# taz.de -- Angehöriger der Hamas-Geiseln: „Uns läuft die Zeit davon“
       
       > Noch immer hat die Hamas rund 230 israelische Geiseln in der Gewalt. Die
       > Angehörigen warten auf ein Lebenszeichen – wie der Historiker Yuval
       > Dancyg.
       
 (IMG) Bild: Yuval Danzyg (li) bei an einer Demonstration in Warschau vor dem POLIN-Museum am 27.10.2023
       
       POTSDAM taz | Es ist acht Uhr morgens, als Yuval Dancyg die ersten
       Nachrichten im Fernsehen sieht. An jenem 7. Oktober, vor genau einem Monat,
       realisiert der 42-Jährige, dass etwas Schreckliches vor sich geht.
       Hamas-Terroristen haben Kibbuzim nahe dem Gazastreifen angegriffen. Dancygs
       Familie lebt im Kibbuz Nir Oz. Er versucht seinen Vater, seine Schwester,
       seinen Schwager zu erreichen. „Es gab einen Terrorangriff“, heißt es in
       einer Nachricht an Yuval Dancyg. Dann bricht der Kontakt ab.
       
       Erst Stunden später wird klar: Zwölf Familienmitglieder haben wie durch ein
       Wunder überlebt, Alex Dancyg, Yuvals Vater, wurde von der Hamas nach Gaza
       verschleppt. Das letzte Lebenszeichen bekam die Familie vor mehr als drei
       Wochen. Seitdem wissen sie nicht, wo genau er sich befindet oder ob er
       überhaupt noch lebt. Der 75-Jährige ist herzkrank, braucht regelmäßig
       Medikamente.
       
       Yuval Dancyg spricht an diesem Montag, rund vier Wochen nach der
       Terrorattacke, im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Er will auf das
       Schicksal seines Vaters und [1][das der anderen rund 230 Geiseln]
       aufmerksam machen. Alex Dancyg ist Historiker, arbeitete für die
       Gedenkstätte Yad Vashem, kümmerte sich um die polnischsprachige
       Bildungsarbeit. An diesem Abend sind viele gekommen, die Dancygs Arbeit gut
       kennen, seine Expertise schätzen, seine Publikationen mit in ihre Forschung
       einfließen lassen, mit ihm zusammenarbeiteten.
       
       Yuval Dancyg ist nach Berlin gekommen, damit die Geschichte seines Vaters,
       das Schicksal der Geiseln nicht der Nachrichtenlage weicht und in
       Vergessenheit gerät. Er war bei Politiker:innen in Italien, in Polen,
       da sein Vater aus Polen stammt. Jetzt ist er in Deutschland. Er hofft auf
       ihre Unterstützung, dass sie zuhören. Und er fordert: „Verhandelt mit
       Katar. Verhandelt mit der arabischen Welt, damit die Geiseln freikommen.“
       Er weiß, dass Diplomatie Zeit braucht, und wird nicht müde zu betonen, dass
       die Politik ihm die Türen öffnet und sich einsetzt. „Aber uns läuft die
       Zeit davon“, sagt er. Und Yuval Dancyg hat noch ein Anliegen an die
       deutsche Bevölkerung: „Die Menschen hier verstehen nicht, was uns
       widerfahren ist.“
       
       ## Enttäuscht über das Schweigen der Zivilgesellschaft
       
       Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) versichert der Familie die
       Solidarität des Bundestags. Sie spricht von einem Pogrom, das Israel am 7.
       Oktober widerfahren ist, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht. Die
       brandenburgische Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) beteuert, dass
       man keinerlei Antisemitismus, Terror und Gewalt in Deutschland toleriere –
       und spricht von einer „moralischen Verwirrung“, die derzeit offenbar in der
       Gesellschaft herrscht.
       
       Und doch begleiten die Eindrücke des vergangenen Wochenendes an diesem
       Montag am Wannsee die Erzählung Dancygs vom Schicksal seines Vaters. Auf
       Demonstrationen bundesweit zeigten Anhänger:innen auf irritierende
       Weise, wie sehr sie Israel das Recht auf Selbstverteidigung absprechen und
       islamistische Strömungen befürworten. Die Enttäuschung über das Schweigen
       der Zivilgesellschaft ist bei allen Redner:innen zu spüren.
       
       Yuval Dancyg zeigt ein Foto des Hauses, in dem seine Familie wohnte. Es ist
       ein Bild der Zerstörung, ein ausgebombtes und ausgebranntes Zimmer, die
       Terroristen haben den Kibbuz unbewohnbar hinterlassen. Nur durch einen
       Zufall schafften es seine Schwester und ihre Familie aus dem „safe room“ in
       ihrem Haus zu entkommen – und weder zu ersticken noch erschossen zu werden.
       
       Wie bei vielen anderen Häusern, warfen die Terroristen Handgranaten in die
       Wohnungen, versuchten die Menschen auszuräuchern und dann zu töten, wenn
       sie fliehen wollten. Es geht nicht nur um die Verschleppung der Geiseln, um
       die Gewalt, es geht darum, dass ein Weiterleben im Zuhause seiner Familie
       und aller anderen Kibbuzbewohner:innen unmöglich gemacht wurde. „Das
       war nicht nur die Hamas. Es waren auch Zivilisten“, sagt Yuval Dancyg. Er
       spielt damit auf Berichte an, wonach Zivilisten die Terrorakte der Hamas
       untertützen, Häuser plünderten oder sich direkt beteiligten.
       
       Seine Familie im Kibbuz hat überlebt. Sie ziehen nun von Hotel zu Hotel –
       und warten auf Unterstützung von der israelischen Regierung. Derzeit bleibt
       diese noch aus. Aber Yuval Dancyg setzt darauf, dass sie kommt. „[2][Unsere
       Regierung] ist jetzt im Krieg“, sagt er.
       
       Ob überhaupt und wann seine Familie wieder zurück in den Kibbuz kann, ist
       ungewiss. Klar ist nur, es wird sehr lange dauern. Ein Jahr oder mehr, sagt
       Yuval Dancyg. Und wie sieht er die Zukunft Israels? Der 42-Jährige hat auf
       jede andere Frage aus dem Publikum zu seiner Familie eine irritierend
       gefasste, fast schon routinierte Antwort parat. So auch auf diese: „Israel
       wird bleiben.“
       
       8 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwester-der-Hamas-Geisel-Yarden-Roman/!5967114
 (DIR) [2] /Proteste-gegen-Netanjahu/!5968224
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tanja Tricarico
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Israel
 (DIR) Geisel
 (DIR) Potsdam
 (DIR) Yad Vashem
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Alternative für Deutschland (AfD)
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Marsch der Geisel-Angehörigen in Israel: „Gebt uns Antworten!“
       
       Noch immer fehlt von den 240 Hamas-Geiseln jede Spur. Mit einem Marsch nach
       Jerusalem wollen Angehörige nun Druck auf Israels Regierung ausüben.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Feuerpausen für Nordgaza
       
       Israels Armee hat sich zu Feuerpausen ab diesem Donnerstag bereit erklärt,
       teilte das Weiße Haus mit. Tausende Palästinenser fliehen weiter in den
       Süden.
       
 (DIR) Internationale Debatte über Nahost-Krieg: Viele Binnenflüchtlinge in Gaza
       
       Die G7 fordern humanitäre Feuerpausen für den Gazastreifen. Außerdem solle
       ihn Israel weder besetzen noch verkleinern, sagt die US-Regierung.
       
 (DIR) Antisemitismus in Deutschland: Neue Welle des Hasses
       
       Das Lagebild Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung zeichnet ein
       düsteres Bild: Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist enorm gestiegen.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Italien schickt Krankenhausschiff
       
       Italien schickt ein Marineschiff mit Krankenhaus vor die Küste Gazas. Laut
       UN sind derzeit 300.000 Kinder in Gaza ohne Schulunterricht.
       
 (DIR) Proteste gegen Netanjahu: Israels Regierung gerät unter Druck
       
       Gegner des Kabinetts Netanjahu gehen wieder auf die Straße, der Rückhalt
       für den Ministerpräsidenten sinkt. Die USA intensivieren diplomatischen
       Einsatz.
       
 (DIR) Bodenoffensive in Gaza: Verhandeln statt vergelten
       
       Trotz gefallener Soldaten steht die Mehrheit der Israelis hinter der
       Bodenoffensive in Gaza. Widerspruch kommt von Angehörigen der Opfer.
       
 (DIR) Kein Austausch mit Geiseln in Gaza: Israels Regierung ideenlos
       
       Netanjahu lehnt einen Austausch von Geiseln und palästinensischen
       Gefangenen ab. Das könnte bedeuten, die überlebenden Geiseln im Stich zu
       lassen.