# taz.de -- Ein Barockfest in Vorpommern: Barocker Aufbau Ost
       
       > Eine Landpartie als „Projekt“: In Rothenklempenow in Vorpommern gönnte
       > man sich ein Spektakel samt historischer Lotung um ein musikalisches
       > Fundstück herum.
       
 (IMG) Bild: Barocker Schick, ausgeführt beim Barockfest in Rothenklempenow
       
       ROTHENKLEMPENOW taz | Zwei [1][Ost-tazler], Anja Baum und André Meier,
       zogen in den Neunzigern aufs Land, wo sie weiter journalistisch arbeiteten
       und Kinder großzogen. Meier bekam 2020 die Möglichkeit, im Schloss von im
       äußersten Südosten Mecklenburg-Vorpommerns gelegenen Rothenklempenow eine
       Ausstellung zur Dorfgeschichte zu gestalten. Dabei stieß er auf den
       italienischen Komponisten [2][Giuseppe Antonio Paganelli] (1710–1763),
       der im Ort sechs Sonaten für den jungen Baron Vollrath von Eickstedt
       komponiert hatte. In der Universität von Louisiana fand er dazu Näheres
       und in der französischen Nationalbibliothek die Partitur, die in Paris
       gedruckt worden war. In einem Londoner Antiquariat erwarb er eine
       Dissertation über Paganelli.
       
       Diese Sonaten wollte Meier in der zum Schloss gehörenden Barockkirche
       aufführen lassen – vom [3][Collegium für Alte Musik Vorpommern] mit Flöte,
       Violine, Violoncello und Cembalo. Auch die Orgel in der Kirche sollte – in
       Maßen – mitwirken. Dazu vier Großpuppen von Suse Wächter, die zwischen den
       Musikstücken über deren Sinn und Unsinn streiten sollten: der Baron, sein
       Sohn, der Komponist und seine Frau. Meier schrieb ihnen die Dialoge.
       
       ## Bei der „Aufbau Ost“-Arbeit
       
       So erfährt man in dem Stück, dass der alte Baron Georg von Eickstedt, Herr
       zu Rothenklempenow, von Bach schwärmte, er fand die italienische Musik zu
       süßlich. Seine Vorfahren waren aus Thüringen nach Pommern gekommen, um hier
       „Aufbau Ost“-Arbeit zu leisten: „Ein bisschen Rechtsstaat einführen, ein
       Galgen hier, ein Galgen dort.“ Nach dem 30-jährigen Krieg ging Vorpommern
       an die Schweden, die es 1720 für 2 Millionen Taler an die Preußen verkauft
       hatten. Seinen Sohn Vollrath hielt er für ein „Weichei“, was er auf die
       neumodische italienische Musik zurückführte, die nun auch noch in seinem
       Haus, in seiner Kirche Einzug hielt.
       
       Für Paganelli war Bach dagegen in den Worten Meiers „germanisches
       Orgel-Gejaule, wie das Essen hier: Hauptsache, viel, Hauptsache, fett.
       Keine Emozioni – echte Gefühle“, die wollte er den Hiesigen nahebringen.
       Der Sohn des Grafen sei schon ganz vernarrt in seine Musik. Paganellis Frau
       dagegen, eine Sängerin, die bereits in Venedig, Wien und Bayreuth
       aufgetreten war, litt unter der Pommerschen Rustikalität: „alles nur
       Lehmhütten und Ruinen“. Die Betten zu hart, der Weinkeller zu mickrig.
       
       In der Kirche wurde geprobt, der Baron inspizierte: „Hab ich’s mir doch
       gedacht, der feine Herr Sohn, am hellen lichten Tag beim Künstlerpack“,
       schimpfte er. Vollrath schmeichelte ihm: „Herr Vater, sie werden von der
       Nachwelt nicht nur als Patron dieses wunderschönen Gotteshauses bewundert,
       jetzt schreiben sie auch noch Musikgeschichte.“
       
       Der Baron ist auch deswegen schlecht gelaunt, weil er in Pasewalk den
       Markgrafen traf, der dort ein Dragonerregiment besuchte, das der
       Soldatenkönig ihm zur Verlobung geschenkt hatte. Er klagt: „Wieder saß ein
       Westler hier auf einem gut dotierten Führungsposten, als ob es in Pommern
       nicht genügend fähige Kader gibt. Ich zum Beispiel habe als Offizier für
       die Schweden dutzende von Schlachten geschlagen“. Der Sohn unterbricht ihn:
       „Ja, ja, wir kennen die Geschichten, aber das war vor der Wende. Jetzt sind
       wir preußisch.“
       
       Zwar hingen die Rothenklempenower irgendwie noch der lustigen Zeit der DDR
       an, aber André Meier gedachte, ihnen mit einem neuen – schreckliches Wort –
       „Narrativ“ zu kommen. Der Bürgermeister war begeistert und machte mit,
       weitere Ortsansässige kamen hinzu. Das „Projekt“ (ein noch schrecklicheres
       Wort) nahm Fahrt auf. Geld dafür kam vom Vorpommernfonds, dem Landkreis und
       privaten Spenden.
       
       ## Von Mittag bis Mitternacht
       
       Am Ende der Vorbereitungen stand ein Barockfest auf dem Programm: von
       Mittag bis Mitternacht im riesigen Schlosspark zwischen Eichen, Linden und
       Kastanien, mit einem Dutzend Ständen für Essen und Trinken (alles bio) und
       ebenso vielen Dixi-Klos. Es kamen einige hundert Gäste, nicht wenige
       angetan mit Barock-Perücken und -Kleidern.
       
       Auf der Schlosstreppe sang der deutsch-polnische Chor Horyzont romantische
       Lieder. Auf einer Bühne am anderen Ende der Festwiese spielte die
       italienische Band Ostia, die aus Deutschen bestand,
       „Italo-80er-Elektro-Pop“. Am Schlossteich sangen die barocken
       „Artistokraten“ Zartes von Mozart, auch jonglierten und akrobatierten
       sie. Und Klaus Thaler, der Erstgeborene von Biermann, bespaßte die Kinder
       mit seinem Stück „Eine Puppe packt aus“. Zu guter Letzt legte der
       Radio-Multikulti-DJ Gio di Sera („Don Rispetto“) italienische Tanzmusik
       auf, und es wurde auch getanzt. Gelegentlich donnerte es, jedoch ohne Blitz
       und Regen.
       
       Das alles fand am 17. Juni statt, der in der BRD vom Bundespräsidenten
       Heinrich Lübke zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden war, nachdem „die
       Russen“ an dem Tag 1953 einen Bauarbeiter-Aufstand in Ostberlin
       niedergeschlagen hatten.
       
       Aber es war noch nicht alles: Meier hatte im Zusammenhang seiner
       Ausstellung ein Faltblatt gestaltet, „Lebendiges Denkmaldorf
       Rothenklempenow“, das ein barocker Jüngling verteilte. Der Flyer wurde von
       „GehMit – aufsuchende Bildungsarbeit für den ländlichen Raum“ und dem
       quasigewerkschaftlichen Verein „Arbeit und Leben“ bezahlt.
       
       Was ein Witz ist, denn die Arbeit war ja nach 89 in der dann „ehemalig“
       genannten DDR gerade eingestellt worden. „Vorpommernland ist abgebrannt /
       Flieg, Maikäfer, flieg …“
       
       So erfuhr man, dass sich die Ausstellung im „Torhaus“ des Schlosses befand
       – und aufhatte. Und dass das Schloss im 18. Jahrhundert gebaut wurde. Es
       wirkte bescheiden, wäre da nicht der dazugehörige riesige Gutshof. Der
       Gutsbetrieb besaß eine Brennerei, in deren Souterrain sich heute eine
       Kneipe befindet. Die 900 Hektar, zuletzt von der LPG bewirtschaftet, erwarb
       2013 eine „Bio-Boden-Genossenschaft“. Das Schloss gehört nun der Gemeinde.
       Gegenüber befindet sich eine Großgarage der Freiwilligen Feuerwehr
       Rothenklemperow (wo an dem Tag ebenfalls ein Fest stattfand). Im Ort gibt
       es einen „Weltacker“ – eine Idee des Ex-tazlers Benny Härlin, der sein Feld
       in Pankow „bewirtschaftet“. Der Rothenklempenower Weltacker verfügt über
       ein „Weltackerhaus“, das auch als Kino dient.
       
       So weit die lokalen Sehenswürdigkeiten um Meiers Barockfest herum, das wie
       bereits angedeutet ein großer Erfolg – für das Dorf und gegen die Welt –
       war. Welt in dem Sinne, wie es der bayerische Filmemacher Herbert
       Achternbusch verwendete: „Da, wo früher Passau und Weilheim war, ist jetzt
       Welt. Die Welt hat uns vernichtet, so viel kann man sagen.“
       
       Wir hatten uns ein paar Dörfer weiter in einem Golfschloss einquartiert,
       das dem Anschein nach mit chinesischen Produkten eingerichtet wurde. Dafür
       war es nicht teuer. In Pasewalk übernachteten wir danach in einem Hotel,
       das eine Bullenstation gewesen war. Neben der Rezeption hing ein Schild:
       „Während des Deckaktes nicht laut reden oder lachen!“
       
       26 Jun 2023
       
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