# taz.de -- 300. Geburtstag von Adam Smith: Mehr als die „unsichtbaren Hände“
       
       > Der Geburtstag des Moralphilosophen wurde in der linken Szene distanziert
       > zur Kenntnis genommen. Dabei ist es Zeit, ihn zu umarmen.
       
 (IMG) Bild: Adam Smith: Liest man Smith als Ganzes, lernt man einen großen Menschenfreund kennen
       
       In der vergangenen Woche wäre Adam Smith 300 Jahre alt geworden. Während
       die einen fröhlich auf den schottischen Moralphilosophen anstießen, nahm
       man dies in der linken Szene höchstens distanziert zur Kenntnis. Zu groß
       ist die Abneigung gegenüber dem vermeintlichen Verfechter eines „von
       unsichtbarer Hand“ gelenkten, ungebändigten Marktes. Dabei wäre es eine
       gute Gelegenheit gewesen, ihn aus der Umklammerung von Fehlinterpretationen
       und Klischees zu befreien, ihm mit frischem Blick zu begegnen.
       
       Smiths 1759 erschienene „Theory of Moral Sentiments“ und 1776
       veröffentlichte „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of
       Nations“ wurden schnell zum Hit und in viele Sprachen übersetzt. Mit dem
       Erfolg kam leider auch der Missbrauch seines Werkes: Ökonom:innen und
       Politiker:innen beriefen sich immer selektiver auf sein Denken und
       verzerrten damit die Wahrnehmung dessen.
       
       Das berühmte Bild von der „unsichtbaren Hand“ ist ein trauriges Beispiel
       dafür. In der damaligen Zeit war es einfach nur eine geläufige Metapher,
       die Smith selbst nicht mit eigenem Gehalt aufgeladen hat und die auch keine
       zentrale Rolle in seinem Werk spielt; verwendete er die Wortdoppelung
       insgesamt nur dreimal. Als später die Metapher nicht mehr geläufig war,
       stürzten sich Ökonom:innen aller Lager auf sie und arbeiteten sich an
       ihr ab. Man glaubte, daraus ableiten zu können, dass egoistisches Verhalten
       auf dem Markt immer zu einer Steigerung des Gemeinwohls führe und Smith
       jeden Eingriff zu unterbinden befahl. Der Schotte verkam zum Posterboy der
       Anhänger von Egoismus und Minimalstaat.
       
       Davon abgesehen, dass Smith so was nie behauptet hat, versperren solche
       Bilder den Blick auf ihn. Liest man Smith als Ganzes und nicht nur ein paar
       kurze Textauszüge, lernt man einen großen Menschenfreund kennen, der in
       Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die tragenden Werte der Gesellschaft
       sah. So ist er auch nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre, sondern
       Moralphilosoph. Noch viel wichtiger: Er dachte ganzheitlich über
       Wirtschaft, Moral und Politik nach und sah sie als unzertrennlich an.
       
       ## Adam Smith und die Nächstenliebe
       
       Smith war tiefgehend damit beschäftigt, die Prozesse zu verstehen, durch
       die Menschen ihre moralischen Urteile bilden. Laut ihm tragen Menschen
       sowohl die Eigenschaft zur Eigenliebe als auch zur Nächstenliebe in sich.
       Die Fähigkeit, Mitgefühl für die Emotionen und Perspektiven anderer
       Menschen zu empfinden, nannte er „Sympathy“ – Sympathie.
       
       Durch sie würden moralische Urteile gebildet und würde moralisches
       Verhalten entwickelt, was altruistisches Verhalten und die Förderung des
       Gemeinwohls hervorbringe. Er unterstreicht auch die Bedeutung sozialer
       Bindungen und gesellschaftlichen Miteinanders. Gleichzeitig sei Sympathie
       nicht bedingungslos. Sie könne durch Faktoren wie persönliche Vorurteile,
       Voreingenommenheit und begrenzte Wahrnehmung beeinflusst werden.
       
       Smith entwickelte ein Modell, das auf einem gesellschaftlichen Prozess
       basiert, mit dem Ziel, [1][Eigen- und Nächstenliebe in ein Gleichgewicht zu
       bringen]. Beide seien für ein gesellschaftliches Miteinander wichtig,
       solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Das Wissen darüber, wann die
       Eigenliebe in selbstsüchtigen und gemeinwohlschädlichen Egoismus umschlage,
       komme nicht aus dem Nichts. Es sei auch nicht angeboren, sondern entwickele
       sich durch die Sympathie, die Reaktionen anderer Menschen und eine
       aufgeklärte Selbstreflexion.
       
       Ein solch interaktiver, austarierender Prozess benötigt individuelle
       Freiheit und Unabhängigkeit. Als liberaler Denker der Aufklärung trat Smith
       vehement für diese ein, kämpfte gegen die Obrigkeit und für die Abschaffung
       ihrer Privilegien, etwa die der Zünfte. Zudem dachte er egalitär, heißt: In
       seinem Denken sind alle Menschen und Staaten gleich. So war er sowohl gegen
       die Sklaverei als auch antikolonial; eine Position, die in der Zeit nicht
       überall mehrheitsfähig war.
       
       ## Was Linke heute von seinem Denken lernen können
       
       Als Anhänger:in linker Ideen muss man Smith nicht verehren. Allerdings
       ist es vielleicht an der Zeit, die eigene Abneigung zu überwinden und ihn
       stattdessen freundschaftlich zu umarmen. Zum einen sind viele seiner Ideen
       linken Positionen nicht vollkommen fremd, zum anderen kann man viel von ihm
       lernen. Genau wie zur Zeit der schottischen Aufklärung geht es heute im
       Angesicht der Klimakrise um die Frage: Reform oder Revolution?
       
       Vielen ging es auch damals nicht schnell genug und sie forderten einen
       [2][revolutionären Umsturz des Systems] – Smith gehörte nicht dazu. Nicht,
       weil er nostalgisch an Dingen festhalten wollte, im Gegenteil. Ihm ging es
       darum, institutionelles Wissen nicht zu verlieren. Eine Revolution würde
       nicht nur ein System plattmachen, sondern alles Gelernte gleich mit. Der
       schrittweise, reformerische Ansatz von Adam Smith hingegen öffnet die Tür
       für entdeckerfreudige Lern- und Experimentierprozesse. Ideen umsetzen,
       Fehler machen, korrigieren. In etlichen Reformen sammeln wir Wissen und
       verändern die Gesellschaft wie ein Mosaik, in dem die Steine getauscht
       werden.
       
       Ein solcher Prozess wirkt vielleicht langsam. Allerdings verhindert er, aus
       Versehen ein System zu erschaffen, das vielleicht gut klingt, aber am Ende
       nicht die gewünschten Resultate erzielt. Der reformerische Ansatz von Adam
       Smith schafft zudem noch etwas: Er nimmt den einzelnen Menschen in den
       Blick. Er erkennt an, dass jede Person den Wunsch nach individueller
       Entfaltung hat und sich unterschiedliche Dinge für das eigene Leben
       wünscht.
       
       Noch etwas ganz Praktisches kann man sich von Smiths Ideen abschauen: die
       Bedeutung lokaler Veränderungen. [3][Lokalen Klimaschutz zu initiieren] ist
       nicht nur gut für die Umwelt, es ermöglicht auch anderen Gemeinden, von den
       gemachten Erfahrungen zu profitieren, Widerstände zu überwinden und
       nachzuziehen.
       
       Smiths Neugierde und Mut zur Veränderung sollten wir uns zu Herzen nehmen.
       In manchen Dingen darf man aber ruhig mutiger sein als er: Er lebte – bis
       zu deren Tod – bei seiner Mutter.
       
       22 Jun 2023
       
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