# taz.de -- Vom Reformer zum Revolutionär: Wer hat Angst vor Karl Marx?
       
       > Kaum SPÖ-Parteivorsitzender, hat die Jagd auf Andreas Babler begonnen.
       > Dabei will er doch den brüchig gewordenen Gesellschaftsvertrag schützen.
       
 (IMG) Bild: Karl-Marx-Graffiti der Künstler:in Marycula, gesehen in Berlin im Dezember 2020
       
       Die Wahl des Vorsitzenden der österreichischen Sozialdemokratie war
       bekanntlich etwas holprig. Um das Mindeste zu sagen. Ein Psychoanalytiker
       meinte gar, der Irrtum bei der Auszählung sei eine Fehlleistung gewesen.
       Eine Partei, die sich nicht wirklich entscheiden kann, wählt erst den einen
       und dann den anderen. Was aber seit dieser (Nicht-)Wahl passiert, bringt
       diese fehlende Entschlossenheit nun auf paradoxe Weise hervor.
       
       Kaum Parteivorsitzender, hat die Jagd auf [1][Andreas Babler] schon
       begonnen. Es haben sich, scheint’s, alle Kräfte zu einer Hetzjagd gegen
       ihn verbunden: Politik als Jagdgesellschaft.
       
       Das Paradoxon besteht nun darin, dass ausgerechnet dies ihn glaubwürdiger
       macht. Je mehr man ihn hetzt, desto überzeugender wirkt Babler. Gerade die
       Angriffe lassen ihn als das erscheinen, was er sein möchte. Sie machen
       klar: Babler gilt als etwas Anderes. Jahrelang sprach man in Österreich von
       der SPÖVP wegen der Ununterscheidbarkeit der beiden Parteien. Und genau
       weil er als Differenz wahrgenommen wird, gilt Babler als Bedrohung.
       
       Die ÖVP hat diese Bedrohung klar benannt: Mit Babler habe die SPÖ die Mitte
       verlassen und sich an den äußeren linken Rand geschoben. Darum geht’s also
       bei der Jagd: die Mitte zu hüten. Ihre Mitte. Diese scheint so unschuldig:
       Mitte – das ist das Normale. Aber wer definiert sie? Wer bestimmt, was
       normal ist? [2][Mitte ist eine Herrschaftsform, ein durchgesetzter
       Konsens.]
       
       ## Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche Denken?
       
       Mitte ist auch das, was nicht verändert werden darf. Außer undeklariert:
       wenn etwa der Sozialstaat nach und nach nicht mehr zur Mitte gehört. Oder
       wenn die FPÖ salon-, also mittefähig gemacht wird. Die Mitte ist das, was
       vorgibt, dass alles in Ordnung sei – bis auf das, was am Rand ist, etwa
       Migranten. Nicht in Ordnung ist also das, was nicht dazugehört zur Mitte.
       
       Nun ist aber längst nicht mehr alles in Ordnung. Und während dieser Konsens
       der Mitte immer brüchiger wird, während die Leute sich ihr Leben nicht mehr
       leisten können, während die sozialen Verwerfungen täglich greifbarer
       werden, wird Babler als Revolutionär gejagt. Wie sehr muss sich die Mitte
       schon verschoben haben, wenn seine sozialdemokratischen Forderungen schon
       als revolutionär gelten!
       
       Wo doch Babler durch Reformen gerade das schützen möchte, was brüchig ist:
       den bestehenden Gesellschaftsvertrag. Aber weil jede Verschiebung der Mitte
       unerwünscht ist, wird der Reformer, der er sein möchte, als Revolutionär
       stigmatisiert.
       
       Karl Marx kam der Jagdgesellschaft da wie gerufen. Denn Babler hat sich in
       Interviews zu Marx „bekannt“. Etwas stotternd: einmal rein zustimmend und
       paar Stunden später partiell ablehnend. Zustimmend zu Marx als „gute
       Brille, um auf die Welt zu schauen“ – ablehnend gegenüber einer „Diktatur
       des Proletariats“. Seitdem steht Marx im Zentrum der öffentlichen
       Aufmerksamkeit.
       
       Während Journalisten sich in „Marxismus in 3 Minuten“- Erklärungen
       überbieten, dient er den politischen Gegnern als Steilvorlage. Was kann die
       Jagd besser befeuern als ein dämonisierter Karl Marx? Babler = Marx =
       Nordkorea, lautet die Parole. Wen kümmert beim Halali-Blasen das Marx’sche
       Denken?
       
       ## Die „Mitte“ verteidigen
       
       Wen kümmert’s da, dass Marx nicht nur die bis heute fundierteste Analyse
       der kapitalistischen Produktionsweise vorgelegt hat – mit der ihr eigenen
       Dynamik unversöhnlicher Widersprüche, die gerade heute wieder akut zu
       werden drohen? Wen kümmert’s da, dass seine Darlegung, wie ökonomische und
       gesellschaftliche Prozesse funktionieren, bis heute in
       Gesellschaftsanalysen weiterwirken? Wen kümmert’s da, dass Marx die
       Globalisierung, die uns heute beherrscht, bereits konzipiert hatte? Kurzum
       – was kümmert es die Jagdgesellschaft, dass Marx ein Klassiker ist?
       
       In Österreich aber regiert gerade eine Verteufelung, die den Namen Marx
       trägt. In selbstzufriedener Ignoranz wird hier ins Jagdhorn geblasen.
       [3][Marx gilt als neues Schimpfwort.]
       
       Aber vielleicht verkehrt sich ja auch hier der Effekt und führt zur
       Wiederbelebung eines Denkens, einer Theorie, die zum Beispiel erklärt, was
       Klassenkampf auch ist: etwa die „Mitte“ zu verteidigen.
       
       27 Jun 2023
       
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