# taz.de -- Offener Brief nach Unfallflucht: „So geht man nicht mit Menschen um“
       
       > Der vierjährige Kalle wurde von einem Radfahrer umgefahren, der
       > Unfallflucht beging. Nun schreibt Kalle einen offenen Brief.
       
 (IMG) Bild: Über Rot fahren: schlecht. Kind anfahren: noch schlechter. Unfallflucht: geht gar nicht
       
       Der Blick von außen ist in der Theorie ein großes Ding, in der Praxis
       unpopulär. Geeignet für Ansprachen wie die des
       Verfassungsgerichtspräsidenten zum [1][Tag der Deutschen Einhei]t, in der
       er anmerkte, dass es erhellend sein könne, mit Menschen zu sprechen, die
       politisch anderer Meinung sind als man selbst. Das gilt für Privatleute,
       Zeitungen, huhu taz!, Institutionen, es ist gewissermaßen eine gezielte
       Verunsicherung: Siehe da, man kann die Dinge auch anders sehen und
       vielleicht gibt es sogar gute Argumente dafür.
       
       Eine Spielart dieses Blickes von außen ist der von Kindern, und das mag
       neben ihrer gelegentlichen Nöligkeit und Lautstärke einer der Gründe sein,
       weshalb auch sie in der Theorie oft populärer sind als in der Praxis.
       
       Es gibt ein uraltes [2][Märchen], in dem ein Ehepaar den alten Großvater
       nur noch abseits vom Tisch und von irdenem Geschirr essen lässt, weil seine
       Hände angefangen haben zu zittern. Kurz danach sehen die Eltern, wie ihr
       kleiner Sohn eine Schale aus Holz schnitzt. „Wofür ist das?“, fragen sie.
       „Daraus könnt ihr essen, wenn ihr alt seid“, antwortet der Sohn. Daraufhin
       holen sie bestürzt den Großvater wieder an den Tisch.
       
       Das Märchen ist aus den verschiedensten Gründen gruselig – unter anderem,
       weil der Sinneswandel der Eltern mäßig überzeugend wirkt, aber auch, weil
       das Märchen hässlich aktuell ist. In jedem Fall ist der Blick dieses Kindes
       ein Korrektiv, weil er die Verbindung zieht, die die Eltern nicht sehen.
       
       ## Niemand schreit Halleluja
       
       Es ist eine unbiegsame Logik darin, ein Wennihrdiessagtmussjenesgelten,
       die sich im Erwachsenenalter nur noch eine Minderheit störrischer
       Idealist:innen leistet. Niemand schreit Halleluja, wenn er ihr begegnet.
       Es liegt eine klare Strenge darin, die nichts von der gängigen
       Kinderaugensehendichan-Rührseligkeit hat.
       
       Oft ist es nicht einmal eine Meinung, sondern eine Frage, ein „Wie kann es
       sein, dass…?“. Es sind [3][echte Fragen, keine rhetorischen] und das macht
       es so schwierig, ihnen auszuweichen. Kürzlich fand sich solch eine Frage im
       Postfach der taz-nord-Redaktion, deswegen drucken wir sie hier ab.
       
       Es ist der offene Brief des vierjährigen Kalle, der in Bremen von einem
       Radfahrer umgefahren wurde, der danach schlicht weiterfuhr. Kalle hat im
       Anschluss mit seiner Mutter den Brief verfasst. Er ist erhellend [4][in
       Sachen Verkehrsgebaren], vor allem aber im Staunen darüber, dass Leute sich
       der Verantwortung entziehen, obwohl doch alle sagen, dass man das nicht
       tut.
       
       Hallo Fahrradfahrer, 
       
       du hast mich heute morgen am 30.September um 10 Uhr angefahren. Du bist
       viel zu schnell durch den Friedenstunnel mit dem Fahrrad gedüst. Ich war
       mit meinem Papa und meinen zwei Geschwistern Brötchen holen und bin über
       die grüne Ampel mit meinem Fahrrad gefahren. 
       
       Weil du so schnell warst, konntest du nicht mehr bremsen und hast versucht
       auszuweichen. Dabei hast du meinen Vorderreifen mit deinem Reifen getroffen
       und verdreht. Mit deinem Lenker hast du meinen Helm, meine Stirn und meine
       Nase getroffen. Daraufhin bin ich umgefallen. Du bist einfach weiter
       gefahren und hast nicht zurück geguckt, wie es mir geht. 
       
       So geht man nicht mit Menschen um. Nicht nur, dass du die Verkehrsregeln
       gebrochen hast, indem du zu schnell und über Rot gefahren bist. Das
       Schlimmste ist, dass du Fahrerflucht begangen hast. 
       
       In der Kita lernen wir, dass wir aufeinander achten. Wenn wir jemandem
       wehtun, dann ist das Wichtigste zu fragen, wie es dem Menschen geht. Ich
       finde, du solltest kein Fahrrad und kein Auto mehr fahren, wenn du noch
       nicht gelernt hast, wie man sich benimmt. 
       
       Ich warte auf eine Entschuldigung und, dass du mein Fahrrad reparierst. 
       
       Kalle, 4 Jahre
       
       7 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gegendemo-zum-Einheitsfest-in-Hamburg/!5964378
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 (DIR) [3] /Kinder-fragen-die-taz-antwortet/!5960814
 (DIR) [4] https://www.adfc.de/artikel/verkehrsregeln-fuer-radfahrende/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Gräff
       
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