# taz.de -- Kurdische Musikerin aus Berlin: Garten der unterdrückten Völker
       
       > Cemile Dinçer will verhindern, dass kurdische Volkslieder in
       > Vergessenheit geraten. Ihre neuen Interpretationen veröffentlicht sie auf
       > Youtube.
       
 (IMG) Bild: Die kurdische Musikerin Cemile Dinçer
       
       Im Lied fällt Schnee. Der Schnee fällt sanft, aber unaufhaltsam. Warum hört
       der Schnee nicht auf zu fallen in diesem Dorf? Der Schnee fällt dort und
       auf die umliegenden Berge. Er begräbt alles, er lässt keine Hoffnung zu,
       alle bleiben unter ihm.
       
       Mit dem kurdischen Stück „Berfek Barî“, auf Deutsch „Es schneite“, begann
       Cemile Dinçer ihr Benefizkonzert im März für [1][die Betroffenen des
       Erdbebens in Syrien, der Türkei und Kurdistan] einen Monat zuvor. „Das Leid
       hat nicht aufgehört in der Region. Umso mehr ist es wichtig, dass wir jetzt
       zusammenkommen und Solidarität zeigen“, sagt sie und das nächste Stück wird
       mit einem langanhaltenden Applaus eingeleitet. Tayfun Guttstadt, Can
       Tüfekcioglu und Ahmedo spielen auf einem Tembûr, einem Bendir und einer
       Gitarre, Cemile Dinçer singt in einem schwarz-weißen Kleid armenische und
       kurdische Lieder.
       
       Während sie singt, bewegen sich im Publikum leise die Lippen von Frauen,
       manche mit dicken schwarzen, leicht kupferfarbenen Haaren. Daneben sitzen
       alte Herren, die rhythmisch zu den Liedern stapfen. Gesungen wird von
       Liebe, Widerstand und Schmerz, [2][von der Trennung zur Heimat], der
       Hoffnungslosigkeit und dem Leben. Die meisten hier sind selbst Teil der
       kurdischen Diaspora in Berlin, kennen diese Lieder in verschiedenen
       Interpretationen von kurdischen Berühmtheiten wie Ciwan Haco, Sivan Perwer
       und dem Dichter Cegerxwîn.
       
       „Alle Künstler, die im Namen dieser Kultur etwas machen, sind sehr viel
       wert“, erzählt die Musikerin ein paar Monate später bei einem Treffen in
       einem Jugendstilcafé in Berlin-Steglitz. „Dabei überlegt man sich immer,
       was kann ich noch mehr tun?“ Cemile Dinçer ist in Frankfurt geboren und
       fühlt sich dort, aber auch zum Dorf ihrer kurdischen Mutter und dem ihres
       tscherkessischen Vaters in der Türkei zugehörig. Die Eltern haben sich in
       Deutschland kennengelernt.
       
       ## Garten der unterdrückten Völker
       
       Eine Cousine von ihr bezeichnete Dinçer als einen Garten der unterdrückten
       Völker, das fand sie sehr treffend. “Seit Jahrhunderten erlebt die
       kurdische Bevölkerung eine Tragödie nach der anderen“, antwortet Cemile
       Dinçer zur Frage nach der Lage der Kurden. „Es ist immer wieder
       schmerzhaft, aber es ist auch motivierend und bereichernd zu sehen, wie
       widerstandsfähig das Volk ist.“ Sie ist 29 Jahre alt. Generell fühle sie
       sich nicht machtlos. „Es passieren nur Ereignisse, wo man mehr aktiv helfen
       möchte.“
       
       Als sie klein war, kamen ihr Vater und ihr Onkel oft zum Musizieren
       zusammen. Beide spielen Bağlama, sie lernte früh das Instrument und sang
       die kurdischen Lieder mit. Kurmanji, den kurdischen Akzent, den ihre Mutter
       spricht, kann sie nicht fließend. Am meisten lernt sie die Sprache durch
       die Lieder, die sie einstudiert.
       
       Die Inhalte der Lieder wurden nicht altmodisch. Cemile Dinçer versucht
       ihren Beitrag zu leisten, dass die Musik nicht in Vergessenheit gerät. Sie
       veröffentlicht eigene Interpretationen kurdischer Volkslieder auf Youtube.
       Ihre Auslegungen leben von traditionellen Instrumenten, klassischem
       Klavier, Jazz und poppigen Elementen zugleich. Dabei spaziert sie im Video
       mal in gemusterten traditionellen Klamotten, dann wieder mit einem
       einfachen weißen Pullover oder einem beigen Mantel durch Berlin. Vorbei am
       Kottbusser Tor, an Parks und Cafés, bis zum Regierungsviertel und dem
       Brandenburger Tor.
       
       ## Dinçer erreichte eine junge kurdische Community
       
       Ihre Videos werden mehrere hunderttausend Male angeklickt, unter den Videos
       wird meist sehr positiv auf Kurdisch kommentiert, umso mehr nachdem ein
       Online-Kurdischsprachkurs auf Instagram seine Follower:innen auf ihre
       Videos aufmerksam gemacht hat. Auf Tiktok erreicht sie vor allem die junge
       kurdische Community in Deutschland, die sie in den Kommentaren komplett
       abfeiern.
       
       Eigentlich hat Cemile Dinçer in Gießen Geschichts- und Kulturwissenschaften
       studiert. Ihr Schwerpunkt im Studium war Antisemitismus, [3][jüdische
       Geschichte] und nicht-muslimische Minderheiten im Osmanischen Reich. Sie
       machte Praktika in einer Menschenrechtsorganisation in der Türkei, war in
       der pro-kurdischen Freiheitsbewegung aktiv, hat soziale Veranstaltungen
       organisiert und an Demonstrationen teilgenommen. Bis sie merkte, dass sie
       damit unglücklich wird. „Ich habe mir damals vorgestellt, Politikerin zu
       werden. Doch ich malte mir aus, wie ich im Parlament oder auf einer
       Kundgebung stehen würde, eine Rede halte und dann Geschrei käme. Davon wäre
       ich überfordert, ich glaube, ich würde sogar weinen.“
       
       Im Laufe ihres Geschichtsstudiums entschied sie sich, Lehrerin zu werden
       und ihrer Leidenschaft für Musik mehr Beachtung zu schenken. Durch Zufall
       fand sie heraus, dass an der Universität der Künste in Berlin Bağlama
       unterrichtet wird. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung zog sie vor zwei
       Jahren her. Nun studiert sie Musik auf Lehramt, mit dem Schwerpunkt Bağlama
       und dem Nebenfach klassisches, schulpraktisches Klavier und Gesang.
       
       Sie singt in Kursen auf Englisch, aber auch auf Kurdisch und Armenisch in
       unterschiedlichen Ensembles mit Kommiliton:innen. Viele sind immer wieder
       begeistert, wenn sie traditionelle Stücke einbringt, weil „die kurdische
       Musik einen ganz anderen Takt hat“.
       
       26 Sep 2023
       
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