# taz.de -- Die Wahrheit: „Wir haben Berge?“
       
       > Slowenische Woche der Wahrheit: Unterwegs mit Einheimischen zur
       > allerhöchsten Erhebung des Landes – dem Žržč.
       
 (IMG) Bild: Aus der Ferne erinnert der Slowenen-Hügel an den K2
       
       „Irgendwie müssen wir das Ding übersehen haben“, knurrt Sherpa Jožef im
       konsonantenreichen Dialekt der slowenischen Karawanken. Vor uns liegen die
       Ausläufer der Südlichen Kalkalpen im Morgendunst. Unter dicken
       Wolkenschichten erkennen wir die Gipfel des Gubno mit 2.034 Metern und den
       Visoki Kurjek mit 1.959 Metern am Horizont, doch gleich vor uns erhebt sich
       der Žržč mit stolzen 8.092 Metern.
       
       Damit ist der schneebedeckte Gipfel nicht nur einen Meter höher als die
       himalayische Annapurna, sondern der höchste Berg Europas. Und doch hat noch
       niemand außerhalb des Sava-Tals – und vielleicht nicht einmal dort – von
       dem Giganten gehört. Auf keiner Landkarte ist der Žržč eingetragen, nicht
       einmal Google kennt die Landmarke.
       
       ## Wo liegt noch gleich Slowenien?
       
       „Wie kann das sein?“, fragen wir uns, aber auch die slowenische
       Staatspräsidentin Nataša Pirc Musar. „Slowenien gilt als eins der
       unauffälligsten Länder in Europa. In der Tat ist es so unauffällig, dass es
       nicht einmal seine Einwohner beachten, deswegen kennt sich hier niemand
       richtig aus“, erklärt die Präsidentin, die erst nach der Wahl von der
       Existenz ihres Heimatlandes erfahren haben will: „Hätten Sie gewusst, dass
       Slowenien am Mittelmeer liegt? Ich nicht.“
       
       Wir schütteln den Kopf. „Wir haben Slowenien mal wieder mit der Slowakei
       verwechselt und sind erst nach Bratislava statt nach Ljubljana gefahren.“
       
       „Ach, das geht mir auch manchmal so“, klagt die Präsidentin. „Neulich bin
       ich auf der Suche nach meinem Amtssitz drei Wochen durch Slawonien geirrt,
       dabei liegt das in Kroatien.“ – „Slawonien, Slowenien, das ist doch völlig
       egal. Aber wie konnten Sie den höchsten Berg Europas übersehen?“ – „Was?
       Wir haben Berge?“, fragt die Präsidentin ehrlich erstaunt.
       
       ## Unleserliche Wanderkarten
       
       Der Wiener Osteuropahistoriker August Schrögl glaubt nicht an topografische
       Unkenntnis, er hat eine andere Erklärung: „Die letzte Gebirgsinventur in
       den Karawanken wurde unter Tito vorgenommen, dabei wurde der Žržč
       absichtlich unterschlagen. Ich vermute, dass die slowenischen Geografen den
       Rekordberg nicht mit den anderen Jugoslawen teilen wollten.“
       
       Bis heute sind die introvertierten Gebirgsslawen äußerst reserviert, wenn
       es um ihre Heimat geht. Sogar von den Touristeninfos wird der Besucher mit
       dem Satz „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“ empfangen, die
       ausgegebenen Wanderkarten sind entweder vollkommen unleserlich oder zeigen
       nur Wege, die schnurstracks wieder ins Ausland führen.
       
       ## Basislager in der Destille
       
       Auch unser Sherpa Jožef bleibt bei seiner Behauptung: „Mir ist der Berg da
       jedenfalls nie aufgefallen. Vielleicht, weil ein Schuppen davorsteht.
       Wollen Sie jetzt da rauf oder nicht?“ Tatsächlich ist für heute die
       Erstbesteigung des Achttausenders anberaumt. Doch statt Sauerstofflaschen
       hat Jožef bloß eine Flasche Šbižk aufgetrieben. Der Schnaps, der aus
       Feldspat und dem Malachit der Karawanken gebrannt wird, soll gegen
       Höhenkrankheit helfen.
       
       Unser Basislager hat Jožef auf dem Parkplatz vor dem Schuppen
       aufgeschlagen, der sich als Šbižk-Destille entpuppt. Keine zwei Höhenmeter
       später geht die Pulle zur Neige, doch der Aufstieg fällt leichter als
       gedacht, obwohl wir uns im unwegsamen Parkplatzterrain auf allen Vieren
       bewegen müssen. Als die Wirkung des Mineraldestillats nachlässt, versuchen
       wir uns zu orientieren.
       
       Offenbar haben wir die Todeszone erreicht, unsere Blutkörperchen schweben
       als rote Ballons dem Gipfel entgegen. Wir fühlen uns verdächtig leicht, nur
       ein weiterer Schluck vom hochprozentigem Ballasttrunk hält uns am Boden.
       
       ## Bigfoot der Kalkalpen
       
       Plötzlich löst sich ein Geschöpf aus dem Gebirgsnebel. „Schi-schek!“,
       lispelt das zottelige Wesen, dann stellt es Stühle zu einer
       Diskussionsrunde zusammen. „Lacan!“, schnorchelt das Monstrum. „Paradoxie!“
       
       Offenbar sind wir auf den Žižek, den Bigfoot der Kalkalpen getroffen.
       Dieses mythische Wesen der slowenischen Bergwelt soll unvorsichtige
       Wanderer in labyrinthische Diskussionen über das Imaginäre und das Reale
       verstricken, aus denen es kein Entrinnen gibt.
       
       Vier Wochen später haben wir noch immer keine Antwort auf die Frage
       gefunden, ob die Realität eine kollektiv praktizierte Fiktion ist, aber
       immerhin sind uns unsere Vornamen wieder eingefallen. Unseren Sherpa
       treffen wir zufällig in einem Café in der Hauptstadt wieder, doch er
       bestreitet, je als Bergführer in den Karawanken gearbeitet zu haben. Es ist
       als, hätte es den Berg nie gegeben. Erst als wir den letzten Schluck Šbižk
       trinken, taucht die Silhouette des Gipfels wieder auf. Doch ist da auch
       dieses Lispeln. „Paradoxie!“, röchelt der Žižek. Fluchtartig verlassen wir
       das Land.
       
       20 Oct 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Bartel
       
       ## TAGS
       
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