# taz.de -- Linkes Pflaster Connewitz: Aber ist das noch Punkrock?
       
       > Leipzigs Stadtteil Connewitz gilt als krawallig und unangepasst. Dabei
       > ist er viel bürgerlicher geprägt, als der Mythos glauben lässt.
       
 (IMG) Bild: Selbst im Leipziger Stadtteil Connewitz kein Alltag: Pflastersteine nach der Tag X-Demo im Juni 2023
       
       LEIPZIG taz | Es wird Nacht am Connewitzer Kreuz: Vier Jugendliche lungern
       inmitten einer Ansammlung von Bierflaschen herum. Ploppende Kronkorken und
       klirrende Flaschen stiften ihrer untätig-aggressiven Grundstimmung einen
       unsteten Rhythmus. Aus dem tragbaren Lautsprecher dröhnt Punkrock von der
       Terrorgruppe: „Ja, wo ich geh und wo ich steh, weiß jeder alles besser /
       Doch ich hab das bess’re Argument, mein Schweizer Taschenmesser.“ Die Musik
       und das Anarcho-A auf ihrer Kleidung lassen an ihrer politischen Haltung
       keinen Zweifel. Unvermittelt löst sich ein Teenager aus der Gruppe und
       pöbelt wahllos Vorbeilaufende an. Irgendwo muss die Wut ja schließlich hin.
       
       Diese vermeintlich typische Szene hat sich genau so in Connewitz
       abgespielt. Allerdings nicht auf der Straße, sondern auf einer Bühne im
       Werk 2, einem [1][soziokulturellen Zentrum] am Connewitzer Kreuz. Aber das
       Klischee deckt sich mit einer in den Medien kursierenden Erzählung über den
       Leipziger Stadtteil: Immerhin nannte die Bild den Stadtteil 2015 eine
       gefährliche „No-go-Area“, der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung
       sprach nach der Solidemo für Lina E. von „durchgeknallten Straffälligen in
       Connewitz“.
       
       Doch auch auf der Gegenseite wird dieses Bild gepflegt: Seit Jahrzehnten
       ist Connewitz [2][identitätsstiftend für die linke Szene], Hassobjekt der
       Rechten, mitunter Zankapfel der kommunalen Politik. Die Wechselwirkungen
       zwischen dem Stadtteil, seinem Ruf und seiner Medienpräsenz sind komplex
       und bisweilen widersprüchlich. Und viel davon scheint plötzlich sehr weit
       weg, wenn man sich vor Ort tatsächlich umschaut.
       
       Wer am zentral gelegenen Connewitzer Kreuz aus der Straßenbahn steigt, dem
       offenbart sich ein typisches Großstadtviertel: links ein Supermarkt und ein
       Bäcker, rechts vierstöckige Gründerzeithäuser, davor ein paar Grünflächen
       und Parkplätze. Erst allmählich zeigt sich, wie flächendeckend besprüht die
       Wände und wie stark mit Stickern beklebt die Straßenlaternen sind: Antifa,
       Roter Stern, Rebel Kid.
       
       ## Normalos im Szeneviertel
       
       An einer der sieben Straßen, die das Connewitzer Kreuz bündelt, steht ein
       über und über bespraytes Fabrikgebäude. Inzwischen beherbergt es das Werk
       2, eine Institution des kulturellen Lebens in Connewitz. Die Programmtafel
       am Eingang zeigt das Abendprogramm an: „Scherbenhelden“, das Theaterstück
       mit den krawalligen Jugendlichen aus der eingangs beschriebenen Szene.
       
       Das Stück basiert auf [3][dem gleichnamigen Roman] von Johannes Herwig.
       Sein ganzes Leben hat der tätowierte Mittvierziger in Connewitz verbracht,
       war in den 1990er Jahren Punk und ist seit 2013 Autor. In „Scherbenhelden“
       verarbeitet er die Erfahrungen seiner Jugend im Leipziger Süden während der
       Wendezeit. Das Buch zu schreiben sei ihm nicht leichtgefallen. „Es ist
       einfach schwierig, verständlich zu machen, wie sich das damals angefühlt
       hat“, erzählt Herwig und meint damit: Frust, Verzweiflung, ein Gefühl von
       Aussichtslosigkeit im neuen System.
       
       Im Zuge der Wiedervereinigung haben viele Erwerbstätige im Osten ihre
       Existenzgrundlage verloren: 825.000 Arbeitslose gab es laut dem Zentrum
       digitale Arbeit kurz nach der Wiedervereinigung in den ostdeutschen
       Bundesländern – im Vergleich zur Vollbeschäftigung zu DDR-Zeiten eine
       gewaltige Zahl.
       
       Einer davon ist der Vater des „Scherbenhelden“-Protagonisten Nino, der in
       der DDR als Schuhmacher selbstständig war, durch die Wende seinen Job
       verlor und seitdem depressiv zu Hause sitzt. Und dann ist da noch der
       aufkeimende, oft gewalttätige Rechtsextremismus. Der Leipziger Süden habe
       in dieser Zeit eine besondere Rolle für linke Strömungen gespielt, erklärt
       Herwig. „Dort hat die alltägliche Bedrohungslage durch Rechtsextreme
       irgendwann abgenommen, weil es viele Leute gab, die sich gewehrt haben.“
       
       Dass Connewitz aber auch bundesweit zum linken Szeneviertel schlechthin
       wurde, ist allein durch den Antifaschismus der Wendejahre noch nicht zu
       erklären. Schon in den 1970er Jahren galt der Stadtteil als alternativ,
       aber auch als Arbeiterviertel. Ganze Straßenzüge standen damals leer, der
       Staat machte sich rar. So begannen Hausbesetzer:innen, sich in den
       leerstehenden Gebäuden Freiräume für Subkultur und Politik zu schaffen.
       
       „Im Viertel hat sich ein alternatives Leben konzentriert und schließlich
       auch behauptet. Das hat sich inzwischen aber diversifiziert, hier leben
       heute mega viele Normalos“, sagt Herwig. „Das kommt in der
       Berichterstattung über Connewitz ein bisschen zu kurz.“
       
       ## Hausbesetzer im Kirchenvorstand
       
       Gleich um die Ecke vom Werk 2 stehen zwei der wenigen nicht besprühten
       Gebäude des Stadtteils: die evangelische Paul-Gerhardt-Kirche und ihr
       Pfarramt. „Von unserer Gemeinde ist die Kultur nur einen Steinwurf
       entfernt“, witzelt Pfarrer Christoph Reichl. Gemeinsam mit seiner Kollegin
       Ruth Alber, Pfarranwärterin Nicole Bärwald-Wohlfarth und einem weiteren
       Pfarranwärter kümmert er sich um eine Kirchengemeinde der besonderen Art.
       „Sehr offen, aber auch kritisch“, beschreibt Reichl seine
       Gemeindemitglieder mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. „In etwa so
       verstehen wir uns auch als Kirche. Also linksliberal und weltoffen“, fügt
       er hinzu.
       
       Die Frage, inwiefern Kirche in Connewitz politisch sei, beantwortet er mit
       einigen Anekdoten aus der Gemeindearbeit: Wie sie als Kirche eine
       Gebetswache anmeldeten, nachdem Rechtsextreme in Connewitz demonstriert
       hatten – um zu zeigen, „dass links nicht allein ist“. Oder wie sich die
       Kirchen im Leipziger Süden im Jahr 2020 zusammenschlossen und als erste
       Amtshandlung ein politisches Statement zur Flüchtlingshilfe im Mittelmeer
       verfassten.
       
       Die Gemeindemitglieder würden aber auch ganz alltägliche Sorgen umtreiben,
       sagt Pfarranwärterin Bärwald-Wohlfarth. Kitaplatz- und Schulsuche bei
       Eltern, Sicherheit und Mobilität bei den Älteren. Ist Connewitz also doch
       kleinbürgerlicher als gedacht? Ist das hier noch Punkrock? „Die Punks, die
       Connewitz damals als linksalternatives Viertel mit aufgebaut haben, sind in
       die Jahre gekommen“, antwortet die Pfarranwärterin. Und manch ein
       Ex-Hausbesetzer sei heute sogar im Ortsausschuss des Kirchenvorstands
       aktiv, ergänzt Pfarrer Reichl.
       
       ## Trautes Heim, Glück allein
       
       Aber nicht nur ehemalige Hausbesetzer:innen, die heute bürgerlich leben,
       weichen den Ruf des linksalternativen Viertels auf: Viele derjenigen, die
       das Image von Connewitz als linke Hochburg noch aufrechterhalten würden,
       seien gar nicht hier ansässig, so Reichl. Gerade die Jüngeren würden eher
       im Osten und Südosten der Stadt leben, weil die Mieten dort günstiger
       seien. Tatsächlich liegen die Mietpreise laut der Leipziger Volkszeitung,
       die sich dabei auf Daten der Stadt bezieht, in Connewitz bei 8,55 Euro pro
       Quadratmeter. Das ist deutlich höher als in den südöstlichen und östlichen
       Leipziger Stadtteilen.
       
       Der langhaarige, tiefenentspannte Familienvater wohnt zwar nicht direkt im
       Viertel, kommt mit seinem Sohn aber oft zum Herderspielplatz. So auch heute
       wieder. Wenn sein Sohn wieder nach ihm ruft – „Papaaa“ –, schaut er kurz zu
       ihm hinüber, schubst ihn einmal kräftig an und redet dann unbeirrt weiter:
       „Connewitz ist geil – perfekt für Familien. Man hat hier wirklich alles,
       was man braucht. Viel Grün, offene und engagierte Menschen, einen super
       Spielplatz.“ Er sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, als nerve es
       ihn, wenn andere die Sicherheit und Lebensqualität von Connewitz infrage
       stellen. Und tatsächlich: Eine Statistik der Stadt verzeichnet von 2017 bis
       2021 deutlich mehr Straftaten in anderen Vierteln, wie Plagwitz,
       Reudnitz-Thonberg oder Möckern.
       
       „Papaaa!“ – das Kind ist mittlerweile am Klettergerüst angekommen und
       verlangt nach Unterstützung. Ob er nicht schon allein klettern könne, ruft
       der Vater. Sicherheitsbedenken im Viertel, fährt er fort, habe er
       jedenfalls keine. Denn Unruhen kämen selten vor und konzentrierten sich
       sowieso nur auf einzelne Orte, da brauche man sich keine Gedanken zu
       machen. Das leuchtet ein: Aktionen wie den Tag X etwa, an dem Anfang Juni
       Demonstrant:innen in Connewitz gegen das Urteil für Lina E.
       protestierten, gibt es schließlich nicht alle Tage. Wenn überhaupt, dann
       müsse man Angst vor dem Rechtsextremismus haben, findet der Vater. Mit
       Nachdruck fügt er hinzu: „Ich will ja nicht politisch sein, aber dieser
       Nazischeiß, der nervt.“
       
       ## Wir machen uns die Welt
       
       Ganz ausdrücklich politisch sein möchte hingegen das Conne Island. Das
       [4][1991 gegründete Jugendzentrum] liegt etwas abseits vom Rest des
       Viertels – und ist doch so etwas wie das Zentrum von dessen politischem
       Leben. Man sieht sich hier als diskriminierungsarmen Raum mit linkem
       Selbstverständnis für all jene Menschen und Subkulturen, die von der Norm
       abweichen. „Wir sind sozusagen ein riesiger DIY-Laden für diejenigen, die
       nichts Vorgefertigtes konsumieren, sondern selbst gestalten wollen“, so
       bringen die Mitarbeitenden den Geist des Conne Island auf den Punkt. Sie
       möchten nicht namentlich genannt werden.
       
       Wer sich beteiligen oder politisch engagieren möchte, ist zum
       allwöchentlichen offenen Plenum eingeladen. Hier wird seit 30 Jahren
       kollektiv ausgehandelt, wem das Island eine Plattform bieten soll. Das
       können Bands sein, marxistische Lesekreise, Mobilisierungsveranstaltungen
       oder Aktivismus-Workshops. „Dabei haben wir als Island keine einheitliche
       Linie“, sagt eine Mitarbeitende, „es ist eher so eine Art Wabern zwischen
       Grundwerten.“ Diese Selbstverwaltung in Eigenverantwortung ist nicht
       selbstverständlich.
       
       Sicherlich trägt das Conne Island mit seiner politischen Arbeit zum Mythos
       Connewitz bei, der in der Wendezeit aufkam und das Viertel bis heute
       begleitet. Doch aufrechterhalten wird er laut den beiden Mitarbeitenden
       nicht allein von der alternativen Szene selbst, sondern auch von der
       Gegenseite: „Die CDU braucht den Ruf von Connewitz halt, um Wahlkampf zu
       machen.“
       
       ## Punks im Kino
       
       Weg vom südlichsten Zipfel des Viertels und zurück auf die
       Wolfgang-Heinze-Straße zu Haus 12 a. Hier verbirgt sich hinter einer
       unscheinbaren Fassade das UT, Leipzigs ältestes Lichtspieltheater.
       Inzwischen stehen nicht mehr viele Filme auf dem Programm – stattdessen
       geben sich Punkbands, Sinfonieorchester, der Connewitzer Sportverein Roter
       Stern und sogar der MDR-Kinderchor die abgenutzte Klinke in die Hand.
       
       „Nur Parteipolitik hat hier keinen Platz“, stellt ein Mitarbeiter des UT
       Connewitz e. V. klar, der anonym bleiben möchte. „Aber links verortet sind
       wir natürlich schon“, schiebt er gleich hinterher. Das kulturelle Leben ist
       in seinen Augen so lebendig wie eh und je – nur dass jetzt eben jüngere
       Leute das weiterführen, was es schon in den 1980ern an alternativer Szene
       gab. Geblieben ist zum Beispiel der Umstand, dass Geld für diesen
       Kulturbetrieb nicht die entscheidende Rolle spielt: Hier im Union-Theater
       etwa engagiert sich niemand gegen Bezahlung – sondern ehrenamtlich und aus
       Überzeugung.
       
       Die Veränderungen im kulturellen Leben in Connewitz sieht der Mitarbeiter
       gelassen. Corona hätte da bisher mehr negative Folgen gehabt [5][als die
       Gentrifizierung]. „Inzwischen haben wir hier eben nicht mehr nur die
       Leipziger Punkband, sondern auch feiernde Erstis.“ Unbegreiflich sind ihm
       nur diejenigen, die aufgrund des Hypes nach Connewitz ziehen, dann aber auf
       Nachtruhe um 22 Uhr pochen.
       
       Schon zu Beginn des Gesprächs mit dem UT-Mitarbeiter ist klar: Es wäre ein
       Fehler, seine Gelassenheit mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. „Hier
       müssen sie mich raustragen, mit den Füßen zuerst.“
       
       23 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.werk-2.de/
 (DIR) [2] /Linke-Stadtviertel/!5977523
 (DIR) [3] https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Jugendliteratur/Scherbenhelden.html
 (DIR) [4] https://conne-island.de/
 (DIR) [5] /Gentrifizierung-in-Leipzig/!5368403
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Finn Gessert
 (DIR) Josephine Walther
       
       ## TAGS
       
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