# taz.de -- Russischer Anarchist verteidigt Ukraine: „Wir kämpfen gegen Putins Regime“
       
       > Er und seine Genossen wollen die freie Gesellschaft an der Front
       > verteidigen: Gespräch mit einem russischen Anarchisten, der auf
       > ukrainischer Seite kämpft.
       
 (IMG) Bild: Ein Militärfahrzeug auf einer schlammigen Straße im Donbass, in der Nähe von Bachmut im Februar 2023
       
       taz: Herr Leschin, warum beteiligen sich Anarchisten in der Ukraine am
       Krieg? 
       
       Ilya Leschin: Dafür gibt es viele Gründe. Die Anarchisten in der Ukraine
       sind keine homogene Gruppe. Das liegt unter anderem daran, dass es neben
       lokalen Aktivisten auch ziemlich viele Menschen gibt, die in den
       vergangenen Jahren [1][wegen politischer Repression aus Belarus] und
       Russland in die Ukraine gekommen sind. Das bedeutet nicht notwendigerweise,
       dass es große politische Unterschiede zwischen ihnen gibt, aber ich denke,
       dass sich daraus ein Unterschied in den Perspektiven ergibt. Es gibt
       verschiedene Motive und Gründe, an dem aktuellen Konflikt teilzunehmen.
       
       Ja, aber aus ideologischer Sicht ist es doch ziemlich absurd, [2][dass
       Anarchisten] so etwas wie die staatliche Souveränität in einem Krieg
       verteidigen, meinen Sie nicht? 
       
       Ich glaube wirklich nicht, dass wir das tun. Uns geht es nicht darum, die
       Souveränität des Staates zu verteidigen. Wir wollen die Existenz der
       Gesellschaft verteidigen. Die Invasion der russischen Diktatur droht, die
       gesamte Gesellschaft, den gesamten Lebensstil und alle Freiheiten zu
       zerstören. Am Beispiel der Städte, die bereits von russischen Kräften
       erobert wurden, können wir sehen, wie Millionen Menschen vertrieben wurden.
       Tausende von Menschen werden verhaftet, gefoltert. Wie das politische
       Regime in diesen, wie sie es nennen, „befreiten Gebieten“ handelt, kann man
       nicht anders als totalitäre Diktatur beschreiben. Für uns ist das ein
       natürlicher Grund, uns zu wehren. Für die Regime von Wladimir Putin und
       Alexander Lukaschenko steht in diesem Kampf ihr Schicksal auf dem Spiel.
       Wenn sie verlieren, werden sie besiegt. Dann gibt es für uns viele
       Möglichkeiten, dass sich in unseren Ländern etwas wesentlich ändert. Und
       wenn wir etwas Freieres sehen wollen, etwas, das unseren libertären, linken
       oder wie auch immer gearteten sozialistischen Idealen näher kommt, dann
       müssen wir zuallererst diesen Regimen entgegentreten. Im Kampf gegen diese
       Regime kann unsere politische Alternative dazu geboren werden, in Form von
       sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstverwaltung und so weiter.
       
       Wie viele Menschen sind in der Ukraine denn aktuell in anarchistischen
       Gruppen aufgestellt? 
       
       Viele haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen. Sie sind damit
       Teil jener ukrainischen Streitkräfte, die weniger als professionelle Armee
       aufgestellt sind, sondern eher im Stil einer Miliz. Auch die
       Territorialverteidigung wird vom Staat organisiert, das möchte ich klar
       sagen. Manchmal kursieren Mythen über selbst organisierten
       Guerilla-Widerstand oder so etwas. Wie viele Anarchisten kämpfen, weiß ich
       wirklich nicht. Ich erinnere mich an mehrere Dutzend. Es gab auch eine
       antiautoritäre Einheit in der Territorialverteidigung, die aber nicht nur
       wegen bürokratischer Hürden nur für vier oder fünf Monate zusammenhielt.
       
       Ist [3][die Zwangsrekrutierung für Männer] noch ein Thema für Sie?
       Innerhalb von anarchistischen oder insgesamt bei jungen Menschen wird es
       doch daran Kritik gegeben haben, oder? 
       
       Ja, sicher. Und ich persönlich bin auch kritisch gegen die
       Zwangsrekrutierung, aber ich würde sagen, ich habe eine Kompromissposition,
       weil ich die Notwendigkeit sehe, das Übel mit den Werkzeugen, die wir
       haben, zu konfrontieren. Es gibt viele Menschen, die gegen diese
       Verpflichtung sind, und ich habe viele männliche Genossen, die sich
       stattdessen in zivilen Strukturen engagieren und die nicht gezwungen
       werden, zur Armee gehen. Ich weiß nicht, wie genau dieser Prozess
       organisiert wird, ich bin selbst an der Front etwas isoliert davon.
       
       In Deutschland gibt es eine andauernde Debatte über die Lieferung von
       Waffen in die Ukraine. Nach längeren Diskussionen hatte die Bundesregierung
       zuletzt entschieden, Leopard-2-Panzer in die Ukraine zu liefern. Macht Sie
       das glücklich? 
       
       Glück ist ein großes Wort. Meine Genossen und ich sind sehr kritisch
       gegenüber dem westlichen Imperialismus, den westlichen Interventionen in
       unserem Leben und in verschiedenen Teilen der Welt. Aber unter den
       derzeitigen besonderen Bedingungen halte ich diesen Schritt für sinnvoll
       und fortschrittlich.
       
       Was meinen Sie mit den westlichen imperialistischen Mächten? Warum sehen
       Sie diese im ukrainischen Kontext kritisch? 
       
       Nein, im ukrainischen Kontext ist es meiner Meinung nach viel richtiger,
       von russischem Imperialismus zu sprechen. Die westliche Intervention ist
       hier in Form der internationalen Währungsinstitutionen zwar
       offensichtlich, die eine neoliberale Politik im ukrainischen Staat
       vorantreiben. Aber wenn wir die Zerstörung und den ultimativen
       Autoritarismus sehen, der im Moment von den putinistischen Invasoren
       betrieben wird, dann scheint es sehr schräg, den westlichen Imperialismus
       zu kritisieren. Wenn einige Leute dich mit irgendwelchen Geldreformen
       ausbeuten wollen und die anderen gekommen sind, um dich zu töten und zu
       versklaven, dann musst du natürlich die Waffen von allen Leuten nehmen, die
       sie dir anbieten. Ich denke, dass es für das westliche progressive und
       linke Publikum wichtig ist zu erkennen, dass es mehr als eine
       imperialistische Kraft in dieser Welt gibt. Nicht nur die USA oder der
       sogenannte kollektive Westen, sondern auch der russische Staat, der
       türkische Staat oder was auch immer sind Imperialisten und sollten für
       eine korrekte Analyse als solche anerkannt werden.
       
       Linke Menschen in Deutschland sagen auch, dass die territoriale Integrität
       Russlands und seine Grenzen durch die Aktivitäten der EU und der Nato in
       der Ukraine bedroht waren. Glauben Sie, dass die EU und die Nato den
       Einmarsch Russlands vor einem Jahr in die Ukraine provoziert haben? 
       
       Nein, nein. Für mich klingt das nach einer absoluten Verschwörungstheorie.
       Zunächst einmal glaube ich nicht, dass territoriale Integrität ein
       relevanter Wert für progressive Linke sein sollte, aber lassen wir diese
       Frage mal beiseite. Die Antwort ist Nein. Seit 2014 ist es der russische
       Staat, der die ukrainische territoriale Integrität angreift. Das ist
       ziemlich klar. Sie haben seit 2014 viele Gebiete annektiert, und jetzt
       haben sie versucht, das ganze Land zu erobern. Das ist Goebbels-Mentalität,
       wenn man einen aggressiven Krieg führt und sich selbst als Opfer
       stilisiert. Das ist wirklich lächerlich.
       
       Manche Deutsche halten sich auch wegen der deutschen Geschichte zurück, im
       Krieg politisch Stellung zu beziehen. Sowjetische Streitkräfte spielten
       eine zentrale Rolle darin, Nazideutschland zu besiegen. Heute sagen vor
       allem ältere Linke, dass Deutschland vorsichtig sein sollte, sich in der
       Ukraine zu engagieren, weil Deutschland für viele Gräueltaten in der Region
       verantwortlich ist. Was halten Sie von dieser Position? 
       
       Auch das finde ich nicht richtig. Das ist einfach nicht die Geschichte von
       vor mehr als 80 Jahren, die sich hier gerade abspielt. Und wenn wir uns die
       Geschichte des Zweiten Weltkriegs anschauen, dann hat die Ukraine einen
       hohen Blutzoll gezahlt und wurde von den Nazis sehr, sehr stark zerstört.
       Es war die Sowjetunion, die sich Nazideutschland entgegenstellte. Und die
       Ukrainer spielten dabei keine geringere Rolle als die Russen. Das ist auch
       eine imperialistische, kolonialistische Logik, wenn wir sagen, oh, es gab
       eine Sowjetunion, und das ist ein Synonym für Russland. Aber ich bin kein
       Fan davon, mit dieser Geschichte zu spielen, denn der Sowjetstaat war auch
       sehr problematisch in Bezug auf die Freiheiten des Volkes und die soziale
       Gerechtigkeit und so weiter. Es ist also ein völlig falsches Argument, dass
       die Geschichte die deutsche Gesellschaft davon abhalten sollte, der
       ukrainischen Gesellschaft zu helfen, sich auf ihrem Gebiet gegen die
       aggressive Invasion der Imperialisten zu verteidigen. Vielmehr würde ich
       sagen, das ist eine Verpflichtung. Wenn die deutsche Gesellschaft sich für
       diesen Teil der Welt verantwortlich fühlt, dann sollte sie natürlich den
       Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen diese Invasion zu schützen.
       
       Sie sind selbst Russe, leben in der Ukraine und kämpfen mit den
       ukrainischen Streitkräften. Warum? 
       
       Ich musste mein eigenes Land verlassen wegen politischer Repression, wegen
       der direkten Bedrohung durch Folter und Inhaftierung, wegen meiner
       revolutionären Aktivitäten. Und für mich, sowohl persönlich als auch
       politisch, war es einfacher, eine neue Basis in der Ukraine zu finden, wo
       meine Sprache verstanden wird, wo viele meiner Genossen bereits leben. Und
       wo ich nicht so von meiner Heimat abgeschnitten bin. Mit dem Krieg finde
       ich mich wieder an der Spitze des Kampfes gegen Putins Regime, den ich auch
       viele Jahre in Russland geführt habe.
       
       Sie sind sicherlich noch in Kontakt mit aktivistischen Gruppen in Russland.
       Zu Beginn des Krieges konnten wir Bilder von Demonstrationen dort sehen.
       Heute scheinen diese Proteste zum Erliegen gekommen zu sein. Sehen Sie
       Chancen, dass die russische Zivilgesellschaft dem Krieg von innen heraus
       entgegenwirken kann? 
       
       Ja, ich sehe solche Chancen. Der friedliche Protest wurde wirklich
       gebrochen. Aber wir sehen einige, ich würde sagen: Guerilla-Aktionen,
       Sabotage. Und wir sehen auch, dass Anarchisten und Revolutionäre daran
       beteiligt sind. Anarchokommunistische Kampforganisationen verüben zivile
       Sabotageaktionen gegen militärische Objekte in Russland. Es ist sehr gut,
       dass unter dieser Masse anonymer Guerillas Anarchisten eine entscheidende
       Rolle spielen. Auch wenn Druck von den staatlichen Parteien sehr, sehr hart
       ist.
       
       Sollten nicht Anarchisten aktiv Friedensgespräche mit Russland
       vorantreiben? 
       
       Ich denke, dass die russische Invasion zurückgeschlagen werden sollte. Es
       ist absolut legitim, wenn sich Menschen auch mit Waffengewalt verteidigen.
       Ich glaube auch, dass dies eine Perspektive für soziale Veränderungen
       innerhalb Russlands eröffnen wird. Nachdem die Besatzer besiegt sind, denke
       ich, dass Friedensgespräche oder was auch immer möglich sein können. Im
       Moment glaube ich nicht, dass ein Kompromissabkommen mit einem autoritären
       Regime wirklich fruchtbar sein kann. Die Diktatur sollte hier besiegt
       werden. Das ist der fortschrittliche Schritt.
       
       12 Mar 2023
       
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