# taz.de -- Missbrauchsbeziehung mit dem Lehrer: Schweigen heißt Ja
       
       > Als Teenager geht Marina ein Verhältnis mit ihrem Lehrer ein. Jahre
       > später wird ihr klar: Es war Missbrauch, sie nicht sein einziges Opfer.
       
       Dass meine erste Beziehung ein Missbrauch war, habe ich erst nach 12 Jahren
       verstanden. Es war keine plötzliche Erkenntnis, sondern eine langsame,
       eine, die einsickerte, immer wieder aufgehalten durch Zweifel, meistens an
       meiner eigenen Urteilskraft. Doch an den Moment, in dem das Bild meiner
       Beziehung zu meinem Schullehrer Risse bekam, erinnere ich mich genau.
       
       Es ist ein Tag im September 2011, ich schreibe Alina*, eine seiner
       Schülerinnen, eine Nachricht: Wie gut versteht sie sich mit ihm? Ich bin
       aus der Schule raus, studiere seit Kurzem, habe keinen Kontakt mehr zu ihm,
       aber in meinem Kopf ist er noch immer und es geht mir nicht gut. „Wir sind
       zusammen“, schreibt Alina zurück, „seit einem halben Jahr“.
       
       Ich rechne nach – sie war noch keine 14 Jahre alt, als das, was Alina als
       Beziehung bezeichnet, begonnen hat. Nun ist klar, was ich ahnte, und wovor
       ich mich so gefürchtet hatte: Alina ist sein neues Opfer. Von meinem
       Gesicht rinnen Tränen auf die Tastatur meines Computers. Ich tippe eine
       Antwort: „Wir müssen uns dringend treffen“.
       
       An diesem Tag, vor fast 12 Jahren, beginnt die Aufarbeitung jener
       Ereignisse in meiner Jugend, für die ich mir lange Zeit selbst die Schuld
       gab. Eine Jugend, in der meine Grenzen von einem erwachsenen Mann in einer
       Machtposition so verschoben wurden, dass [1][ich darin keinen Missbrauch
       erkannte]. Eine, meine Geschichte, über die ich lange schwieg und die ich
       jetzt bereit bin zu erzählen, um jenes Schweigen zu brechen, das Täter
       schützt und Betroffene sich selbst überlässt.
       
       Dieser Text beruht überwiegend auf Erinnerungen. Aus Schmerz und
       Selbstschutz habe ich vor einigen Jahren alle Chat-Nachrichten und SMS
       zwischen mir und meinem Lehrer gelöscht. Es gibt jedoch Belege für [2][sein
       sexualisierendes und manipulatives Verhalten] gegenüber Mitschülerinnen in
       Postings und Online-Kommentaren, Fotos, die eine ungewöhnliche körperliche
       Nähe zu mir und anderen Schülerinnen zeigen, sowie Zeugnisse weiterer
       Betroffener, die die taz geprüft hat.
       
       Zu ihrem Schutz und meinem sind alle Namen in diesem Text anonymisiert,
       auch meiner und der des Lehrers. Die wahren Namen sind der Redaktion
       bekannt, ihre Identität wurde verifiziert. Die taz hat den Lehrer mit den
       Vorwürfen, die ich ihm gegenüber erhebe, konfrontiert.
       
       ## Der neue Lehrer
       
       Meine Geschichte beginnt in Belarus, dort komme ich her. Der Ort spielt
       hier jedoch keine Rolle, denn Missbrauch kennt keine geografischen Grenzen.
       Als ich 2010 die 11. Klasse besuche, kommt er an unsere Schule: der neue
       Deutschlehrer.
       
       Ich bin 16 Jahre alt, eine Außenseiterin mit guten Noten, oft fühle ich
       mich einsam. Trotzdem bekomme auch ich mit, dass alle über ihn reden, den
       27-jährigen Herrn Kirill Danilow. Mittelgroß, Brille, ein Anzug mit zu
       breiten Hosenbeinen und einem zu kurzen Kragen. Er scheint immer in Eile zu
       sein, Stirn nach vorne, kleine, schnelle Schritte.
       
       Wenige Wochen später sitze ich mit ein paar anderen zusammen in einer Art
       Spezialunterricht. Wir bereiten uns auf den nationalen Deutschwettbewerb
       vor. Herr Danilow ist unser Lehrer. Er wirkt nun entspannter, trägt
       lässig-sportliche Kleidung, macht Witze und spricht akzentfrei Deutsch.
       Sein Unterricht ist anders als alles, was wir bisher kannten. Er bringt uns
       Umgangssprache bei, verliert kein Wort über Schiller und Goethe. Wir lachen
       viel, wir mögen ihn.
       
       Eines Tages spricht er mich nach dem Unterricht an. Wir bleiben allein im
       Raum, er gibt mir Tipps, wie ich mich besser auf den Wettbewerb vorbereiten
       kann, macht Witze und berührt mich dabei gelegentlich. Es sind keine
       flüchtigen Berührungen, die irritieren. Hier ein fester ermutigender Griff
       an die Schultern, da ein beruhigendes Tätscheln auf den Rücken, alles bloß
       etwas zu lang und zu oft. Ich nehme das wahr, mache mir aber nichts daraus.
       Er ist eben kein gewöhnlicher Lehrer, er spricht mit uns auf Augenhöhe.
       
       Am selben Abend bekomme ich eine Freundschaftsanfrage von ihm im Sozialen
       Netzwerk Vkontakte, einer russischen Alternative zu Facebook. Das
       schmeichelt mir, ich akzeptiere die Anfrage. Sofort bekomme ich eine
       Chat-Nachricht. Er witzelt herum, zieht mich auf, ich necke zurück. Viele
       unserer zukünftigen Gespräche werden dieser Dynamik folgen. Und in vielen
       kokettiert er mit unserem Altersunterschied.
       
       Täglich verbringe ich mehrere Stunden online. Auch in der Schule suchen wir
       häufiger Kontakt zueinander, in den Pausen, nach dem Unterricht. Er schlägt
       vor, dass wir uns duzen. Ich weiß, das gilt nur, wenn wir allein sind.
       
       Irgendwann ruft er mich nach der Schule an, von da an telefonieren wir
       beinahe jeden Tag. Ab und zu hört er am Telefon, wie meine Eltern im
       Hintergrund streiten. Dann lege ich auf. Er bekommt mit, dass ich meinen
       Vater selten nüchtern sehe, dass meine Eltern seit Jahren geschieden sind,
       aber es sich nicht leisten können, auseinander zu ziehen. Dass ich gerne
       länger in der Schule bleibe, weil es dort ruhiger ist als in der
       Zwei-Zimmer-Wohnung, in der wir zu viert wohnen. Kurz: Dass ich verletzlich
       bin.
       
       Ich erzähle und er hört zu, und andersherum, auf Augenhöhe, so fühlt es
       sich an. Noch nie hat mir ein Mann so viel Aufmerksamkeit geschenkt und
       sich so geöffnet, geschweige denn ein Lehrer. Ich fühle mich besonders.
       Immer wieder sagt er, ich sei viel zu klug für eine 16-Jährige. Von
       Erwachsenen höre ich das nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal ist der
       Erwachsene – mein Freund. Zum ersten Mal macht mich das Klugsein nicht zum
       Out-, sondern zum Insider.
       
       Um mehr über typische Verhaltensmuster von Tätern und Betroffenen von
       Missbrauch zu erfahren, habe ich Jahre später mit der Psychotherapeutin und
       Sexologin Jewgenija Smolenskaja gesprochen, die mit beiden Gruppen
       arbeitet.
       
       Sie sagt, in der Psychologie bezeichnet man im Bereich der Pädokriminalität
       den engen Kontakt, der damals zwischen mir und meinem Lehrer entsteht, als
       Grooming. Das englische Wort bedeutet wörtlich übersetzt „Pflegen“ und wird
       im Zusammenhang mit Tieren oder Nutzgegenständen benutzt. Im Kontext von
       Missbrauch meint er jedoch das langsame Sich-Annähern eines Erwachsenen an
       ein Kind oder an Jugendliche, das gezielte Aufbauen einer vertraulichen
       Beziehung, um sie so zu sexuellen Handlungen zu bringen.
       
       „Es ist relativ einfach, Kinder und Jugendliche zu beeindrucken“, sagt
       Smolenskaja, „deswegen bekommen die Täter ziemlich schnell eine emotionale
       Antwort von ihnen.“ Zu erkennen, ab wann es zum offensichtlichen Missbrauch
       kommt, sei schwer, weil insbesondere Jugendliche sich verlieben und ab
       einem gewissen Zeitpunkt diesen Kontakt selbst suchen können.
       
       Damals habe ich keine Ahnung, was [3][Grooming] bedeutet, aber in jedem
       unserer Gespräche spüre ich eine Doppeldeutigkeit, die mich in Verlegenheit
       bringt. Sätze wie „Niemand liebt mich“ und „Ich bin ja nur ein Lehrer für
       dich“, nach denen er stumm wird und ich das Gefühl habe, ihm zu
       widersprechen, gut zureden, ihn auffangen zu müssen. Ich bin verunsichert.
       In meinen Antworten weiche ich meistens irgendwie aus oder mache alles zum
       Witz: „Kein Wunder, so eine Nervensäge wie dich kann man nur schwer lieben,
       Grinse-Smiley“.
       
       So ungefähr geht dieses Ping-Pong weiter, bis ich eines Tages eine
       Nachricht bekomme, die alles verändert: „Ich liebe dich.“
       
       Ich sitze zu Hause in der Küche und starre auf die drei Wörter auf dem
       kleinen Bildschirm meines Handys. Ich klappe es zusammen und auf, zusammen
       und auf. Ich gucke aus dem Fenster, es schneit. Ich antworte nicht und lege
       das Handy weg.
       
       ## Die Entscheidung
       
       Später am Abend ruft er mich an, sagt, ich solle mich nicht unter Druck
       gesetzt fühlen. Er werde bald fast einen Monat lang auf einer
       Schulexkursion sein, und ich hätte Zeit, eine „Entscheidung“ zu treffen.
       Was er damit meint, eine Entscheidung treffen, führt er nicht aus. Nur
       soviel: Wenn er zurückkomme, würde ich nichts sagen müssen. Ich solle ihm
       einfach in die Augen sehen – er werde dann alles verstehen. Ich bin 16, ich
       finde das romantisch.
       
       Doch der Kontakt bricht während dieser Zeit nicht ab. Wir telefonieren,
       jeden Tag, manchmal stundenlang. Nur eins scheint meinem Leben noch
       Struktur zu geben – der Klingelton meines Handys. Wir reden viel über meine
       Familie. Er beruhigt mich, wenn es zu Hause mal wieder kracht, und sagt, es
       sei nicht meine Schuld. Er hört zu – und immer öfter bin ich es nun, die
       ihn anruft.
       
       Irgendwann sagt er fast beiläufig, dass er während unserer Gespräche
       manchmal masturbiere. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin
       angewidert, aber ich will auch nicht kindisch oder unerfahren wirken, also
       schweige ich. Wie genau die Unterhaltung weitergeht, erinnere ich nicht
       mehr.
       
       Über Sex wird in meiner Familie nur eins gesagt: dass er in der Ehe
       stattfinden soll. [4][In der Schule beschränkt sich die Sexualaufklärung]
       auf Horror-Geschichten über Geschlechtskrankheiten. Persönlich habe ich
       zwei oder drei Pornofilme gesehen, das war's. Erst durch ihn verstehe ich,
       dass das, was ich manchmal mit meinem Körper mache und wofür ich – einmal
       von meiner Mutter erwischt – gerügt wurde, Selbstbefriedigung ist. Von ihm
       zu hören, dass das völlig okay ist, fühlt sich befreiend an.
       
       Er füttert mich mit Wissen, das ich aufsauge wie ein Schwamm und nicht
       hinterfrage. Ich lerne das Wort frigide und dass es ganz schlimm sei, wenn
       eine Frau so ist. Er doziert, dass Frauen im Intimbereich glatt rasiert
       sein müssten, denn es gebe nichts Ekligeres als Haare dort.
       
       Welche Unterwäsche ich gerade anhabe, fragt er mich einmal. Ich gucke in
       meine Hose – pastellfarben, Baumwolle, loser Faden – und antworte: schwarz,
       Spitze. Es ist mir unangenehm, aber ich will nicht das frigide Mädchen
       sein, nicht für ihn.
       
       Als er von der Reise zurückkommt, weiß ich immer noch nicht, was ich ihm
       auf seine Liebesbekundung antworten soll. Einerseits macht mir die
       Vorstellung von einem Leben ohne unsere Gespräche Angst. Gleichzeitig fühlt
       es sich nicht gut an, immer wieder von ihm an meine persönlichen Grenzen
       getrieben zu werden und darüber hinaus. Als wir uns wieder im Schulkorridor
       treffen, schaue ich ihm schweigend in die Augen. Er nickt, kaum bemerkbar.
       Schweigen heißt ja.
       
       Damit beginnt der Abschnitt, den ich auch viele Jahre nach seinem Ende noch
       als Beziehung bezeichnen werde. Diese Beziehung in Anführungsstrichen
       entwickelt sich hauptsächlich innerhalb der Schule. Wir verbringen immer
       mehr Zeit miteinander. Wenn ich schon Schul-Aus habe, sitze ich bei ihm im
       Klassenzimmer, auch wenn er gerade noch andere Klassen unterrichtet. Seine
       Schüler*innen stellen keine Fragen, genauso wenig wie die Lehrer*innen,
       die ab und zu reinkommen.
       
       War es mein Ruf der Schulbesten, der sie ablenkte, die Angst vor der
       Erkenntnis, vor dem Tabubruch, der sie zu unbequemem Handeln gezwungen
       hätte, oder war es Gleichgültigkeit, die die Lehrer*innen schweigen
       ließ? Bis heute habe ich darauf keine Antwort.
       
       Woche für Woche reizt er die Verbotenheit unseres Verhältnisses weiter aus,
       küsst mich unerwartet in einem leeren Flur, streichelt beim Vorbeigehen
       flüchtig meinen Nacken, ruft mich im Unterricht zu seinem Tisch und greift
       mir darunter zwischen die Beine. Jedes Mal falle ich vor Angst fast um, und
       genieße es.
       
       ## Höhen und Tiefen
       
       Nach drei Monaten verändert sich etwas. Er kommt verkatert in den
       Unterricht. Ich kenne diesen Geruch gut, dezent säuerlich und bitter. Als
       der Unterricht beginnt, gibt er mir Aufgaben, die ich nicht lösen kann. Er
       sagt nur „Schlecht“ und fragt die anderen etwas Leichtes. „Was ist nur mit
       ihm los?“, höre ich hinter mir jemanden flüstern. Am Ende schreibt er ein
       Sprichwort auf die Tafel, das wir lernen sollen: „Verbotene Früchte sind
       süß“. Er dreht sich um und schaut mich an, ich senke den Blick.
       
       In den nächsten Tagen ist er wortkarg und formell mit mir, aber gesellig
       mit den anderen Mädchen. Was mache ich falsch? Meine Unsicherheit wächst.
       In diesen Tagen sehe ich oft eine Achtklässlerin sein Klassenzimmer
       verlassen, in den Pausen quatschen sie, ich sehe mich selbst in diesem
       Mädchen. Mir wird mulmig. Am Telefon spreche ich ihn darauf an, und bereue
       es sofort: Er wird laut, sagt, ich verhalte mich kindisch, und legt auf.
       
       In den nächsten Tagen kann ich ihn nicht erreichen. Ich habe Angst, ihn zu
       verlieren und mache mir Vorwürfe: Wie konnte ich nur denken, dass zwischen
       ihnen etwas ist? Sie ist ja noch ein Kind. Sie ist 13, ihr Name ist Alina.
       Sie ist das Mädchen, das ich etwa ein halbes Jahr später anschreiben werde.
       
       Das, was zwischen mir und dem Lehrer ist, fühlt sich nun an wie eine
       Achterbahnfahrt: in einem Moment kitzelt es angenehm im Bauch, im nächsten
       kotzt man. Wir streiten öfter, danach ignoriert er mich. Ich fühle mich
       bestraft und suche den Fehler bei mir, bis da wieder Nähe ist zwischen uns
       und die Fahrt von vorne beginnt.
       
       An einem frühlingshaften Abend besuche ich meine Oma auf dem Land. Er ruft
       mich an. Von dem folgenden Gespräch habe ich kein klares Bild mehr, es ist
       überbelichtet, durch einen Satz, der wie ein Blitz einschlägt: „Ich stehe
       auf dem Dach eines Hochhauses – wenn du nicht sofort kommst, springe ich
       herunter.“ Ich rede auf ihn ein, dass ich nicht in der Stadt bin, dass der
       nächste Bus erst am nächsten Morgen fährt, flehe ihn an, vom Dach
       herunterzukommen.
       
       Irgendwann sagt er, er sei zu Hause. Ich verspreche, morgen zu ihm zu
       kommen. Wir legen auf. Ich bin außer mir. Warum tut er das?
       
       Als wir uns am nächsten Tag treffen, nimmt er mich mit auf eine Party bei
       Freunden. Sie sind alle um die 30. Er schenkt mir einen Wodka ein, ich soll
       mich ein bisschen entspannen. Ich lehne ab. Später sind wir in einem leeren
       Zimmer – nur er, ich und der starke säuerlich-bittere Geruch. Als er mir
       seine Hand in die Unterhose schiebt, löse ich mich von ihm und springe zur
       Tür. Er lässt mich gehen. In den nächsten Tagen ignoriert er mich wieder.
       
       Und dann steht er plötzlich vor meiner Wohnungstür, ein blauer Luftballon
       in der Hand – er weiß, dass ich übers Wochenende allein zu Hause bin. Ich
       lasse ihn rein. Er redet viel, von unserer gemeinsamen Zukunft und davon,
       wie sehr er mich liebt. Doch er macht nichts, er küsst mich nicht einmal.
       Ich bin erschöpft, denke: Nochmal so einen Achterbahnlooping schaffe ich
       nicht mehr. Aber ich habe Angst, wieder tagelang ignoriert zu werden, und
       sage: „Ich will, dass du mein Erster bist.“
       
       Er geht duschen. Danach sagt er, er wolle keinen penetrativen Sex, das
       überrascht mich. Es kommt zum Oralsex, zu dem ich mich noch weniger bereit
       fühle. Währenddessen liege ich auf der Couch, bin froh, dass das Licht aus
       ist und weine still.
       
       Als er am nächsten Morgen gehen will, dämmert es noch. Er zieht sich
       schnell an, lehnt einen Kaffee ab und guckt durch den schmalen Türspalt,
       bevor er die Wohnung verlässt. Ich spüre: Die erste gemeinsame Nacht hat
       die Achterbahnfahrt nicht enden lassen.
       
       Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft er noch verschwand und wieder
       auftauchte, mich zu sich rief und dann abwies. Aber gegen Ende des
       Schuljahres ist es vorbei. Der Deutschwettbewerb liegt hinter uns, ich habe
       keinen Unterricht mehr bei ihm. Die heimlichen Treffen, die Anrufe, die
       Liebeserklärungen – alles nimmt ein Ende. In den Schulkorridoren macht er
       kehrt, wenn er mich sieht. Er beantwortet meine Anrufe nicht mehr, ein
       klärendes Gespräch bleibt aus. Alles endet im Schweigen, so wie es auch
       begonnen hat.
       
       Seine Gleichgültigkeit tut weh. Er hat in mir das Gefühl gesät, wertvoll zu
       sein, ließ es wachsen und nun, als es anfing zu blühen, reißt er es an der
       Wurzel aus. Ich fühle mich benutzt und weggeschmissen.
       
       ## Blick in den Abgrund
       
       In der Schule hat sich über die Zeit die Erzählung verbreitet, ich hätte
       mich in den Deutschlehrer verliebt, unerwidert natürlich. Jahre später höre
       ich von jemandem, auch er selbst hätte das herum erzählt. Schlaue Taktik,
       denke ich.
       
       Damals bin ich nicht fähig zu definieren, was ich spüre. Wut, Enttäuschung,
       Trauer? Es ist ein diffuser wiederkehrender Schmerz, der meine Brust packt
       und mich nicht atmen lässt. Ich weine viel.
       
       Einmal nehme ich die Rasierklinge und führe sie ans Handgelenk. Ich fühle
       mich wie ein Luftballon, der kurz vor dem Platzen ist. Ich will das Platzen
       beschleunigen, will verschwinden, unbemerkt, als hätte es mich nie gegeben.
       Ich stelle mir das Danach vor – den Schmerz meiner Eltern, das
       Kopfschütteln der Lehrer, die Erzählungen, ich hätte das wegen der
       unerwiderten Liebe zum Lehrer gemacht. Das will ich nicht.
       
       Dann bekomme ich die ersten Fressanfälle. Ich stopfe mich voll, meistens
       mit Süßigkeiten, und fühle mich wieder gut, fast glücklich, für einen
       kurzen Moment. Danach überwältigt mich die Scham und die Angst, dick zu
       werden. Also beuge ich mich über die Kloschüssel, stecke mir zwei Finger
       tief in die Kehle. Ich finde darin einen Weg, mit dem Trauma umzugehen.
       Dass dieser Weg gefährlich ist, ist mir nicht bewusst. Von Bulimie habe ich
       nie gehört.
       
       Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu, im Juni 2011 mache ich mein Abitur
       und ziehe zum Studieren weg. Im September haben er und ich nochmal Kontakt.
       Danach scanne ich stundenlang sein Onlineprofil. Fast ausschließlich
       Schülerinnen kommentieren seine Posts und Bilder.
       
       Alina, die jetzt in der neunten Klasse und 14 Jahre alt ist, fällt mir
       besonders auf. Es ist jener Moment, in dem sich der Verdacht verfestigt,
       dass ich nicht die einzige Schülerin im Leben meines Deutschlehrers bin.
       Ein Wendepunkt, der Keim einer Erkenntnis. Ich schreibe Alina an, sie sagt,
       sie und der Lehrer seien in einer Beziehung. Wir verabreden uns. Das
       Treffen läuft nicht so wie erwartet.
       
       Alina wirkt überrascht, sogar misstrauisch, als ich ihr erzähle, was ich
       mit ihm hatte. Sie sagt etwas wie: „Mit mir ist alles anders, mit mir meint
       er es ernst.“ Sie spricht offen über ihre sexuellen Erfahrungen mit ihm und
       wirkt stolz. Ich hatte gedacht, ich würde sie warnen, und komme mir dumm
       vor. Nach dem Gespräch drehen meine Gedanken Kreise: Hat sie Recht? War ich
       einfach nicht gut genug für ihn? Schließlich hat er keine von uns zu etwas
       gezwungen…
       
       Meine Fressanfälle werden wieder mehr. Heute weiß ich, warum. Ich fühlte
       mich nicht ernst genommen, und zwar von der Person, die – wie ich dachte –
       mich am allerbesten verstehen würde: einer Betroffenen. Klar, sie war noch
       ein Kind und, wie sie behauptete, verliebt. Etwas später werde ich als
       Erwachsene ähnlich reagieren.
       
       Als im Jahr 2017 die MeToo-Bewegung entsteht, bin ich skeptisch gegenüber
       den lauten Frauen. Ich frage mich, warum sie so lange geschwiegen haben,
       und statt zu erkennen, dass ich eine von ihnen bin, dass auch ich
       [5][missbraucht worden] war und schwieg, reagiere ich mit Ablehnung und
       Misstrauen, ein Akt der Selbstsabotage.
       
       Ab wann ist ein Opfer ein Opfer? Erst wenn es sich selbst als solches
       sieht? Die Psychotherapeutin und Sexologin Jewgenia Smolenskaja sagt, ein
       Missbrauch müsse nicht immer traumatisch enden. Doch das bedeute nicht,
       dass es keiner war.
       
       Etwa ein Jahr nach dem Gespräch mit Alina lösche ich alles, was mich an ihn
       erinnert: den Chatverlauf, die SMS, seine Handynummer. Nur an einem halte
       ich fest, dem Glauben, eine echte, erwachsene Beziehung gehabt zu haben,
       mit meinem Lehrer. Langsam fühle ich mich besser, die Bulimie geht zurück,
       die Suizidgedanken bleiben aus.
       
       Nur manchmal schaue ich mir noch seine Social Media-Profile an, die Bilder
       von ihm mit jungen Schülerinnen und das gegenseitige Necken in den
       Kommentaren. Immer wieder legt er neue Accounts an. Ich finde das
       auffällig. Aber mehr weiß ich nicht damit anzufangen.
       
       Mit 21 treffe ich eine alte Bekannte aus der Schule. Wir denken an unsere
       Schulzeit zurück. Sein Name fällt, in welchem Zusammenhang erinnere ich
       nicht mehr. Sie erzählt, auch sie und unser Lehrer hätten mal geknutscht,
       zu mehr sei es nicht gekommen. Die Gedanken kehren zurück, an die
       Schülerinnen, die er gerade unterrichtet, alle gerade mal 14. Zum ersten
       Mal lasse ich die Frage zu: Was wäre, wenn das Schweigen ein Ende hätte?
       Ich entscheide mich, zur Polizei zu gehen. Doch davor will ich mit meiner
       Mutter reden.
       
       ## Die Aufarbeitung
       
       Bei einem Besuch sitze ich bei ihr in der Küche – Mama hobelt den Weißkohl.
       Als ich ihr sage, dass dieser Freund damals, den ich in der 11. Klasse
       hatte, mein Lehrer war, hört sie auf zu hobeln und alles ist ganz still.
       Ich habe sie auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. Ich will ihr alles
       erzählen, bis zum letzten Detail. Ich will, dass sie mich danach umarmt und
       wir zusammen weinen. Doch sogleich schäme ich mich, habe Angst, sie zu
       enttäuschen, nicht mehr die brave Tochter zu sein. „Keine Sorge, wir hatten
       nichts“, füge ich hastig hinzu.
       
       Sie atmet auf und wendet sich wieder dem Kochtopf zu, als gäbe es nun
       nichts mehr zu besprechen. Ich fasse Mut und setze nochmal an: „Ich will
       aber zur Polizei gehen.“ Meine Mutter schaut mich erschrocken an. „Bitte,
       mach das nicht, denk an dich selbst. Wozu brauchst du zermürbende
       Vernehmungen, lange Gerichtsverhandlungen und böses Gerede?“
       
       Im Nachhinein wundert es mich nicht. Auch meine Mutter hat als Kind Gewalt
       erfahren, so wie auch ihre Mutter, es zog sich durch die Familie. Nur
       selten sprachen sie darüber. Das Gespräch mit meiner Mutter endet, bevor
       das Essen fertig gekocht ist. Am nächsten Morgen fahre ich wieder zurück in
       die Stadt, in der ich studiere. Zur Polizei bin ich nie gegangen.
       
       Heute kann ich nichts mehr tun, mein Fall ist verjährt. Doch auch damals
       hätte eine Anzeige vermutlich nicht zum Erfolg geführt. Sexuelle Handlungen
       mit Kindern unter 16 Jahren gelten in Belarus als Missbrauch und sind
       strafbar. Ich war bereits 16 und galt somit in Fragen des Sexuallebens als
       Erwachsene. Dass er mein Lehrer war, spielt keine Rolle. Moralisch sei das
       zwar fraglich, aber nicht gesetzeswidrig, da der Kontakt einvernehmlich
       gewesen sei, sagt mir ein belarussischer Jurist, den ich während der
       Entstehung dieses Textes um eine Einschätzung gebeten habe.
       
       Die Psychotherapeutin Jewgenia Smolenskaja wiederum sagt, man könne hier
       nicht von Einvernehmlichkeit sprechen, weil sich Schüler*innen immer in
       einem Machtungleichverhältnis zu ihrer Lehrkraft befänden. „Der Lehrer
       trägt die Verantwortung, keine Grenzen zu überschreiten. Die Schülerin kann
       diese Verantwortung nicht tragen.“
       
       ## Endlich reden
       
       Im Herbst 2022, sieben Jahre nach dem Gespräch mit meiner Mutter, habe ich
       einen Videocall mit meinen Freundinnen. Wir reden sechs Stunden, bis in die
       Nacht hinein. Zum ersten Mal erzähle ich von der Sache mit meinem Lehrer,
       von Anfang bis Ende. Und das löst in mir etwas aus.
       
       In den letzten sieben Jahren habe ich [6][viel über sexualisierte Gewalt
       gelesen] und Geschichten wie meine gehört. Ich lernte meinen Mann kennen
       und erfuhr, was eine gesunde Beziehung ist. Meine Selbstwahrnehmung hat
       sich verändert, und ich habe keinen Zweifel mehr: Mein Deutschlehrer hat
       mich manipuliert und missbraucht. Und das war nicht meine Schuld. Noch
       immer sind da diese Fragen, nur lauter: Wie viele Mädchen wie mich gab es
       noch? Und wie kamen sie damit zurecht?Kamen sie zurecht?
       
       Ich beschließe, sie zu suchen und zu kontaktieren.
       
       Zuerst erstelle ich eine Liste von Mädchen, heute jungen Frauen, von denen
       ich glaube, sie könnten auch betroffen sein. Weil ich mich an Situationen
       in der Schule erinnere oder irgendwann einmal Bilder von ihnen auf seinen
       Social-Media-Profilen gesehen habe. Dann suche ich. Stundenlang scanne ich
       die alten und neuen Accounts meines Lehrers, durchforste die Profile seiner
       Schülerinnen.
       
       Irgendwann stoße ich auf ein Mädchen von damals, Katja, fünf Jahre jünger
       als ich. Ich erkenne ihr Gesicht auf einem Bild, diesen melancholischen
       Ausdruck. Ich habe es öfter auf seinen Profilen gesehen. Sie ist auf meiner
       Liste. Tagelang überlege ich, wie ich sie anschreiben soll, wie ich sie,
       die mich nicht kennt, fragen kann, ob sie das [7][Opfer eines Missbrauchs]
       ist. Überschreite ich da nicht eine Grenze? Schließlich überwinde ich mich
       und schicke ihr eine Nachricht: „Hallo Katja. Es könnte sein, dass du mich
       für verrückt hältst, wenn du diese Nachricht gelesen hast…“.
       
       Mir wird kalt, ich zittere. Ein Teil von mir wünscht sich, dass ich mich
       geirrt habe, der andere hat genau davor Angst. Zwei Tage später antwortet
       sie: „Ich halte dich nicht für verrückt und es tut mir sehr leid, dass du
       auch davon betroffen warst“. Ich bin erleichtert und dankbar für ihr
       Vertrauen, gleichzeitig wütend und traurig. Wir verabreden uns im Februar
       2023 an ihrem Wohnort, auch sie lebt nicht mehr in Belarus. Am Bahnhof
       umarmt sie mich, meine Aufregung verschwindet.
       
       „Er stahl drei Jahre meiner Jugend“, sagt sie, als wir in einem Restaurant
       sitzen. Ich rechne nach: Es begann mit Katja, als es mit Alina noch nicht
       vorbei war. Es begann mit Alina, als es mit mir noch dauerte. Immer eine
       Überlappung, immer ein abruptes Ende mit dem Schulabschluss.
       
       Trotz vieler Ähnlichkeiten mit meiner Geschichte fällt mir eine Entwicklung
       auf. Er wurde älter, seine Opfer blieben aber zwischen 14 und 16. Der
       wachsende Altersunterschied machte es schwerer für ihn, das Verhältnis zu
       seinen Schülerinnen ihnen gegenüber als Liebesbeziehung zu verkaufen.
       
       Katja bestätigt das, für sie sei es das nie gewesen. Wenn sie zu sexuellem
       Kontakt Nein sagte, sei er kalt geworden, habe damit gedroht, Drogen zu
       nehmen oder zu trinken, und sie gab nach. „Ich habe mich für sein Leben
       verantwortlich gefühlt. Deswegen ließ ich es mit mir machen. Mir ging es
       schlecht danach, aber ich versuchte, nicht weiter daran zu denken“, erzählt
       sie.
       
       Über die Art des sexuellen Kontakts will Katja nicht reden. Sie ist noch in
       Therapie. Es gehe ihr viel besser, aber die Erinnerungen seien schmerzhaft.
       Sie habe vor allen verheimlicht, was sie erlebt habe. „Er hat mir die
       schönsten Lebensjahre versaut, ich will ihm nicht noch mehr davon geben“,
       sagt sie.
       
       Als ich mir auf der Rückfahrt im Zug Notizen zu unserem Treffen mache, wird
       mir übel. Ich renne aufs Klo und übergebe mich. Auch zu Hause, beim
       Schreiben dieses Textes, passiert mir das einmal. Ich kenne diese Reaktion
       meines Körpers auf Stress und bindennoch überrascht. Ich habe das Trauma
       verarbeitet, es definiert mich nicht mehr. Aber beim Schreiben wird mir
       klar, dass ich damit wahrscheinlich nie wirklich Frieden finden kann.
       
       Nach dem Treffen mit Katja habe ich weitere Frauen kontaktiert. Neben
       meinem Fall sind mir fünf weitere Missbrauchsfälle bekannt.
       
       In unserer Schule arbeitet er nicht mehr. Soweit ich weiß, gibt er
       Privatunterricht bei sich zu Hause, und das alarmiert mich noch mehr. Jedes
       Mal, wenn in Belarus Männer verhaftet werden, die Missbrauch an
       Schülerinnen begangen haben sollen, vergleiche ich die in den
       Nachrichten angegebenen Personendaten und stelle fest: Er ist es nicht.
       
       Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von
       Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe.
       Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner,
       anonym. Rufnummern: (0800)1110111 und (0800) 1110222.
       
       21 Nov 2023
       
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