# taz.de -- Warteschlangen sind menschlich: Immer schön einreihen
       
       > Wo muss mensch nicht alles anstehen? Und wofür? Schnell ist man da Teil
       > einer (un-)freiwilligen Wartegemeinschaft. Fünf
       > Warteschlangen-Innenansichten.
       
 (IMG) Bild: Großes Warten vor der Neuen Nationalgalerie wegen der MoMA-Ausstellung 2004
       
       ## Beispiel Eins: Warten auf Mustafa
       
       Zwei Stunden, 17 Minuten, 58 Sekunden: So steht es auf Elias Sayds
       Handydisplay. Worauf er so lange wartet? Auf einen Gemüsekebab natürlich.
       Und er ist nicht mal ganz vorne in der Schlange. Eine junge Frau ist ihm
       schon ein paar Meter voraus. Stolz blickt sie auf das Ergebnis der
       zweieinhalbstündigen Wartezeit in ihrer Hand: ein Brot mit etwas
       Hähnchenfleisch, Gemüse und drei Kartoffelscheiben, die nicht mal ganz
       durchgebraten aussehen. Dafür hat sie den beiden betont langsam arbeitenden
       Mitarbeitern [1][7,10 Euro gezahlt]. Auch sie hat die Wartezeit auf dem
       Handy gestoppt, man braucht ja Beweise.
       
       „Dieser Imbiss ist kein schöner Ort“, steht ganz richtig auf der Website
       des Kebabladens am Mehringdamm. Regnen tut es auch. Aber Lilly und ihre
       Freund*innen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Hannover hatten
       trotzdem eine richtig gute Zeit in der Schlange. „Wir haben neue Freunde
       gefunden“, erzählen sie. Die haben dann ihren Platz freigehalten während
       der kurzen Shopping-Pause in einem nahen Second-Hand-Laden.
       
       Aber dass der Imbiss nicht so schön ist, die Preise hoch und die Wartenden
       direkt vor dem U-Bahn-Ausgang suboptimal platziert sind, ist egal: „Mustafa
       weiß, dass ihm die Konkurrenz nicht den Spieß reichen kann.“ So begründet
       die Website den Erfolg des wohl berühmtesten Dönerladens in ganz Berlin.
       Ist das Essen denn gut? Sayd antwortet mit einem engagierten Nicken. „Aber
       echt keine zweieinhalb Stunden wert. Für so einen Döner, für jeden Döner
       eigentlich, würde ich höchstens 20 Minuten warten.“
       
       Ganz hinten in der ungefähr 35 Schritte langen Schlange ist das die
       Wartezeit, mit der ein junges Paar aus Schweden rechnet. Große Augen und
       erstaunte Gesichter machen sie, als sie hören, dass sie sechsmal so lange
       warten müssen. Bleiben wollen sie trotzdem. „Wir sind ja extra
       hergekommen.“
       
       Es scheint, als wäre das Schlangestehen hier eine Art Statussymbol – je
       länger, desto besser. „Das gehört dazu, wenn man in Berlin ist“, sagen
       Tourist*innen. Sogar vereinzelte Berliner*innen warten in der Schlange.
       Ob auch sie Kameras dabei haben? Kajo Roscher
       
       ## Beispiel Zwei: Siechen, jammern, warten
       
       Es gibt Sachen, für die ich mich gerne anstelle. Bei mir um die Ecke ist
       ein Blumenladen, der nur ab und an öffnet. Mehr als zwei Leute passen nicht
       in den Verkaufsraum, inklusive Verkäuferin. Ohne Schlangestehen läuft hier
       nichts, aber immer geht man mit vielen Blumen für wenig Geld heim. Ich weiß
       also: Lohnt sich.
       
       In eine andere Schlange reihe ich mich nicht aus freien Stücken ein,
       sondern weil es für mich lebensnotwendig ist. Ohne meine Tabletten ist es
       nämlich aus mit mir, um es mal drastisch auszudrücken. Schon deswegen mag
       ich die Apotheken-Schlange nicht, und dann wird da auch noch vor sich hin
       gesiecht, bisweilen gejammert, oft viel geredet – über Dinge, von denen ich
       gar nichts wissen will. Wer wo welche Art von Ausschlag hat, zum Beispiel.
       Mein einziger Trost war, dass ich viele Jahre verlässlich mit ausreichend
       Medikamenten rauskam. Wusste also, es lohnt sich. Das ist aber vorbei.
       
       Denn seit Monaten sind viele Arzneimittel nicht zuverlässig lieferbar,
       Schmerztabletten, Krebspräparate, aber auch Cortison, Insulin oder
       Hustenstiller – die Liste ist in vielen Apotheken lang. Zuletzt bestanden
       laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Lieferengpässe bei
       fast 500 Arzneimitteln. In der Praxis bedeutet das: Meine Apothekerin hat
       mich schon wegschicken müssen, weil meine Tabletten nicht vorrätig waren.
       Was, wenn das schlimmer wird? In der vergangenen Woche ist nun das
       [2][Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und
       Versorgungsverbesserungsgesetz] – kurz: ALBVVG – in Kraft getreten,
       verbunden mit der Hoffnung, dass die Versorgung wieder besser wird. Diese
       Hoffnung teile ich.
       
       Mein Trick fürs Apotheken-Schlangestehen ist nun, dass ich mir etwas
       preppermäßig einen kleinen Tablettenvorrat angelegt habe. Seither warte ich
       wieder etwas geduldiger in der Apotheke, lohnte es sich nicht, komme ich
       halt nächste Woche wieder. Ilka Kreutzträger
       
       ## Beispiel Drei: Bloß nicht anstellen!
       
       Ich hasse Schlange stehen und stelle mich nicht mehr an, wenn es nicht
       unbedingt sein muss, wie zum Beispiel in der Warteschlange an der
       Supermarktkasse oder früher in vordigitalen Zeiten an der Theaterkasse –
       heute geht das ja glücklicherweise fix online zu erledigen.
       
       Das hat mit meiner DDR-Vergangenheit zu tun. Schon als Kind stand ich
       stundenlang montags und mittwochs am Dorfkonsum in
       [3][Mecklenburg-Vorpommern] (damals „Bezirk Schwerin“) an; nur mal als
       Beispiel. Der machte nach einer Mittagspause um 15 Uhr wieder auf und über
       Mittag kam die Fleisch-und Wurstlieferung. Und nur die ersten zehn Kunden
       (damals genderte man noch nicht) bekamen Kotelett oder Schnitzel, also
       edlere Stücke, für mehr reichte die Lieferung einfach nicht, für
       Zu-spät-Kommende gab es dann noch Rippchen, Leber, Nieren oder so. Das mit
       dem Anstehen galt auch für die vielleicht zwei, drei Tage im Sommer, wenn
       es mal Wassermelone gab oder um die Weihnachtszeit herum so rare
       Konsumgüter wie Apfelsinen und Bananen … Ich habe Jahre meines Lebens mit
       Anstehen verbracht.
       
       Die Wende hat dieses Problem nicht wirklich gelöst. Schlange stehen gibt es
       auch im Kapitalismus. Nur eben anders. Ich fand für mich aber eine Lösung:
       Ich stelle mich einfach nicht mehr an. Nicht bei der hippen Eisdiele, beim
       angesagten Restaurant, bei der Dönerbude mit der irre langen Wartereihe …
       Da verzichte ich lieber oder gehe zum nächsten Angebot. Geht ja auch leicht
       in Berlin, die große Stadt bietet genug Alternativen, ohne dass man
       anstehen muss. Dafür ist mir meine Zeit einfach viel zu schade. Andreas
       Hergeth
       
       ## Beispiel Vier: Der Darm der Bestie
       
       Klassischer asymmetrischer Konflikt“, meint der nervös grinsende
       Schülerjobber vom Gymnasium, „blöde Scheiße“ nennt’s die [4][Vollzeitkraft
       auf Mindestlohn] – und recht haben irgendwie beide. Wir stehen zu dritt vor
       der Schlange, ihr gegenüber, um all diese Leute mit schnellem Essen zu
       versorgen. Und wichtiger noch: um die Schlange abzuarbeiten, bevor sie sich
       bis nach draußen schlängelt, auf die Straße. Denn ist die Schlange erst
       durch die Tür, bricht dank exponentiellem Wachstum die Hölle los: Mehr und
       immer mehr Vollidiot:innen stellen sich hinten an, statt zur Konkurrenz
       nebenan zu gehen. Muss ja gut sein, wenn alle drauf warten. Das ist wie die
       meisten Gesetze: ärgerlich, dumm und ungerecht – aber eben doch bindend.
       
       Die Mittagszeit sind zwei heftige Stunden für Systemgastronom:innen
       wie uns: die tägliche Bewährungsprobe für Nerven und Kraft. Und für die
       Planung, weil wir heute Morgen eine gewisse Menge Zutaten aufgetaut,
       gewaschen, geschnitten und verrührt haben, die jetzt bis zur Spätschicht
       reichen muss. Denn wo die Schlange erst da ist, sagt der überreizte
       Store-Manager, „geht hier keiner mehr in die Küche nach hinten“.
       
       Dieser Store Manager bin ich, und es muss ein Mittagsmoment wie dieser
       gewesen sein – im Angesicht der Schlange –, in dem ich entschied, dass
       umzusatteln auf „irgendwas mit Medien“ doch nicht das Schlechteste wäre.
       Denn die Schlange heißt nicht nur so, sie ist tatsächlich ein Ungeheuer,
       ein Menschen fressendes noch dazu: Potenziell angenehme
       Einzelkund:innen verwandelt sie in eine Art kollektive Bio- und
       Kaufkraftmasse, die es ähnlich der mythologischen Hydra zu zerhacken gilt,
       Kopf für Kopf.
       
       DDR hin, Russland her: Für mich ist die Warteschlange am Fast-Food-Counter
       der (Billig-)Fleisch gewordene Kapitalismus. Und das sogar inklusive dieser
       hübsch subversiven Solidaritätsmomente: wenn unter dem nächsten Kopf an der
       Spitze der Menschenwurst auch so ein Plastikschildchen baumelt, mit
       Firmenlogo und einem Vornamen drauf. Oder unter der Trainingsjacke der
       übernächsten Kundin die charakteristische Uniformfarbe der
       Fressbudenkonkurrenz aufblitzt. Dann spart man sich die Mühe, den
       Genoss:innen noch überteuerte Extras oder sinnlose Kundenkarten
       anzudrehen. Man nickt sich zu, sagt „ça ira“ und „guten Appetit“ und freut
       sich gemeinsam auf bessere Zeiten.
       
       Es gibt gute und wichtige Bücher über die Klassenfrage, aber einen
       gehörigen Teil davon kann sich ganz wirklich sparen, wer einfach mal
       zwischen 13 und 14 Uhr der Schlange ins Auge geblickt hat. Jan-Paul
       Koopmann
       
       ## Beispiel Fünf: Stress am Anleger
       
       Am Bahnhof [5][Cuxhaven] sind alle Taxis weg. Also rennen wir zum Hafen,
       bis uns unterwegs gnädigerweise ein Taxi aufliest und für gutes Geld am
       Anleger absetzt, um 9.10 Uhr. Das ist an sich nicht zeitkritisch. Bis zur
       Abfahrt nach Helgoland sind es noch 20 Minuten. Noch liegt die „Helgoland“
       ruhig am Kai.
       
       Weil aber starker Wind kommen soll, fährt heute nur dieses eine Schiff. Und
       wer raufwill, muss erst das Gepäck abgeben: Seeleute hiefen die vollen
       Koffergestelle per Kran an Bord. Um ihnen unsere Koffer in die Hand zu
       drücken, brauchen wir ein grünes Etikett. Das gibt es für 3 Euro an einem
       Kassenhaus, vor dem eine lange Schlange steht, gefühlt 50 Leute.
       
       Die Uhr tickt. Und die Schlange steht fast still. 9.12 Uhr, eine Frau löste
       sich aus dem Pulk vor der Kasse und rollert ihren Koffer, ein Etikett
       haltend, zum Schiff. Dann, nach gefühlt zwei Minuten, die nächste. „Malen
       die da jedes Etikett einzeln?“, sage ich laut und rechne im Kopf, was 50
       mal zwei Minuten sind. Eine Dame dreht sich um. „Sie fahren nach Helgoland.
       Da dauert alles ein bisschen länger.“ Okeh. Aber wieso wird es 9.20 Uhr,
       9.25, 9.28 Uhr, und es stehen immer diese vielen Leute vor uns. Um 9.30 Uhr
       tutet auch noch das Schiff. Fährt es ohne uns weg? Nein. Aber weiß man’s?
       
       Als wir am Kassenhaus sind, sehen wir die kleine Etiketten-Maschine, die
       gerade von einem Seemann per Knopfdruck neu gestartet wird. Auch wir kommen
       an Bord. Als die „Helgoland“ ablegt, eine halbe Stunde zu spät, sagt der
       Kapitän über Lautsprecher: Das kam wegen der vielen Fahrgäste. Kaija Kutter
       
       6 Aug 2023
       
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