# taz.de -- Russischer Journalist Mikhail Zygar: Land ohne Zukunft
       
       > Der russische Journalist Mikhail Zygar musste sein Land verlassen. In
       > seinem Buch zeichnet er den langen Kampf Russlands gegen die Ukraine
       > nach.
       
 (IMG) Bild: Mikhail Zygar wird für lange Zeit nicht nach Russland zurückkehren können
       
       Mikhail Zygar nennt die Stadt, in der er heute lebt, gern die „russische
       Kulturhauptstadt“ des Jahres 2023. Der Reporter und Journalist, gebürtig
       aus Moskau, sitzt in einem Restaurant im Berliner Stadtteil Charlottenburg,
       wo er nun wohnt. Wie so viele kritische Geister aus Russland hat er das
       Land verlassen – und kam an die Spree. „Berlin ist heute die wichtigste
       Stadt für die russische Kultur“, sagt er, „viele Journalisten, Künstler,
       Schauspieler, Filmemacher leben hier.“
       
       Er selbst packte die Koffer wenige Tage nach Beginn des russischen
       Angriffskriegs im Februar 2023. Zuvor schrieb er einen offenen Brief, in
       dem er den Krieg als „unsere Schande“ bezeichnete und seine Landsleute
       aufforderte, Nein zum Krieg zu sagen. „Ich hatte das Gefühl, ich lebe in
       Deutschland im Jahr 1939. Die Zukunft unseres Landes wurde innerhalb einer
       Nacht zerstört, genauso wie die Zukunft der Ukrainer“, sagt er heute. „Es
       war für mich klar, dass ich in Russland nicht mehr leben kann.“
       
       Zygar hat sich inzwischen in Deutschland eingerichtet, er arbeitet unter
       anderem als Kolumnist für den Spiegel, lebt gemeinsam mit seinem Mann in
       der Hauptstadt. In Russland zählt er zu den bekanntesten Journalisten. Er
       war zwischen 2010 und 2015 Chefredakteur des unabhängigen
       Nachrichtensenders Doschd, danach startete er eine Onlineserie zur
       russischen Historie („Freie Geschichte“). Kürzlich ist sein Buch „Krieg und
       Sühne“ auf Deutsch erschienen.
       
       Darin zeichnet er die jahrhundertelangen Bestrebungen des imperialen
       Russlands, sich die Ukraine einzuverleiben, detailliert nach. Sein Buch
       beginnt mit den Worten: „Ich bekenne mich schuldig, die Zeichen nicht schon
       früher erkannt zu haben. Denn auch ich bin mitverantwortlich für den Krieg
       Russlands gegen die Ukraine, wie auch meine Zeitgenossen – und unsere
       Vorfahren.“
       
       ## Abwertung der ukrainischen Kultur
       
       Der 42-Jährige erklärt im Gespräch, dass die russische Malaise weit vor dem
       20. Jahrhundert, weit vor Stalin begonnen habe. „Wir haben immer gedacht,
       dass die große russische Kultur etwas ist, auf das wir nur stolz sein
       können. Wir haben die Augen davor verschlossen, wie das ukrainische Volk,
       das belarussische Volk und andere unterdrückt wurden.“ Im Buch führt er
       aus, dass die ukrainische Sprache seit vielen Jahrhunderten missbilligt
       wurde, als keine eigene Sprache galt und dass die Literatur auf Ukrainisch
       als minderwertig angesehen wurde.
       
       Imperiale Denkmuster und einen Glauben an das Großsrussische findet Zygar
       bei vielen russischen Klassikern: Bei Dostojewski und Puschkin, bei
       Solschenizyn und Brodsky (bei Letzteren beiden ist dies allgemein
       bekannter). „Wenn ein Schriftsteller fremdenfeindlich, imperialistisch oder
       chauvinistisch war, sollten wir das diskutieren und nicht so tun, als seien
       sie heilig“, sagt Zygar.
       
       „Dostojewski war ein großer christlicher Philosoph, aber er hatte zugleich
       schreckliche politische Ansichten. Diese Tatsache sollten wir benennen.“ Im
       Buch schreibt Zygar, Dostojewskis Geisteshaltung sei „der Rhetorik
       russischer Propagandisten des 21. Jahrhunderts verblüffend ähnlich, etwa
       wenn sie dazu aufrufen, die Ukraine müsse gegen ‚die Nazis‘ verteidigt
       werden.“
       
       ## Historische Analogien
       
       Die historischen Analogien sind eine Stärke des Buchs. Zygar zitiert
       Stalin, der 1932 sagte: „Wir müssen uns um die Ukraine kümmern, sonst
       verlieren wir sie.“ Kümmern hieß in diesem Fall, [1][den Hunger gezielt
       gegen die Ukraine einzusetzen], es waren die grausamen Jahre des
       Holodomors. Das Wording [2][Wladimir Putins] 2021 und 2022 unterschied sich
       kaum von den Worten Stalins.
       
       Zygar wirkt im Gespräch ernst, sachlich, klar, fokussiert; er verliert kein
       überflüssiges Wort, kaut nur zwischendurch an einem Stück Pizza Margherita,
       während er über die zahlreichen Kipppunkte der russischen Geschichte
       spricht. Einer davon: die Verfassung, die Boris Jelzin vor nun genau 30
       Jahren durchsetzte und die das Fundament des heutigen illiberalen
       politischen Systems in Russland darstellt. „Diese Verfassung wurde nur für
       diesen speziellen politischen Moment geschrieben. Zu dem Zeitpunkt dachten
       die russischen Demokraten, dass sie den demokratischen Präsidenten stärken
       müssten und ihm helfen sollten, gegen die kommunistische Opposition zu
       kämpfen. Welch bitterer Irrtum.“
       
       Die Zeit danach, sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite,
       schildert Zygar im Buch akribisch. Die Rosenrevolution in Georgien (2003),
       die Kutschma-Jahre in der Ukraine und den Kassettenskandal um ihn, die
       Juschtschenko-Janukowitsch-Schlacht, die Orange Revolution, [3][den
       Aufstieg eines jungen Komikers namens Wolodimir Selenski].
       
       Genauso die Tschetschenien-Kriege, die Geiselnahme im Moskauer
       Dubrowka-Theater, die Maidan-Kränkung Putins und den Machtausbau auf der
       anderen Seite. Selbst wenn man schon viel zur jüngeren russischen
       Geschichte gelesen hat, lernt man hier noch einiges Neues, weil Zygar auf
       mehr als 450 Seiten sehr ins Detail geht. Als Leser profitiert man von
       seinem Insiderblick, Zygar hat seit 2004 aus der Ukraine berichtet und mit
       vielen hochrangigen Politikern gesprochen.
       
       ## Opposition durch EU-Sanktionen geschwächt
       
       Einen wesentlichen Grund, warum die russische Opposition nach dem 24.
       Februar 2022 nicht mächtiger ist, als sie sein könnte, sieht Zygar in den
       EU-Sanktionen gegen Russland. „Die EU hat wahllos Sanktionen gegen alle
       russischen Bürger verhängt. Nicht nur die Oligarchen, die mit dem Regime
       verbunden sind, sondern zum Beispiel auch Mittelständler mussten ihr Geld
       abziehen und nach Russland zurückkehren – denn ironischerweise ist das der
       einzige Ort, an dem sie noch ein Geschäft haben können, an dem sie noch
       Bankkonten haben können.“
       
       Zygar glaubt, sie hätten aus dem Exil die Sponsoren eines zivilen
       Widerstands sein können – das sei so unmöglich.
       
       Putin sieht er zum jetzigen Zeitpunkt als einen Taktierer, der nur abwartet
       und auf eine Wiederwahl Trumps in den USA in einem Jahr setzt – oder auf
       zunehmende Gleichgültigkeit: „Er will, dass alle müde vom Krieg in der
       Ukraine sind. Er will, dass die Ukrainer erschöpft sind. Er will, dass die
       Europäer erschöpft sind. Er will, dass die Amerikaner jede Unterstützung
       einstellen. Und er ist sich sicher, dass Trump gewinnen wird.“
       
       Für Zygar wird es wohl dauerhaft kaum möglich sein, nach Russland
       zurückzukehren, er glaubt für „viele, viele Jahre“ im Ausland arbeiten zu
       müssen. Wenn Putin falle, so glaubt er, dann durch einen Prozess im
       Inneren, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zum Beispiel. Richtig
       überzeugt wirkt Mikhail Zygar bei diesem Gedankenspiel nicht.
       
       19 Oct 2023
       
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