# taz.de -- 151. Jubiläum Anarchismus-Kongress: Anständiger Anarchismus
       
       > Kiloweise Kohl und diskutieren über „wahren“ Antimilitarismus: Zum
       > Weltkongress der „Antiautoritären Internationalen“ kamen 4.000
       > Anarchist:innen.
       
 (IMG) Bild: Arbeiten vor allem für internationale Solidarität: Weltkongress-Besucher:innen in St-Imier
       
       SAINT-IMIER taz | Vor 150 Jahren wurde im Schweizer Jura die
       „Antiautoritäre Internationale“ ausgerufen. Nun kamen dort Tausende
       Anarchist:innen zusammen. Das Treffen zeigte: Die Stärke der Bewegung
       liegt bis heute in ihrer globalen Vernetzung.
       
       Der junge Mann vorne im Saal stellt sich als „Nobody“ vor. Wie die meisten
       hier will er seinen Namen nicht nennen. Aus Furcht vor Repression, aber
       auch aus Prinzip: [1][Der Anarchismus] kennt schließlich weder eine
       Zentrale noch eine offizielle Vertretung. Um die Frage der Organisation
       soll es in diesem Workshop am Donnerstagnachmittag aber durchaus gehen.
       
       „Nur wenn wir unsere vielfältigen Aktionen zusammenbringen, entwickeln wir
       Schlagkraft“, sagt Nobody in seiner Einführungsrede. „Wobei wir uns nicht
       um der Organisation willen organisieren sollten. Der Inhalt muss im
       Vordergrund bleiben“, wendet ein Teilnehmer im dichtgedrängten Saal ein.
       
       „Typisch, dass bisher nur Männer gesprochen haben“, kontert eine
       Besucherin. Zur Klärung werden erst einmal Arbeitsgruppen eingesetzt.
       Willkommen an der „Anarchy 2023“. In Saint-Imier, einem Städtchen im
       Schweizer Jura, lässt sich in diesen Tagen im Juli besichtigen, wie es um
       die [2][anarchistische Bewegung] steht.
       
       ## „Ein bisschen Träumer“
       
       Rund 4.000 Personen, die sich als Anarchist:innen verstehen oder
       einfach der außerparlamentarischen Linken angehören, sind in der
       vergangenen Woche nach Saint-Imier gereist. Die Kommune hat für die
       fünftägige Zusammenkunft ihre öffentlichen Gebäude zur Verfügung gestellt:
       Im Eishockeystadion findet die anarchistische Buchmesse statt, im „Salle de
       spectacle“ gibt es Konzerte und im leerstehenden Altenheim Workshops,
       insgesamt weit mehr als 300.
       
       Auf leicht abschüssigen Wiesen können die Teilnehmer:innen ihre Zelte
       aufschlagen, in riesigen Kochtöpfen brutzeln vegane Gerichte. Überall im
       Ort kommt es zu spontanen künstlerischen Darbietungen. In einem
       Hauseingang proben zwei Musiker:innen ihre Version eines
       Ton-Steine-Scherben-Songs mit Banjo und Akkordeon.
       
       „Anständig und sauber sind sie alle“, lobt die Verkäuferin in der örtlichen
       Bäckerei die Besucher:innen. „Aber ein bisschen Träumer halt.“ Ihre
       Gelassenheit über den Einfall der Anarchist:innen passt zur Stimmung im
       Ort: Ein wenig stolz ist man schon auf die Weltgeschichte, die sich einst
       in Saint-Imier ereignet hat – und auch auf die Neuinszenierung zum 150.
       Jubiläum, die wegen der Coronapandemie um ein Jahr verschoben stattfindet.
       
       Ihren Anfang nahm die Bewegung in einem Streit: 1872 wurden die
       Anarchist:innen aus der Ersten Internationalen der
       Arbeiter:innenbewegung ausgeschlossen, weil sie deren Vorsitzenden
       Karl Marx für sein zentralistisches Machtgebaren kritisiert hatten.
       Anschließend traf sich die abtrünnige Gruppe um Michail Bakunin, Errico
       Malatesta und den Schweizer Uhrmacher Adhémar Schwitzguébel in Saint-Imier
       – und rief die „Antiautoritäre Internationale“ aus. Der Kongress gilt als
       Geburtsstunde des Anarchismus.
       
       Warum dieser gerade in den frühindustrialisierten Tälern des Juragebirges
       auf Anklang stieß, erklärt Historiker Florian Eitel in seinem Vortrag im
       Theatersaal vor Hunderten Zuhörer:innen. Er spricht von einer
       „Parallelgeschichte“ der wirtschaftlichen Globalisierung und der
       Verbreitung anarchistischer Ideen: Neue Technologien wie die Eisenbahn oder
       der Telegraf veränderten das Raum- und Zeitgefühl – und schufen so die
       Vorstellung von internationaler Solidarität.
       
       Eitels Buch „Anarchistische Uhrmacher“ hat der Geschichte des Kongresses zu
       neuer Bekanntheit verholfen, seine Forschung diente als Grundlage für den
       an der Berlinale [3][preisgekrönten Film „Unrueh“].
       
       ## Wissen, um zu handeln
       
       „Natürlich haben wir damit gerechnet, dass wir als Begrüßungsgeschenk eine
       Schweizer Uhr erhalten“, meint Timo in der Festwirtschaft vor der Eishalle.
       Seine Kollegen Adriano und Julio lachen. Gemeinsam bilden die drei die
       inoffizielle brasilianische Delegation. Bei der Finanzierung der Reise
       halfen ihnen befreundete Gruppen aus Europa.
       
       In Saint-Imier wollen sie an der Buchmesse ihre anarchistische Bibliothek
       um fehlende Werke ergänzen – und sich mit anderen Gruppen vernetzen. „Zwar
       stellen sich in Brasilien andere Fragen als in Europa, besonders die nach
       einer gerechten Verteilung des Landes“, sagt Adriano. „Doch die
       anarchistischen Methoden sind sehr anschlussfähig für die Arbeit in unseren
       Communitys“, meint Julio. „Saber fazer“ laute die portugiesische
       Bezeichnung dafür: wissen, um zu handeln.
       
       Neben dem Kongress-Esperanto Englisch ist in diesen Tagen in Saint-Imier
       ein wahres Sprachengewirr zu hören: Portugiesisch, Italienisch, Russisch
       und natürlich auch viel Deutsch. Heike und Tom sind wie viele andere aus
       Berlin gekommen. Gleich zwei Soli-Busse seien von dort losgefahren. Die
       beiden sind in der Lateinamerika-Solidarität aktiv und freuen sich über
       Begegnungen mit Gleichgesinnten aus dem Globalen Süden.
       
       „Ein Treffen wie dieses holt die Utopie des Anarchismus aus dem
       Elfenbeinturm heraus. In der globalen Verbindung erhalten die Ideen eine
       reale Bedeutung“, sagt Heike. In Gesprächen mit Gruppen aus Ländern, die
       von der Erderhitzung stärker betroffen seien, erfahre man viel über den
       konkreten Kampf um Auswege aus der Klimakatastrophe. „Gleichzeitig wird man
       sich der eigenen Privilegien hier in Europa und der Notwendigkeit der
       Solidarität bewusst.“
       
       Weil das Organisationsteam dringend zusätzliche Hände sucht, um das Treffen
       reibungslos am Laufen zu halten, helfen die beiden auch in der Küche mit.
       So haben sie kiloweise Kohlrabi geschält, die vor zwei Jahren auf einem
       Bauernhof in der Nähe zur Verköstigung am Kongress gepflanzt wurden. „In
       seiner Selbstorganisation löst das Treffen ein, was es auch politisch
       fordert“, sagt Tom. Etwas weiß und elitär geprägt sei die Zusammenkunft
       allerdings schon, befinden die beiden selbstkritisch.
       
       ## Westliche Belehrungen
       
       Wie arrogant die westliche Weltsicht auch unter Anarchist:innen sein
       kann, müssen insbesondere die Teilnehmer:innen aus Russland, Belarus
       und der Ukraine erfahren. An praktisch jedem Workshop zum russischen
       Angriffskrieg und dem richtigen Umgang damit kommt es zu Belehrungen über
       den wahren Antimilitarismus. Die Osteuropäer:innen, viele von ihnen vom
       Krieg und der Repression sichtlich gezeichnet, wirken ob der Ignoranz
       gegenüber ihren Standpunkten ziemlich ermüdet.
       
       „Wenn dein Land von einer imperialen Macht angegriffen wird, hast du nicht
       mehr die Zeit, auf die ideale soziale Revolution zu warten. Dann musst du
       dich verteidigen“, bringt es eine Ukrainerin in einer Diskussionsrunde auf
       den Punkt.
       
       Wie stark internationalistisch dabei gerade die Anarchist:innen in
       Osteuropa denken, zeigt eine eindrückliche Gedenkveranstaltung für den
       Russen Dmitri Petrow, der aufseiten der Ukraine kämpfte und im April
       getötet wurde.
       
       Bevor er in den Krieg zog, beteiligte sich der Historiker in Kyjiw an der
       Revolution auf dem Maidan, nahm in Minsk am Aufstand gegen die belarusische
       Diktatur teil und lebte mehrere Monate in Rojava. „Bevor er für eine Utopie
       einstand, wollte er deren gute und schlechte Seiten selbst sehen“, erzählt
       ein Weggefährte.
       
       Neben der ernsthaften zeigte sich der Anarchismus in Saint-Imier auch von
       seiner unterhaltsamen Seite. Etwa in einem Workshop zum anarchistischen
       Jodeln. Es sei sehr nützlich, um an rechtsextremen Demos Faschist:innen
       aus dem Takt zu bringen, erklärt das Berliner Duo „Esels Alptraum“. Dann
       intonieren die beiden: „Liebe, Freiheit, Anarchie!“. Der Rest ist Gejodel.
       
       26 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Russischer-Anarchist-verteidigt-Ukraine/!5918395
 (DIR) [2] /100-Todestag-von-Peter-Kropotkin/!5747641
 (DIR) [3] /Regisseur-ueber-seinen-Film-Unruh/!5903876
       
       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Anna Jikhareva
       
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