# taz.de -- Autor über die Welt als Familie: „Alle Menschen haben Eltern“
       
       > Der britische Journalist Simon Sebag Montefiore hat eine Weltgeschichte
       > als Familiengeschichte geschrieben. Im Gespräch erzählt er, wie er darauf
       > kam.
       
 (IMG) Bild: Harun al Raschid empfängt fränkische Gesandte. Gemälde von Julius Köckert, 1864
       
       taz: Herr Montefiore, Sie sind Bestsellerautor und bekannt für Ihre
       historischen Bücher zur russischen Geschichte. War Ihre Motivation, jetzt
       eine Globalgeschichte mit dem Titel „Die Welt“ zu schreiben, die eines
       staunenden Kindes oder die eines Diktators, der die Welt beherrschen will? 
       
       Nette Idee. Aber nichts davon trifft zu. Ich wollte die Geschichte der Welt
       so erzählen, dass man nichts über sie wissen muss, um sie zu verstehen.
       Dass man nicht von fremden Namen und entfernten Orten eingeschüchtert ist.
       
       Ihr Buch hat im Deutschen 1.500 Seiten. Sie sind zuversichtlich, dass sich
       Leser*innen davon nicht einschüchtern lassen? 
       
       Es ist in der Tat ein Türstopper. Aber übertreiben wir es nicht. Mein Buch
       ist auch nicht dicker als insgesamt zwei Biografien. Noch dazu so
       geschrieben, dass man versteht, wie all die verschiedenen Orte und Personen
       auf der Welt zusammengehören. Mit einem Wort: leicht konsumierbar.
       
       Leicht konsumierbar steht in Deutschland immer sofort unter Verdacht.
       [1][Auch Ihre Biografie „Der junge Stalin“ brachte deutsche Historiker und
       Kritiker zum Naserümpfen.] Statt historischer Analyse würde es menscheln. 
       
       Ja, aber dieses Naserümpfen ist keine deutsche Spezifität. Und trotzdem
       großer Quatsch. Selbstverständlich habe ich den Ehrgeiz, so nah wie möglich
       an die Wahrheit heranzukommen und das auf Grundlage des neuesten
       wissenschaftlichen Forschungsstands. Aber genauso ehrgeizig bin ich darin,
       das Ganze so schön wie ich kann aufzuschreiben.
       
       Sie haben aber auch ganz schön prominente Leser*innen. Wladimir Putin soll
       von Ihrem 2014 erschienenen Buch über die [2][Zarendynastie „Die Romanows“]
       geradezu begeistert gewesen sein. 
       
       Ja, seine Mitarbeiter erzählten mir, dass er erst über die Lektüre
       verstanden hätte, auf welche Weise die Romanows die Ukraine und die Krim
       annektiert hatten. Zum Dank machte er mir das Angebot, in den
       Stalin-Archiven recherchieren zu können.
       
       Der Schriftsteller Stefan Zweig hat die beste Biografie über Maria Stuart
       geschrieben. Wie weit weg ist Ihr Sachbuch von einem Roman über die Welt? 
       
       Absolut weit weg. Mein Buch ist zwar schön geschrieben, wenn auch
       vielleicht nicht so schön wie das von Stefan Zweig. aber es gibt hier keine
       Formulierung von der Sorte: Ihr Herz klopfte, als sie zum Ball ging. Es sei
       denn, ich habe dafür eine Quelle gefunden, einen Brief, einen
       Tagebucheintrag, einen Zeugen.
       
       Sie haben nichts erfunden, aber vielleicht was gefunden? 
       
       Klar. Aber nicht im archäologischen Sinne. Aber bei einigen Dingen habe ich
       eine neue Sichtweise, einen neuen Gedanken zu den schon bestehenden
       hinzugefügt.
       
       Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine „Familiengeschichte der
       Menschheit“ zu schreiben? 
       
       Die Idee, die Geschichte der Welt anhand des Meers oder der Seidenstraße zu
       erzählen, gab es schon. Mein Buch kombiniert die Spanne der Weltgeschichte
       mit der Intimität der Biografie. Alle Menschen auf allen Kontinenten, in
       allen Zeiten, aller Herkünfte und aller Religionen haben Eltern. Natürlich
       ist Familie ein Konstrukt, eine gesellschaftliche Erfindung. Aber ob es nun
       zwei Väter gibt oder nur einen Samenspender, von zwei Menschen stammt man
       immer ab. Jeder ist also Teil einer Familie.
       
       Womit Sie nicht nur die Kleinfamilie meinen. 
       
       Nein. Familie kann repräsentiert [3][werden durch Clans, Stämme, Staaten],
       Reiche, Religionen, Ideen und Ideologien. Familien repräsentieren immer
       das, was gesellschaftlich grade so los ist: Geschlechterverhältnisse,
       Ökonomie und Arbeit. Sie können auch ein Finanzunternehmen repräsentieren
       wie in Deutschland [4][die Industriefamilie der Krupps.] Bis heute sind
       viele deutsche Firmen in Familienhänden, was auch eine politische Bedeutung
       hat. Familie nutze ich als Werkzeug, um die großen Entwicklungen zu
       erzählen, seien sie technologisch, kulturell, medizinisch oder was
       Migration betrifft.
       
       Was war die schlimmste Familie, der Sie begegnet sind? 
       
       Umso schlimmer sie sind, umso mehr Spaß macht es, über sie zu schreiben:
       Königsfamilien, die Napoleons, Händler wie die Medici oder moderne
       Diktatoren, wie die Erbschaftsdiktatur der Assads. Die Kims in Nordkorea
       aber stechen heraus: Sie besitzen Nuklearwaffen. Keine Familie war je so
       mächtig.
       
       In welcher Familie würden Sie gern leben wollen? 
       
       Am Hofe des Kalifen Harun al Raschid im 9. Jahrhundert in Bagdad.
       
       Warum? 
       
       Lesen Sie das Kapitel. Aber seien Sie darauf vorbereitet, schockiert zu
       werden. Von der kosmopolitischen Kultur, der sexuellen Libertinage, der
       Literatur, dem enormen Wissen über Kunst, Mathematik, Philosophie, den
       schönen Tanzmädchen, dem schwulen Sex und vielem mehr, was alles zeigt,
       warum Bagdad damals das Zentrum der Welt war.
       
       Warum haben Sie mit der sumerischen Prinzessin En-hedu-anna, die im 23.
       Jahrhundert vor Christus lebte, das Buch begonnen? 
       
       Das ist doch offenkundig: Sie war die erste weibliche Dichterin, von der
       wir wissen, weil sie die erste weibliche Autorin ist, die publiziert wurde.
       Sie war außerdem die erste Metoo-Aktivistin, da sie beschrieb, wie sie
       Opfer sexueller Gewalt wurde. Sie war die erste Prinzessin, von der wir
       überhaupt wissen. Als ich von ihr las, war mir schnell klar, dass in dieser
       Figur alles zusammenkam, was ich mit diesem Buch vorhatte. Ich wollte
       globaler, diverser und geschlechtergerechter sein als die
       Weltgeschichtshistoriker, die wir als Kinder gelesen haben.
       
       Das Problem ist, dass ich nach dem ersten Kapitel über En-hedu-anna gern
       mehr über sie gelesen hätte statt gleich etwas zur Mutter von Cheops, dem
       Erbauer des größten Bauwerks aller Zeiten. 
       
       Ich auch. Aber alles, was wir über En-hedu-anna wissen, steht in meinem
       Buch. Für eine eigene Biografie über sie reichen unsere Informationen
       leider nicht.
       
       In TV-Serien heißt es zu Beginn immer: „Was bisher geschah“. Wäre auch ein
       guter Titel für Ihr Buch: Dort wird in der Zusammenfassung jeweils erzählt,
       was wichtig ist für die kommende Episode. Wie haben Sie ausgewählt, was
       wichtig ist? 
       
       Es war ein Drahtseilakt. Und ich bin froh, dass ich so was nie wieder tun
       muss. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf, weil ich im Traum dachte,
       dass ich vergessen hatte, Jesus zu erwähnen. Natürlich gibt es Dinge und
       Personen, an denen kommt keine Weltgeschichte vorbei: die Dampfmaschine
       oder Kleopatra. Europäische Geschichte kann man nicht ohne die Familie der
       Habsburger schrieben. Da ich Spezialist für russische Geschichte bin,
       mussten auch die Romanows rein. Aber beispielsweise habe ich Kambodscha als
       Land ausgewählt, bei dem ich tiefer in die Geschichte eingestiegen bin,
       weil ich da war und nicht weil Thailand nicht interessanter gewesen wäre.
       Was Afrika betrifft, musste ich mich für Königreiche entscheiden.
       
       Und was Deutschland betrifft gegen Hitler.
       
       Ganz ohne Bismarck und Hitler geht es nicht. Ich entschied mich aber dafür,
       die Hindenburg-Familie zentraler zu beleuchten. Paul Ludwig Hans Anton von
       Beneckendorff und von Hindenburg, Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg
       und Reichspräsident bis 1934, war verantwortlich für die Fehler, die zur
       NS-Diktatur führten. Er hat Hitler als Reichskanzler eingesetzt, ist aber
       in der Geschichtsschreibung eine vergleichsweise vernachlässigte Figur.
       
       Aber ein Familienmensch? 
       
       Ja, ein typisch deutscher Junker, dessen Sohn, als er selbst alt wurde, für
       ihn die Verhandlungen führte und die Geschäfte leitete.
       
       Ist Geschichtsschreiber ein desillusionierender Job, weil alles schon da
       war und nichts besser wird? 
       
       Nein. Menschliche Geschichte verläuft nicht linear. Jede Ära nimmt Dinge
       der Vergangenheit auf, verarbeitet sie und fügt neue hinzu. Der Fortschritt
       der Geschichte ist also nicht zwingend ein Fortschritt für die Menschheit.
       
       Die Sklaverei abzuschaffen war sicher ein Fortschritt. Sie nennen die
       Sklaven in Ihrem Buch eine Anti-Familien-Institution. Warum? 
       
       Sklave sein heißt ja von seiner Familie entfernt zu werden. Die Familien
       der Sklaven wurden entzweit, ihre Namen geändert, ihre Religion, sie wurden
       in andere Länder verschleppt. Man gab ihnen ein komplett neues Leben, sie
       wurden Teil einer neuen Familie und gründeten neue Familien mit Leuten aus
       allen möglichen Ländern Afrikas. Auch die Geschichte der Sklaven zeigt das
       ganze Drama des menschlichen Lebens.
       
       Wie in einem Drama haben Sie Ihr Buch nicht in Kapitel, sondern in „Akte“
       unterteilt. Blöderweise hat aber jedes Drama auch ein Ende. 
       
       Die Welt wird eines Tages an ihr Ende kommen – so viel ist klar. Wir können
       nur hoffen, dass noch viele Akte auf uns warten.
       
       Ihr Buch ist also unvollendet? 
       
       Sicher. Ich wollte keinesfalls Gefahr laufen, ins Journalistische
       abzudriften. Journalismus muss ja immer urteilen und diese Urteile stellen
       sich oft genug als komplett falsch heraus. Deswegen hab ich das Buch auch
       beendet mit dem Tag, an dem der Ukrainekrieg begann.
       
       21 Nov 2023
       
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