# taz.de -- Charkiwer Künstler Zhadan und Gurzhy: Elektropop für Agnostiker
       
       > Serhij Zhadan und Yuriy Gurzhy performten „Fokstroty“ in Potsdam.
       > Futurismus und ukrainische Poesie des frühen 20. Jahrhunderts trafen auf
       > Diskoklang.
       
 (IMG) Bild: Serhij Zhadan im Waschhaus Potsdam
       
       Die Frage, womit eigentlich ein Schriftsteller trommelt, beantwortet
       [1][Serhij Zhadan] mit der Tastatur. Tatsächlich schickt der Dichter,
       Schriftsteller und Übersetzer aus Charkiw am Samstagabend im Potsdamer
       Waschhaus eine Schreibmaschine über ein Mikrofon abgenommen in den Saal.
       Das Gerät wird so zum Perkussionsinstrument. Sein metallisches Klacken
       passt sich gut in den Diskoklang des Konzertprogramms „Fokstroty“ ein, mit
       dem Zhadan und sein Freund und Kollege [2][Yuriy Gurzhy], beide eint nicht
       nur die Heimat- beziehungsweise Geburtsstadt, seit 2021 den ukrainischen
       Futurismus der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die Bühne
       bringen.
       
       Dass der Futurismus die Schönheit der Welt um den [3][Klang der Maschinen
       und die Geschwindigkeit der Automobile] bereichert hörte und sah, ist
       bekannt; wie auch, dass sein Begründer, der Italiener Filippo Tommaso
       Marinetti, dieser unbedingt modernen Kunstbewegung zu einem eingetrübten
       Ruf verhalf, als er sie Mussolini andiente. Aber der Futurismus spielte
       nicht nur in Mailand und Moskau, sondern eben auch in Charkiw, Kiew und
       Odessa.
       
       Zhadan konnte in den neunziger Jahren, kurz nach der Unabhängigkeit der
       Ukraine, über den Futurismus promovieren. Dreißig Jahre später nahm der
       Musiker und Autor Gurzhy in Charkiw das Knarzen der Treppe im Literaturhaus
       „Slowo“ auf. Das Geräusch, seine Mischung aus menschlicher Bewegung in der
       Interaktion mit von Menschen für Menschen gemachter Architektur, ist am
       Anfang des Potsdamer Konzerts zu hören. Mit ihm verbindet sich auf
       bestürzende Weise Geschichte und Gegenwart.
       
       „Slowo“ heißt auf Ukrainisch „Wort“ und wird mit einem kyrillischen C
       geschrieben. Die Taste wird es auch auf Zhadans Schreibmaschine geben.
       Diese stammt aus dem „Slowo“-Haus, das in ebenjener C-Form 1927 von
       Mychajlo Daschkewytsch im konstruktivistischen Stil konzipiert und 1929
       nach einer von Stalin persönlich bewilligten Finanzspritze fertiggestellt
       wurde. Es sollte zur Heimat mittelloser Autoren werden und geriet zur Zeit
       der stalinistischen Säuberungen, in der Ukraine schon vor 1936/37, zur
       tödlichen Falle.
       
       ## Zeuge und Opfer des Großen Terrors
       
       Mykola Chwylowyj, Bewohner sowie Mitbegründer und Leiter der WAPLITE, der
       „Freien Akademie für Proletarische Literatur“, erschoss sich 1933 in der
       Wohnung Nr. 9, um nicht „Zeuge oder Opfer des Großen Terrors zu werden“.
       Schreibt Oksana Shchur in ihrem Vorwort zur Konzertbroschüre. 33
       „Slowo“-Bewohner wurden hingerichtet. Shchur weist auf Yuriy Lavrinenkos
       Anthologie ukrainischer Moderne „Die ermordete Renaissance 1917–1933“ hin.
       Der Titel und der Umstand, dass das Buch 1959 in Paris erschien, sprechen
       für sich. Anfang März 2022 geriet das „Slowo“-Gebäude in das Fadenkreuz des
       russischen Überfalls auf die Ukraine.
       
       Wie sagt man angesichts dessen auf der Bühne „Hallo“? Man macht es einfach
       und trotzdem. Zhadan und Gurzhy tun es in Potsdam mit dem gleichnamigen
       Gedicht von Mykhail Semenko. Sie spielen tanzbaren Elektropop für
       Agnostiker. Die vorderen Reihen der Bestuhlung wurden vorausschauend
       abgebaut. „Nicht Zeus, nicht Pan, nicht Heil’ger Geist, / Nur
       Sonnenklarinetten“, heißt es bei Pavlo Tychyna. Ein zweites Mal gespielt,
       diesmal mit der Lyrikerin Ulrike Almut Sandig Gesang, wird es eine von drei
       Zugaben.
       
       Es gibt einen Moment, da klingt die Musik wie „Ladies’ Night“ von Kool &
       The Gang. Der Abend solle bitte nicht schwer daherkommen, hat Zhadan
       eingangs gesagt. Das gilt auch für Mykola Bazhans antifaschistische Hymne
       von 1942, die an jedem 9. Mai im ukrainischen Radio läuft und mit der
       Zhadan und Gurzhy am Abend des Internationalen Tages des Reggae das Konzert
       beschließen. Ihr Publikum singt mit.
       
       4 Jul 2023
       
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