch. Aber Sie haben Recht, ich war in Australien wegen einer
       Gastdozentur und kam in ein Geschäft mit einem ganzen Regal voller
       Körperenthaarungscreme für Männer. Aber ich habe all diese Themen nie als
       Tabus gesehen. Es waren Themen, mit denen ich mich beschäftig habe. Das
       bringt gar nichts, wenn Sie ein Tabu brechen wollen. Sie bekommen eine
       kurze Aufmerksamkeit, und das war es dann. Aber wenn Sie sagen, die Bilder
       in der Ausstellung haben Sie berührt – um an den Anfang zurückzukommen –,
       dann spüren Sie die Auseinandersetzung, die dahintersteht.
       
       Sie müssen los. Wir sprachen über Selbstdigitalisierung: Hier um die Ecke
       ist ein Fotoautomat, gerade sehr beliebt bei jungen Leuten. Hätten Sie
       Lust, mit mir dahin zu fahren, dauert nur zwei Minuten. 
       
       Nein.
       
       Herlinde Koelbl wird von einem Automaten fotografiert! 
       
       Nein …
       
       Sie haben auch ein bisschen Selbstkontrolle, weil Sie ja in den Spiegel
       schauen können, während der Automat arbeitet. 
       
       Das stimmt, aber die Ära ist vorbei. Vor über zehn Jahren habe ich das
       immer gemacht, wenn ich in einer Stadt war – da gab es auch noch mehr von
       diesen Automaten –, über zwei, drei Jahre habe ich das getan, und dann war
       es wieder vorbei.
       
       Wollen wir das nicht machen? 
       
       Nein.
       
       Bitte! 
       
       Nein.
       
       Sie dürfen sie autorisieren! 
       
       Nein.
       
       Einen Fotografen durfte ich auch nicht mitbringen. 
       
       Ich stehe hinter der Kamera.
       
       Ja, weil das nämlich gemein ist, wenn jemand kommt und einen ablichten will
       – womöglich mit der Absicht, einem die Maske runterzuziehen, nicht wahr? 
       
       Ich wollte mit Ihnen in Ruhe reden. Zudem lassen sich die meisten
       Fotografen nicht gerne fotografieren. Es ist auch eine Frage der Haltung.
       Ich bin ganz normal geblieben. Meine Mutter hat immer gesagt: Hoffart kommt
       vor dem Fall. Und ich denke, dass ist auch in meinem Kopf. Ich bin down to
       earth, das ist für mich wesentlich. Ich habe gelernt …
       
       … nicht hoffärtig zu sein, wie die Leute, die man fotografiert? 
       
       Bei den jüdischen Porträts habe ich die Geistesgrößen der Welt getroffen,
       Nobelpreisträger, und ich war zutiefst beeindruckt von der Haltung dieser
       Menschen. Erst mal, dass sie nicht gehasst haben, obwohl sie alle
       Angehörigen durch den Holocaust verloren haben. Es sind tiefe
       Freundschaften entstanden, unter anderem mit Josef Tal, Bruno Kreisky,
       scharf denkende, analytische Menschen, die immer kritisch waren, aber immer
       auch menschlich. Größe. Persönlichkeit. Und doch waren sie „normal“. Ich
       kam an, und wir haben zwei Stunden verbracht. Ich habe plötzlich einen
       anderen Maßstab bekommen. Und dafür bin ich dankbar.
       
       Angela Merkel ist laut Forbes-Liste die mächtigste Frau der Welt. 
       
       Sie ist nicht gefürchtet, sondern anerkannt und respektiert. Das ist nicht
       so einfach in der politischen Machtwelt.
       
       Zur Verabschiedung ihres Vorgängers Schröder gab es den großen
       Zapfenstreich – und Sinatras „My Way“. Er weinte. 
       
       Das kann ich verstehen. Das ist so ein großes Ritual, Nacht und Fackeln,
       Abschied. Vor Jahren habe ich einmal gesehen, wie ein Kommandeur
       verabschiedet wurde. Das Ritual ist ganz wichtig.
       
       Inwiefern bitte? 
       
       Unsere Welt hat zu viele Rituale über Bord geworfen, und die Menschen haben
       Sehnsucht nach diesen Ritualen. Eine gewisse Form wird eingehalten. Es
       spielte ein Blasorchester, es ist eine spezielle Art Musik, und ich habe
       gesehen, wie der Kommandeur feuchte Augen bekommen hat, das war sehr
       beeindruckend. Da sind wir dann wieder beim Emotionalen: Wie Musik Menschen
       in verschiedene Stimmungen versetzt.
       
       My Way, das ist existenziell. 
       
       Mein Weg, den sucht man doch das ganze Leben, nicht?
       
       12 Sep 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Reichert
       
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