# taz.de -- Fentanyl-Konsum in Europa: Gefährlicher als Heroin
       
       > Der Mohnanbau in Afghanistan wird beschränkt, darum steht ein
       > Heroinmangel in Europa an. Das könnte für mehr Konsum von Fentanyl
       > sorgen.
       
 (IMG) Bild: Sehr funktional: ein Konsumraum des „Fixpunkts“ in Berlin
       
       Der erste Besucher, der an einem Freitagmorgen im August die Kreuzberger
       Drogenkonsumstelle Fixpunkt betritt, fragt direkt nach einem Tee mit viel
       Zucker. Zwei, drei Esslöffel am besten. Wenn er jetzt noch drücken – also
       Heroin konsumieren – dürfe, ginge es ihm richtig gut, sagt er.
       
       Viele hier fragen nach einer Menge [1][Zucker im Tee] oder Kaffee, sagt
       Martin Bergmaier, pflegerischer Leiter des Fixpunkts. Das sei gut für den
       Energiehaushalt. Die Besucher_innen können sicher und mit sauberem Besteck
       [2][Drogen] konsumieren. Außerdem bekommen sie zum Beispiel
       sozialarbeiterische, medizinische oder rechtliche Unterstützung. Bergmaier
       arbeitet seit 2019 dort und beobachtet seitdem, wie sich die Drogenkultur
       verändert.
       
       Hauptsächlich werden im Fixpunkt [3][Crack-Kokain] und Heroin konsumiert.
       In den letzten Jahren sei vor allem der Crackkonsum gestiegen, erklärt
       Bergmaier. Crack mache die Konsumierenden oft getriebener, manchmal
       aggressiver: „Wir sind häufiger mit Gewaltvorfällen in der Einrichtung
       konfrontiert. Gegen uns, aber auch unter Besucher_innen.“
       
       Hinter der Theke am Eingang des Fixpunktes hängt ein großes Plakat der
       Deutschen Aidshilfe, das darüber informiert, dass man sein Heroin auf das
       gefährliche Opioid Fentanyl testen lassen könne. Bevor sie konsumieren,
       werden die Besucher_innen dann darüber aufgeklärt, was die Risiken sind und
       dass die Dosis gegebenenfalls verringert werden sollte. „Eine Person, die
       Fentanyl im Heroin hatte, sagte, dass ihr dieser Rausch überhaupt nicht
       gefalle“, erklärt Bergmaier. Da es bald zu einem Heroinmangel in Europa
       kommen soll, wollen sich Einrichtungen wie der Fixpunkt vorbereiten.
       
       ## 50- bis 100-mal potenter als Heroin
       
       Heroin, Fentanyl, Opioide: Das sind alles harte Drogen, die mit viel Stigma
       verbunden sind. „Opioid“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene starke
       Schmerzmittel wie Codein, Tilidin, Heroin oder Fentanyl. Sie alle sind
       morphinähnlich und wirken beruhigend und schmerzlindernd. Heroin wird aus
       Schlafmohn, der dann weiterverarbeitet wird, gewonnen und ist damit nur
       halbsynthetisch. Fentanyl dagegen ist vollsynthetisch, genau wie Methadon;
       das Heroin-Substituierungsmittel, das von Ärzten ausgegeben wird, damit
       Süchtige von Heroin wegkommen.
       
       Fentanyl ist etwa 50- bis 100-mal so potent in der Schmerzlinderung wie
       Heroin. Zudem kommen Überdosen bei Fentanyl häufiger vor. Eine Sprecherin
       des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung berichtet, dass bei
       73 der 1.990 Rauschgifttoten in Deutschland im Jahr 2022 Fentanyl
       nachgewiesen werden konnte. Die Vergiftung durch synthetische Opioide wie
       Fentanyl ist jedoch schwer erkennbar, weshalb von einer großen Dunkelziffer
       auszugehen sei.
       
       Im Schnelltestverfahren wurde in mehreren deutschen Städten bereits
       vereinzelt Fentanyl im Heroin gefunden, sagt Maria Kuban von der Deutschen
       Aidshilfe. Hierbei gebe es regionale Schwerpunkte, die mit Handelswegen
       über den Seeweg in Verbindung stehen könnten. Solche Beimengungen führen zu
       einem Gewöhnungseffekt: Das Heroin reiche nicht mehr aus, da
       Konsument_innen eine stärkere Wirkung erwarten. So habe Fentanyl Heroin in
       Nordamerika bereits vom Markt verdrängt.
       
       Nordamerika hat ein ernsthaftes Problem mit Fentanyl, was auf die dortige
       langanhaltende Opioidkrise zurückzuführen ist. Ihre erste größere
       Opferwelle forderte sie bereits in den 90er Jahren. Doch schuld an dem
       Ausmaß der Krise sind nicht etwa Straßendrogen, sondern
       verschreibungspflichtige Medikamente, die Opioide enthalten. Ein Beispiel
       dafür ist OxyContin, ein Opioid des Unternehmens Purdue Pharma, das wegen
       seiner verbrecherischen Strukturen jüngst viel mediale Aufmerksamkeit
       bekommen hat. Das Dealen beginnt in den Staaten schon in der Arztpraxis.
       Opioide werden dort leichtsinniger als etwa in Deutschland herausgegeben.
       Die Patient_innen werden süchtig, erhalten irgendwann kein Rezept mehr und
       substituieren die Medikamente dann durch Straßen-Opioide.
       
       Manche nehmen Fentanyl, manche Heroin, manche Heroin, das mit Fentanyl
       gestreckt ist, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind. Dass der Konsum
       von Fentanyl schneller zum Tod führen kann, zeigt sich in den Zahlen ganz
       deutlich: Von 107.000 Opioid-Toten in den USA im Jahr 2022 starben etwa
       70.000 Menschen an den Folgen von Fentanyl.
       
       Hierzulande starben im Jahr 2022 mit 1.194 Menschen vergleichsweise wenige
       Menschen an Opioiden. Wir sind also von Zuständen wie in den Staaten weit
       entfernt. Doch unser Drogenmarkt könnte sich bald stark verändern.
       
       Im August 2021 übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht. Im April
       2022 verhängten sie ein Verbot für den Mohnanbau – nachdem im selben Jahr
       in Afghanistan so viel Mohn angebaut wurde wie nie zuvor. 2023 ist die
       Anzahl der Felder stark zurückgegangen, wie die Europäischen
       Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) berichtet.
       
       ## Vorräte in Afghanistan
       
       Da die Konsument_innen in Europa fast ausschließlich mit Heroin aus
       Afghanistan versorgt werden, ist der europäische Heroinmarkt eng mit der
       Entwicklung des afghanischen Opiumanbaus verbunden. Bisher gebe es laut
       EMCDDA noch keinen Heroinmangel in Europa. Man müsse allerdings beachten,
       dass es nach der Mohnernte etwa 12 bis 18 Monaten dauert, bis das fertige
       Produkt im europäischen Drogenmarkt umläuft. Somit können die ersten
       Veränderungen erst nächstes Jahr beobachtet werden. Gebe es jedoch Vorräte
       in Afghanistan oder entlang der Schmuggelrouten, so können diese
       kurzfristige Engpässe ausgleichen.
       
       Den Mohnbauern in Afghanistan ist nicht klar, ob das Verbot vollkommen
       umgesetzt werden soll und wie lange es anhalten wird. Bereits im Jahr 2000
       verhängten die Taliban ein Mohnanbauverbot, woraufhin sich das
       Konsumverhalten in Europa veränderte. Fentanyl tauchte danach zum ersten
       Mal auf dem Kontinent auf und seine Verbreitung nahm besonders in den
       baltischen Ländern zu. Seit 2002 kämpft beispielsweise Estland mit Fentanyl
       und seinen Derivaten.
       
       Das Verbot der Taliban dauerte damals nur kurz an. Über die Dauer des
       jetzigen Verbots kann nur spekuliert werden, da die Taliban wirtschaftlich
       stark vom Mohnanbau profitieren.
       
       Die Herstellung von Fentanyl ist an einige Vorteile geknüpft. In Europa
       besteht bereits eine umfangreiche Infrastruktur, die für die Herstellung
       synthetischer Drogen wie Fentanyl genutzt werden könnte. Fentanyl und
       andere synthetische Opioide sind auch für Drogenhändler bequem. Die hohe
       Potenz synthetischer Opioide ermöglicht es ihnen, kleine Mengen zu
       schmuggeln, die leichter zu verbergen sind und trotzdem den Markt abdecken.
       
       Das alles zeigt: Die Sorge, dass Fentanyl zukünftig auch in Europa eine
       größere Rolle spielen wird, ist berechtigt. Die EMCDDA glaubt zwar nicht,
       dass uns eine Opioidkrise wie in den USA erwartet, dennoch müsse man die
       Geschwindigkeit, mit der sich die Fentanyl-Problematik entwickeln kann,
       ernst nehmen.
       
       Auch der Fixpunkt in Kreuzberg bereitet sich darauf vor, dass Fentanyl in
       Zukunft eine größere Rolle spielen wird. Abgesehen von den dort
       durchgeführten Tests der Deutschen Aidshilfe, gibt es beispielsweise
       Naloxon vor Ort. Das ist ein Nasenspray, das die Wirkung von Opioiden wie
       Heroin oder Fentanyl bei Überdosen aufheben kann. In Deutschland setzt sich
       besonders das gemeinsame Programm eines Frankfurter Vereins und der
       Deutschen Aidshilfe „NALtrain“ für seine Verbreitung ein. Die Tatsache,
       dass Naloxon verschreibungspflichtig ist, sei eine große Hürde für
       Konsument_innen. NALtrain fordert, dass jede_r Konsument_in (und im
       Idealfall seine Nächsten) Naloxon bei sich tragen.
       
       ## Zu viel Halbwissen
       
       Es gibt jedoch die Sorge unter Ärzt_innen, dass die Konsument_innen
       risikofreudiger konsumieren würden, hätten sie immer ein Gegenmittel parat.
       Diese Sorge sei nicht berechtigt, glaubt Martin Bergmaier vom Fixpunkt.
       „Menschen, die eine Überdosis haben, können das Spray nicht selbst
       anwenden, weil sie nicht richtig bei Bewusstsein sind. Das muss jemand, der
       wach ist, für sie tun.“ Das Nasenspray führe außerdem zu extrem starken
       Entzugserscheinungen, da man den Rausch unterbindet. „Naloxon verabreicht
       zu bekommen, kann ein traumatisches Erlebnis sein.“ Bergmaier vermeidet es,
       wenn möglich. „Der Kreislauf beginnt wieder von vorne. Erst stiehlt man der
       Person den Rausch, dann muss sie Geld für den nächsten Schuss auftreiben.
       Auf welche Art auch immer.“
       
       Bergmaier erklärt, dass es momentan viel Halbwissen um die Droge bei den
       Besucher_innen gebe. Beim Fixpunkt wollen sie deswegen versuchen, eine Tür
       zu öffnen und über Fentanyl zu sprechen, bevor es richtig auf dem deutschen
       Markt ankommt.
       
       Wichtiger Teil der Aufklärung über einzelne Drogen sei vor allem, dass man
       eine direkte Verbindung zu den Menschen aufbaue. „Im Fixpunkt können sich
       die Besucher_innen uns anvertrauen. Es gibt Hilfe und die Möglichkeit, über
       Substitutionsprogramme zu sprechen.“ Der direkte Zugang zu den Menschen sei
       eine der wenigen realistischen Möglichkeiten, den richtigen Umgang mit
       Fentanyl zu finden, sollte das Heroin tatsächlich ausfallen.
       
       Bergmaier wünscht sich einen einfühlsameren Umgang mit Personen, die von
       Sucht und oft auch von Obdachlosigkeit betroffen sind: „Diese Menschen
       haben oft keinen Anschluss und äußern ganz elementare Bedürfnisse: ein Dach
       über dem Kopf, täglichen Zugang zu Nahrung oder zu medizinischen Hilfen.“
       Der „funktionierende“ Teil der Gesellschaft wolle sich damit nicht
       konfrontieren, meint er. Doch es bedürfe vor allem eines: sehr viel
       Empathie.
       
       5 Sep 2023
       
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