# taz.de -- Vigdis Hjorth über ihren neuen Roman: „Sie rennt gegen ein Problem an“
       
       > Vigdis Hjorth reflektiert im Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ das
       > Verhältnis von Realität und Fiktion. Hinzu kommt ein norwegisches
       > Kriegstrauma.
       
 (IMG) Bild: Wuchtiges Geschöpf: In Vigdis Hjorths neuem Roman wird der Geweih-Abwurf eines Elchs zur Allegorie
       
       taz: Frau Hjorth, was hat Ihr neuer Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“
       mit Ihrem Leben zu tun? 
       
       Vigdis Hjorth: Ach, ich mag den Begriff „autofiktional“ nicht. Natürlich
       hat alles, was ich schreibe, mit meinem Leben zu tun, weil ich meine
       persönlichen Erfahrungen nutze. Aber ich schreibe immer Romane, seit 40
       Jahren. Mich interessiert die Transformation von sogenannter Realität in
       Fiktion.
       
       Aber Ihr Roman „Arv og Miljø“ (Erbe und Umwelt) über den Missbrauch eines
       Mädchens durch den Vater wurde für bare Münze genommen. Ihre Schwester hat
       sogar einen „Gegen-Roman“ verfasst. 
       
       Ja. Aber meine Schwester hat das Buch nicht so gelesen, wie sie hätte
       sollen, sie hat das Genre „Roman“ missverstanden. Sie hat in Interviews
       gesagt: „Dieses Buch handelt von unserer Familie. Aber wir sind nicht so.“
       Das ist ein Paradoxon. Sie bestehen darauf, dass ich über sie geschrieben
       habe, aber sie kritisieren, wie ich sie darstelle. Ich habe ihnen gesagt:
       „Ich schreibe nicht über euch.“ Aber ich habe den Eindruck, sie suchen nach
       sich selbst.
       
       Und doch ist solch ein Konflikt Thema Ihres neuen Buchs, aus dem Sie jetzt
       lesen. Nur, dass die Protagonistin hier eine Künstlerin ist, die wegen
       eines unvorteilhaften Familienporträts in Ungnade fiel. 
       
       Ja. Und indem ich aus der Protagonistin eine Malerin mache, kann ich in
       diese Diskussion über das Verhältnis zwischen Kunst und „Realität“ gehen.
       Ich kann das durchspielen in Johannas innerem Monolog. Aber das Buch ist
       keine Reaktion auf den Konflikt um meinen vorigen Roman, sondern eine
       generelle Reflexion.
       
       In der die nach 30 Jahren heimgekehrte Johanna nicht akzeptiert, dass die
       Mutter keinen Kontakt will. Johanna will das erzwingen. Warum? 
       
       Sie ist besessen. Denn man ist besonders hungrig nach genau der
       Information, von der man abgeschnitten ist. Wenn die Mutter ans Telefon
       gegangen wäre, wenn sie geredet hätten, wäre Johanna nicht so besessen.
       Aber da sie die Mutter nicht treffen kann, erfindet sie sie. Das tun
       Menschen oft, wenn sie keine Information über jemand Wichtiges haben.
       
       Wie zum Beispiel? 
       
       In vielen Familien gibt es einen Onkel Knut, eine Tante Ann, die nie zu
       Familienfeiern eingeladen werden. Wenn ein Kind fragt: „Warum kommen sie
       eigentlich nie?“, hört es irgendwelche Geschichten, die die Abwesenheit
       dieser Personen rechtfertigen sollen. Dann ist Tante Ann eine
       Alkoholikerin, Onkel Knut ein Herumtreiber und so weiter. Diese Geschichten
       verfestigen derart, dass es schwer ist, sich nach Jahren zu öffnen, um
       herauszufinden, dass Tante und Onkel eigentlich nette Leute sind. Genau
       solche Geschichten erfindet Johanna über ihre Mutter. Denn wichtige
       Menschen hören nicht auf zu existieren, nur, weil wir nichts über sie
       wissen. Der norwegische Titel des Buchs lautet „Er mor død“– „Ist Mutter
       tot“. Die Antwort: Nein, eine Mutter kann nicht sterben. Sie lebt in dir.
       Und wenn du sie nicht treffen kannst, erfindest du sie eben.
       
       Warum ist Johanna so erpicht auf den Dialog? 
       
       Sie glaubt, dass die Mutter einen schwelenden Kindheitsschmerz hat, der
       durch ein Gespräch getilgt werden kann. Während ihrer 30-jährigen
       Abwesenheit hat sich Johanna nicht dafür interessiert, aber jetzt will sie
       die Mutter anrufen und erfahren, was damals passierte. Aber die Mutter will
       nicht und denkt, dass Johanna nach all den Jahren nicht in der Position
       ist, etwas zu fordern.
       
       Repräsentiert Johannas Mutter eine im Krieg geborene Generation von Frauen? 
       
       Ja, vielleicht. Diese Frauen hatten keine Ausbildung, waren finanziell
       abhängig vom Ehemann, hatten nicht die Möglichkeit, sich scheiden zu
       lassen. Und auch wenn sich viele freuten über die Freiheiten und Karrieren
       ihrer Töchter, hat es sicher auch Bitterkeit und Neid gegeben. Die Mutter
       der Malerin Johanna zum Beispiel war selbst eine begabte Zeichnerin. Aber
       sie konnte es nicht ausleben.
       
       Wie wuchs Johannas Mutter auf? 
       
       Ihr Vater war ein „Krigsseileren“, ein „Kriegsmatrose“. Das waren über
       30.000 Matrosen norwegischer Handelsschiffe, die zu Beginn des Zweiten
       Weltkriegs, schon bevor Deutschland Norwegen im April 1940 [1][besetzte],
       von der norwegischen Exilregierung Knall auf Fall gezwungen wurden, für die
       Alliierten Waren zu transportieren. Ohne militärische Ausbildung und
       Ausrüstung waren diese Matrosen ein leichtes Ziel für deutsche U-Boote.
       Mindestens 4.000 von ihnen starben. Und die schwer traumatisierten
       Heimkehrer bekamen nach 1945 weder medizinische noch finanzielle Hilfe vom
       Staat. Viele wurden Alkoholiker, waren arbeitsunfähig. In den
       Nachkriegsjahren sah man sie überall auf den Straßen. Das ist ein
       jahrzehntelang unbearbeitetes [2][Traum]a der norwegischen Gesellschaft.
       
       Im August 2022 machte Gunnar Vikene mit seinem auf authentischen Berichten
       basierenden Filmdrama [3][„Krigsseileren“] das Thema erstmals breiter
       bekannt. 
       
       Ja, und erst vor kurzem hat der norwegische König öffentlich gesagt: „Es
       tut uns leid, wie wir euch bei eurer Heimkehr behandelt haben. Wir haben
       eure Traumata nicht ernst genommen.“ Der Vater von Johannas Mutter im Roman
       war einer von ihnen. Deshalb wuchs die Mutter bei ihrem Onkel und ihrer
       Tante in einer kühlen Atmosphäre auf. Der Ehemann hat sie aus der Armut
       herausgeholt, aber sie fühlte sich gefangen, hat sich heimlich die Arme
       geritzt. Über all das möchte Johanna reden. Aber es ist zu spät.
       
       Wussten Sie von Anfang an, dass der Roman unversöhnt enden würde? 
       
       Nein. Romanfiguren verselbstständigen sich ja mit der Zeit, und anfangs
       wusste ich nicht, dass Johanna der Mutter nicht nur auflauern, sondern auch
       physisch in deren Wohnung eindringen würde. Dass sie so verrückt sein
       würde.
       
       Und dann ist da noch der Elch, den Johanna beim Abstoßen seines Geweihs
       beobachtet. Ein brutaler Vorgang. 
       
       In der Tat werfen [4][Elche] jeden Herbst ihr Geweih ab, um Gewicht zu
       verlieren und Energie für den harten Winter zu sparen. Der Vorgang selbst
       wirkt unglaublich gewalttätig. Der Elch rammt das Geweih immer wieder hart
       gegen einen Baum. Es wirkt, als kämpfe er mit sich selbst, es fließt Blut.
       Aber dann, plötzlich, ist er befreit und stapft friedlich in den Wald.
       
       Was fasziniert Johanna daran? 
       
       Ich glaube, sie identifiziert sich mit dieser Gewalttätigkeit und Wildheit.
       Auch sie rennt ja mit dem Kopf gegen ein Problem. Vielleicht wünscht sie,
       auch sie könnte loswerden, wovon sie besessen ist. Denn das gelingt ihr nur
       zum Teil. Immerhin begräbt sie eine Kiste mit alten Zeichnungen ihrer
       Mutter im Wald.
       
       Aber die Wunde ist noch da. 
       
       Ja. Aber sie hat ihr Bestes versucht. Ich denke, sie hat resigniert und den
       Nicht-Dialog akzeptiert. Sie hofft nicht mehr, und das befreit. Denn es ist
       anstrengend, immer wieder an eine verschlossene Tür zu klopfen und immer
       aufs Neue enttäuscht zu werden, weil niemand öffnet.
       
       25 Oct 2023
       
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