# taz.de -- Tories und Labour: Politik ohne Ideen
       
       > Margaret Thatcher und Tony Blair haben mit politischem Mut Großbritannien
       > geprägt. Rishi Sunak und Keir Starmer können da heute nicht mithalten.
       
 (IMG) Bild: 13.11.2022: Rishi Sunak und Oppositionsführer Keir Starmer am Remeberance Sunday in London
       
       Ein Jahr ist es her, da ging ein kollektives Aufatmen durch die britische
       Politik. Rishi Sunak wurde Premierminister und versprach Stabilität und
       Kompetenz. Die wilden Jahre von Boris Johnson und der kurzlebigen Liz Truss
       beförderte er kurzerhand auf den Müllhaufen der Geschichte. Endlich Ruhe.
       
       Endlich Ruhe? Nach einem Jahr im Amt ist es Sunak nicht gelungen, den seit
       2010 regierenden Konservativen Zuversicht einzuhauchen. Der junge Premier
       ist ein Arbeitstier und [1][packt am liebsten alle Probleme auf einmal an],
       aber je eifriger er agiert, desto weniger scheint er zu überzeugen. Es
       hagelt eine Wahlniederlage nach der anderen, der Tory-Rückstand [2][zur
       Labour-Opposition in allen Umfragen bleibt gigantisch]. Je näher die
       nächsten Wahlen rücken – voraussichtlich im Jahr 2024 –, desto mehr steigt
       bei den Konservativen die Nervosität. Kann Labour-Führer Keir Starmer sich
       also beruhigt zurücklehnen, bis ihm die Schlüssel zu 10 Downing Street in
       den Schoß fallen?
       
       Wer die politische Debatte in Großbritannien verfolgt, kommt nicht umhin,
       sowohl bei Konservativen als auch bei Labour eine Leerstelle dort
       vorzufinden, wo eigentlich Ideen sprießen sollten. Rishi Sunak und Keir
       Starmer sind beide vor allem dafür angetreten, mit der Vergangenheit ihrer
       eigenen Parteien aufzuräumen. 2019 standen sich die zwei besten Populisten
       ihrer jeweiligen Parteien gegenüber, also Boris Johnson und Jeremy Corbyn.
       Es war aufregend, aber am Ende sinnlos. 2024 droht ein Wahlkampf der zwei
       besten Technokraten. Das wird nicht einmal aufregend.
       
       ## Die Errungenschaften Bildung und Wohneigentum
       
       Es ist bezeichnend, dass Rishi Sunak sich gern auf Margaret Thatcher beruft
       und Keir Starmer gern auf Tony Blair. Beide suchen nach Glorie, die auf sie
       abfärben könnte. Die konservative Premierministerin von 1979 bis 1990 und
       der Labour-Premier von 1997 bis 2007 drückten nicht nur ihren Parteien
       ihren Stempel auf. Sie standen auch für mutige politische Projekte, die das
       Leben der Menschen sofort veränderten, aber ihre volle Wirkung erst später
       entfalteten und damit das Land für mindestens eine Generation prägten.
       
       Bei Thatcher war es die Verallgemeinerung privaten Wohneigentums, bei Blair
       die Verallgemeinerung höherer Bildung. Margaret Thatcher bot Sozialmietern
       die Möglichkeit an, ihre Sozialwohnungen zu kaufen – Millionen taten das
       und damit wurde erstmals Wohneigentum auch für Geringverdiener erreichbar.
       Tony Blair baute das Hochschulwesen massiv aus – Millionen junger Menschen
       drängten an die Universitäten und damit wurde erstmals höhere Bildung auch
       jenseits der Bildungselite normal.
       
       Bis in die 1960er Jahre hinein lebte nur eine Minderheit der Briten in den
       eigenen vier Wänden. Unter Thatcher stieg der Anteil steil, bis 2005 wurden
       es über 70 Prozent. Bei der höheren Bildung ist der Wandel noch
       spektakulärer: Noch 1990 zählte Großbritannien weniger als 80.000
       Universitätsabsolventen pro Jahr, heute sind es mehr als viermal so viel,
       38 Prozent der Schulabgänger gehen heute auf eine höhere Bildungsanstalt
       gegenüber 14 Prozent in der Thatcher-Ära.
       
       ## Luxus und Ramschware
       
       Beide Projekte enthielten auch politisches Kalkül. Thatcher wollte eine
       Mehrheitsgesellschaft der Eigentümer, die rechts wählt, Blair wollte eine
       Mehrheitsgesellschaft der Gebildeten, die links wählt. Aber beide Projekte
       hätten politisch nicht funktioniert, wenn sie nicht sowieso der
       gesellschaftlichen Fortschrittserwartung entsprochen hätten. Sie passten
       zum britischen Ideal des Aufstiegs aus eigener Kraft, für den der Staat
       gute Rahmenbedingungen setzt. Demokratisierung des Zugangs zu Wohneigentum
       und höherer Bildung heißt gesellschaftliche Teilhabe, soziale Inklusion,
       bessere Aufstiegschancen, abgesicherte Lebensumstände.
       
       Die Schattenseiten zeigten sich später. Bei Thatcher ging die
       Privatisierung des Sozialwohnbestandes einher mit einem Stopp des sozialen
       Wohnungsbaus, der bis heute andauert. Bei Blair ging die Erweiterung der
       höheren Bildung einher mit dem Stopp des kostenlosen Studiums zugunsten von
       Studiengebühren; wer studiert, verschuldet sich, und je mehr
       Universitätsabsolventen es gibt, desto geringer sind ihre Karrierechancen.
       Die Ausbreitung von Wohneigentum kam mit der Finanzkrise zum Stillstand,
       die der Hochschuĺbildung scheint gegenwärtig zu enden.
       
       Wer heute in Großbritannien aufwächst, wächst in eine
       Zweidrittelgesellschaft hinein, in der immer mehr Menschen die meisten
       Türen verschlossen erscheinen. Dass dazu auch noch die meisten
       Dienstleistungen immer schlechter und teurer werden, verschärft das
       Krisengefühl. Die Generationen Thatchers und Blairs können ihre
       Errungenschaften nur eingeschränkt an ihre Kinder weitergeben. Das private
       Wohneigentum ist zum scheinbaren Luxusgut geworden, der Hochschulabschluss
       zur scheinbaren Ramschware, und der Staat steht hilflos daneben.
       
       Die Lösung besteht sicher nicht im uneinlösbaren Versprechen einer Rückkehr
       zu früheren Privilegien bei gleichzeitiger Beibehaltung der seitherigen
       Errungenschaften – also billige Sozialwohnungen und kostenlose
       Studienplätze für alle, wie Linke es fordern. Aber weder Rishi Sunak noch
       Keir Starmer haben überzeugende eigene Ideen. Sie gehen auch kaum die
       unerledigten Aufgaben an: erschwingliche, für alle zugängliche Altenpflege
       und Kinderbetreuung. Dabei wäre Sicherheit für die Ältesten und die
       Jüngsten neben Wohneigentum und guter Bildung der dritte Baustein eines
       gesellschaftlichen Aufstiegsversprechens, das länger trägt als nur eine
       Generation.
       
       [3][Sunak] und Starmer sind ehrliche und ernsthafte Reformer. Aber ihr
       Verhältnis zur Politik ähnelt dem eines Mechanikers zu einem kaputten Auto.
       Sie schlagen vor, wie man es fahrtüchtig macht, aber nicht, wohin man
       fahren könnte. Ihre Politik beschränkt sich auf die Mittel, nicht das Ziel.
       Sie zehren von der Vergangenheit, aber Großbritannien braucht Zukunft. Es
       ist wichtig und unerlässlich, aber es reicht nicht.
       
       26 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/RishiSunak/status/1717100621457711185
 (DIR) [2] /Nachwahlen-in-Grossbritannien/!5967692
 (DIR) [3] /Tory-Parteitag-in-Grossbritannien/!5961276
       
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