# taz.de -- Rechtsrutsch in den Niederlanden: Die Saat des Laissez-faire
       
       > In den Niederlanden sind alte kollektive Werte verschwunden, nur der
       > Ultraliberalismus blieb. Das hat Geert Wilders den Boden bereitet.
       
 (IMG) Bild: Geert Wilders am 5. Dezember
       
       Heinrich Heine soll es gesagt haben: Bei einer Apokalypse soll man am
       besten in die Niederlande gehen, denn da passiert alles fünfzig Jahre
       später. Ruhe, Reinheit und Regelmaß waren alte Leitbilder. Meine Heimat
       Holland war vor den Weltkriegen neutral, eine Bürgergesellschaft, die nach
       1945 von Konsens, Kompromissen und Konsum geprägt war.
       
       Die Handelsnation gründete vor fünfhundert Jahren den internationalen
       Kapitalismus mit der Börse und die erste, kolonialistische
       Aktiengesellschaft weltweit, die Vereinigte Ostindische Companie (VOC). Es
       war übrigens der christdemokratische Premier Jan-Peter Balkenende, der
       kurz nach der Jahrtausendwende sagte, die Niederlande bräuchten mehr
       „VOC-Mentalität“. Meinte er fremde Welten zu entdecken oder gar zu erobern?
       Seine damals noch große, christliche Partei CDA, das Pendant zur deutschen
       CDU, erreicht mittlerweile gerade noch drei Prozent.
       
       Er war der letzte einer langen Reihe von CDA-Ministerpräsidenten, die das
       liberale Vorzeigeland, in Abwechslung mit den Sozialdemokraten, regiert
       hatten. Die Arbeiterpartei PvdA stellte zuletzt mit Wim Kok, ab 1994, den
       Premier. Der war mal Chef der größten Gewerkschaft und endete als
       Aufsichtsrat beim Ölriesen Shell und der ING-Bank. Es war jener Premier
       Kok, der in den neoliberalen neunziger Jahren die verhängnisvollen
       Marktkräfte – wie auch Gerhard Schröder und Tony Blair – überall einführte
       und das so begründete: Die PvdA müsse ihre ideologischen Federn abwerfen.
       
       Die sogenannte Versäulung – ein System voneinander abgeschotteter Milieus
       mit unterschiedlichen Konfessionen und Weltanschauungen – zerbröckelte zu
       der Zeit immer schneller. Die Religionen verschwanden rapide, ebenso feste
       Überzeugungen und Werte, die man durch Herkunft quasi erbte. Nur der
       Liberalismus blieb. Das Laissez-faire wurde dominant. Es entstand damals
       eine Kultur, die nicht mehr vom protestantischen Calvinismus, sondern von
       einem Ultra-Hedonismus geprägt war. Gesellschaftlich entwickelte sich aber
       zugleich ein Klima der stetigen Abgrenzung.
       
       Der holländische Handelsgeist hatte über die Dominanz des Christentums
       (CDA) und der Sozialdemokratie (PvdA) in der Politik gesiegt – der Kaufmann
       über den Pfarrer und den Gewerkschafter. Vor etwa 20 Jahren [1][kam der
       Rechtspopulist Pim Fortuyn] auf, ein Rotterdamer Dandy mit Butler und
       Privatfahrer, der das säkularisierte Land in wenigen Wochen immens
       veränderte. Er forderte, Artikel 1 der Verfassung zu streichen – das
       Antidiskriminierungsgebot sollte abgeschafft werden. Er strebte die
       bedingungslose Freiheit an – auch die Freiheit, zu diskriminieren. Fortuyn
       sagte öffentlich, dass die einzigen Marokkaner, die er akzeptierte, die
       Jungs waren, die er heimlich nachts traf.
       
       Er fand den Islam „eine rückständige Kultur“, mit dem man einen „kalten
       Krieg“ führen müsse. Fortuyns Forderungen: Alle Asylsuchenden müssten nach
       Hause. Niederländische Grenzen sollte man schließen und „Schengen“
       abschaffen. Der Einzelgänger Fortuyn gründete eine neue Partei und besetzte
       damit auch Sozialthemen wie Wohnungsbau und Pflege. Diese
       rechtspopulistische Partei wuchs in einem Wahnsinnstempo und gewann 2002
       die Wahl – eine Woche zuvor war Fortuyn von einem Umweltaktivisten
       erschossen worden
       
       ## Toleranz, die Ignoranz ist
       
       Damals gehörte der junge Parlamentarier Geert Wilders noch zu den
       Liberalen. „Ich habe nichts gegen den Islam“, sagte er noch 2001. Aber
       [2][nachdem der Regisseur Theo van Gogh von einem Islamisten in Amsterdam]
       brutal ermordet wurde, radikalisierte sich Wilders. Es kam 2004 zum
       Austritt, er gründete seine rechte „Freiheitspartei“, die
       rechtspopulistisch ist, wirtschaftspolitisch aber auch linke Themen
       bedient.
       
       Die Niederländer hatten sich ihrer Toleranz gerühmt, aber eigentlich war es
       Ignoranz. Sie waren blind in Bezug auf das Verschwinden gemeinsamer
       gesellschaftlicher Werte wie Respekt und naiv mit Blick auf die Probleme
       einer multikulturellen Gesellschaft. Wilders brachte damals den
       Anti-Islam-Film „Fitna“ heraus – frei nach Fortuyns berüchtigter „Freiheit,
       zu diskriminieren“. Seitdem lebt der blondierte Marktschreier unter
       Polizeischutz.
       
       Unter Premierminister Rutte kamen zehntausende ausländische Studenten,
       Niedriglohnarbeiter und Expats ins Land; Wohnraum wurde in den Städten
       unbezahlbar. Soziale Probleme wurden vom Populisten Wilders thematisiert –
       nicht von den Liberalen, Konservativen oder den Sozialdemokraten. Die
       Sozialdemokraten waren wirtschaftspolitisch neoliberal und
       gesellschaftspolitisch links („woke“) geworden – und verloren so ihre alte
       Anhängerschaft.
       
       ## Gegen Ukraine-Unterstützung
       
       Vor drei Wochen wurde Wilders’ Partei [3][die stärkste Kraft im Parlament].
       Seine PVV ist gegen Waffen für die Ukraine und für ein Ende der Sanktionen
       gegen Moskau – und will in der Frage ein bindendes Referendum durchsetzen.
       Bei einer früheren Volksbefragung hatten die Niederländer schon
       mehrheitlich „Nee“ gegen eine Aufnahme der Ukraine in die EU gesagt.
       
       Die Landsleute denken da hauptsächlich an die hohen Kosten. Wilders’
       Krawallmacher wollen die EU verlassen, den Euro wieder durch den Gulden
       ersetzen, den Koran verbieten, Asylsuchende ausweisen. Muslimas nennt er
       „Kopflumpen-Mädchen“. Dieser wegen Beleidigung einer Minderheit verurteilte
       Politiker sprach von einem „Fake-Parlament“, von „Fake-Richtern“ und nennt
       Reporter „abscheulichen Abschaum“. Kunst und Kultur will Wilders nicht mehr
       subventionieren, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk möchte er abschaffen,
       obwohl er dort viel Redezeit beim rechten Nischensender „Ongehoord
       Nederland“ bekommt.
       
       Es scheint, dass Heinrich Heine heutzutage unrecht hätte: In Holland
       passieren die Dinge nicht später als anderswo – sondern früher. Spätestens
       bei den ostdeutschen Landtagswahlen dürfte man sich daran erinnern.
       
       15 Dec 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rob Savelberg
       
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