# taz.de -- Andacht für Hexen und Plastik im Hirn
       
       > Im Kunstverein Braunschweig beschäftigt sich Dennis Siering mit der
       > Verschmutzung des Planeten. Anna Ehrenstein reflektiert Erfahrungen
       > gesellschaftlicher Ungleichheit
       
 (IMG) Bild: Queerfeministische Blasphemie: Im Herbst verwandelte Anna Ehrenstein einen Wartebereich im Wolfsburger Bahnhof
       
       Von Bettina Maria Brosowsky
       
       Als eine Einzelausstellung lässt sich das eigentlich nicht mehr bezeichnen,
       was die Künstlerin Anna Ehrenstein derzeit in der Remise des Kunstvereins
       Braunschweig auffährt. Das sieht auch der verantwortliche Kurator Benedikt
       Johannes Seerieder so. Denn an den drei, teils mehrkanaligen Videoarbeiten
       ihrer Präsentation „Imagined Inevitabilities“, zu Deutsch vielleicht:
       ‚eingebildete Unvermeidlichkeiten‘, wirkten insgesamt wohl über 40 Personen
       mit. Aber solche Kooperationen, oft mit Auslandsaufenthalten und intensiven
       kulturellen und gesellschaftspolitischen Recherchen verbunden, sind
       mittlerweile ein Markenzeichen Ehrensteins. Ebenso das Mixen von
       Trivialkultur, bis hin zum Trash, mit Hochkultur zu ästhetisch opulenten
       bis provokant schrillen künstlerischen Ausdrucksformen.
       
       Damit wagte sie sich im vergangenen Herbst auch in den öffentlichen Raum,
       als sie in Wolfsburg eine der zyklisch installierten Kunststationen im
       Hauptbahnhof realisierte. Diesen nur 15 Quadratmeter großen Wartebereich,
       seit 2007 mehrmals im Jahr unter der Federführung der städtischen Galerie
       Wolfsburg künstlerisch interpretiert, verwandelte Ehrenstein in einen
       Andachtsraum ganz spezieller Art. „Hexen, Huren und Gottesgeschenke“, wie
       der Titel lautete, scheute nicht zurück vor christlicher Motivik,
       transformierte sie zu queerfeministischer Blasphemie in gleißendem Rot.
       
       ## Reflexion von Machtungleichheit
       
       In Braunschweig hat Ehrenstein mit jungen Kraftsportler:innen aus
       internationalen Familienkonstellationen an einem Video zu einer
       alternativen Nationalhymne gearbeitet, das sie zusammen mit einem
       professionell produzierten Musikvideo zu einer Miniatur-Fitnessbude
       inszeniert. In beiden Arbeiten geht es um tagtäglich erlebten Rassismus,
       die Desintegration, auch als aktiver Prozess, unter den politischen
       Bedingungen einer deutschen Leitkultur. Im Hauptraum der Remise ist dann
       ihre große Installation zu sehen, die von vergleichbaren Erfahrungen, nun
       exponierter LGBTIQA+-Aktivist:innen in Südafrika, erzählt.
       
       Ehrenstein wurde 1993 als Kind albanischer Eltern in Deutschland geboren.
       Während ihre Mutter ein Arbeitsvisum erhielt, verließ ihr Vater Deutschland
       nach der Ablehnung seines Asylantrags. Aufgewachsen zwischen Albanien und
       Deutschland, mittlerweile in Tirana wie Berlin arbeitend, hat Ehrenstein
       aus dieser besonderen Biografie ihr künstlerisches Instrumentarium
       entwickelt. Sie hat Fotografie und Medienkunst in Dortmund und Köln
       studiert, ihre Bildwelten zu einer stark inszenierten Variante
       radikalisiert, die gesellschaftspolitische Machtungleichgewichte, wie sie
       exemplarisch ihre Eltern erlebten, reflektiert.
       
       ## Metaphern für Verschmutzung
       
       Um ganz existenzielle Fragen geht es auch in der großen Ausstellung
       „Unnatural Territories“ von Dennis Siering in der Kunstvereins-Villa. Den
       in Frankfurt lebenden, unter anderem an der Düsseldorfer Kunstakademie
       ausgebildeten 40-jährigen Künstler bewegen aber nicht vordergründig soziale
       oder politische Themen, sondern der Zustand und die multiple Verschmutzung
       des Planeten durch die Industriegesellschaften des Kapitalozäns. Dafür
       erfindet er Metaphern, konkrete Dokumentationen oder auch spekulative
       Szenarien.
       
       Siering arbeitet mit Expert:innen aus wissenschaftlichen Disziplinen
       zusammen, betreibt eine Online-Plattform zu Pyroplastik, einem seiner
       bevorzugten Gegenstände künstlerischer Forschung. Dieser Kunststoff, der in
       den Weltmeeren treibt, bildet sich seit den 1950er Jahren und wird
       mittlerweile in Kieselstein- bis Faust-großen, sich über Jahrzehnte
       verdichteten und abgeschliffenen Brocken angespült. Grau und von etwas
       poröser Struktur sehen diese aus wie natürliches Gestein und werden
       inzwischen durchaus von Meereskleingetier besiedelt, bleiben aber nicht
       ungefährliche Fremdkörper in den Ozeanen. Da leichter als Wasser, schwimmen
       die synthetischen Steine auf der Oberfläche – ein künstlerisch selbstredend
       reizvolles Faszinosum, das Siering in einem geheimnisvoll ausgeleuchteten
       Wassergefäß in der Eingangsrotunde sowie einem großformatigen Video
       wirkungsvoll zu inszenieren weiß.
       
       Die Mitwelt, so vom Künstler favorisierter, da weniger anthropozentrischer
       Begriff für unserer Drumherum, ist aber aktuell wohl noch mehr von
       Mikroplastik gebeutelt. Dies vermag in seiner winzigsten Partikelform auch
       den pflanzlichen, tierischen und menschlichen Organismus zu durchdringen,
       bis hinein ins Gehirn. Das Phänomen bildet Siering in kleinen
       archäologischen Fundstätten aus Sand ab, eine weltweit rare, da begehrte
       Ressource, die er mit Epoxidharz – ist das nicht auch ein Kunststoff? –
       stabilisiert, darin eingebettet Plastikteilchen unterschiedlicher Größe.
       
       ## Abfall oder Rohstoff?
       
       Auf einer hinterleuchteten Wandkonsole präsentiert er noch, ähnlich
       geologischen Preziosen in entsprechenden Museen, weitere seiner maritimen
       Fundstücke: Metallklumpen und geschmolzener Stacheldraht, wohl aus dem
       Zweiten Weltkrieg, verklebte Treibnetzreste, Erdölbollen. Beginnen bei
       einigen dieser Materialien aber nicht schon die Grenzen zwischen Abfall und
       potenziell wiederaufzubereitendem Rohstoff zu verschwimmen? So wie auch
       Sierings aus allerlei Zivilisationsmüll fingierten Bohrkernsondierungen in
       tiefere Erdschichten für zukünftige Forscher:innen wohl nicht nur eine
       vertikale Erinnerung, so ihr Titel, bereithielten, sondern vielleicht auch
       auf ungeahnte Ressourcen hinweisen könnten. Denn was ist Erdöl, die
       Ausgangsbasis sowohl von problematischem Plastik als auch solch
       segensreicher Alltagsprodukte wie den meisten Medikamenten, anderes als
       über Jahrmillionen komprimierte Biomasse? Eher unbeabsichtigt halten Dennis
       Sierings Materialzyklen dann doch nicht nur Bedrohliches parat.
       
       Beide Künstler:innen bedienten sich übrigens künstlicher Intelligenz.
       Siering pustete damit ein kleines Nasa-Satellitenbild eines aufziehenden
       Sturmes zu einer wandgroßen Tapete auf, Ehrenstein verzerrte Bewegtbilder
       aus Südafrika zu skurrilen Dynamiken. Wen solch ästhetische Notwendigkeit
       nicht recht zu überzeugen vermag, dem seien die Jahresgaben empfohlen, die
       in schöner Tradition zu jedem Jahreswechsel im Obergeschoss des
       Kunstvereins zum Kauf angeboten werden: sortiert von A bis Z, in der Regel
       noch ganz handwerklich analog erstellt.
       
       „Anna Ehrenstein: Imagined Inevitabilities“ und „Dennis Siering: Unnatural
       Territories“, Kunstverein Braunschweig; bis 25. Februar 2024
       
       20 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA