# taz.de -- Weihnachten im Westjordanland: Kein Frieden auf Erden
       
       > Jedes Jahr zu Weihnachten reisen Hunderttausende Christ:innen nach
       > Bethlehem. In diesem Jahr nicht. Der Krieg in Gaza hat alles verändert.
       
 (IMG) Bild: Das Jesuskind in Bethlehem liegt dieses Jahr auf symbolischen Trümmern und trägt eine Kufiya
       
       BETHLEHEM taz | In der evangelisch-lutherischen Kirche in Bethlehem steht
       kein Weihnachtsbaum. Auch die Krippe wurde nicht aufgebaut. Stattdessen
       liegt neben dem Altar ein Haufen aus Trümmern und zersplitterten
       Holzlatten. Dazwischen ruht neben einer einzelnen Kerze die Figur des
       Jesuskindes mit Engelsflügeln, gehüllt in einen schwarz-weißen
       Palästinenserschal. „Für uns ist die Weihnachtsgeschichte in diesem Jahr in
       unserer Angst und Gebrochenheit lebendiger denn je“, sagt der Pfarrer der
       Kirche, Munther Isaac.
       
       Das Krippenbild zwischen dem Schutt stehe für Tausende Kinder, die in Gaza
       von Bomben getötet und verschüttet wurden und die in den Medien nur noch
       als Zahlen auftauchen würden. Es stehe für ein Leben unter Besatzung im
       Westjordanland: „Josef und Maria mussten auf Anordnung der Römer von
       Nazareth nach Bethlehem gehen, heute kontrolliert Israel unsere Bewegungen
       mit Chipkarten, Checkpoints und Genehmigungen“, sagt der Palästinenser
       Isaac. „Und es spiegelt die Trauer und Furcht, die ich in meiner Gemeinde
       und im Kontakt mit Christen aus Gaza spüre.“ Mehr als 1,8 Millionen
       Menschen, fast die gesamte Bevölkerung von Gaza, ist seit Kriegsbeginn
       vertrieben worden. Auch Jesus habe laut der biblischen Erzählung ein
       Massaker nur durch eine Flucht nach Ägypten überlebt.
       
       In Bethlehem, dem biblischen Geburtsort von Jesus, ist der Krieg zwischen
       Israel und der islamistischen Hamas zu spüren. Für Christen ist die Stadt
       einer der heiligsten Orte der Welt. [1][Üblicherweise wimmelt es im
       Dezember vor Pilgern und Touristen.] In diesem Jahr sind jedoch kaum
       Menschen auf den Straßen. Auch der Weihnachtsbaum vor der weltbekannten
       Geburtskirche fehlt. Schon im November hatten die Oberhäupter der Kirchen
       in Jerusalem beschlossen, dass es in diesem Jahr keine Dekorationen und
       Veranstaltungen geben soll.
       
       „Niemand ist in Feierstimmung“, sagt Isaac. Er stehe fast täglich mit der
       kleinen christlichen Gemeinde im Gazastreifen im Kontakt. Dort leben etwa
       1.000 Christen. Im Oktober starben 18 Menschen in einer Kirche bei einem
       Luftangriff auf das Nachbarhaus. „Wenn wir telefonieren, höre ich
       Explosionen im Hintergrund“, sagt Isaac. Es gehe ihnen psychisch und
       physisch nicht gut. Mitunter gebe es nur einige Datteln pro Tag zu essen.
       
       ## Immer wieder Razzien der Armee
       
       Der Krieg hatte Anfang Oktober mit einem Überfall der Hamas auf den Süden
       Israels begonnen, bei dem mehr als 1.200 Israelis getötet und rund 240
       verschleppt wurden, die meisten von ihnen Zivilisten. Bei israelischen
       Luftangriffen und der Bodenoffensive starben seitdem nach Angaben des von
       der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums rund 19.000 Menschen, zwei
       Drittel von ihnen Frauen und Kinder.
       
       Pfarrer Isaac steht die Anspannung in diesen Tagen ins Gesicht geschrieben:
       „[2][Wir haben Angst, dass das, was in Gaza passiert, auch in Bethlehem
       passieren kann.]“ Am Vortag sind bei israelischen Luftangriffen und Razzien
       in Dschenin im Norden des Westjordanlands laut Armeeangaben mindestens zehn
       Bewaffnete getötet und rund 60 Personen festgenommen worden. „Ein Vorgehen
       dieses Ausmaßes kannten wir im Westjordanland bisher nicht“, sagt der
       Pfarrer. Auch nach Bethlehem dringe immer wieder die Armee ein, vor allem
       in muslimische Stadtteile. Viele Zufahrtsstraßen seien durch israelische
       Checkpoints geschlossen. Die Christen würden sich nicht mehr geschützt
       fühlen. Dutzende Familien hätten Bethlehem verlassen. „Was passiert, sehen
       wir nicht als Krieg gegen die Hamas, sondern gegen die Palästinenser.“
       
       Einige Gehminuten von der Kirche entfernt liegt das Flüchtlingslager
       al-Azza, das kleinste von rund 60 Camps, in denen palästinensische
       Geflüchtete aus dem heutigen Israel nach dessen Staatsgründung 1948
       Zuflucht fanden. Rund 700.000 Palästinenser verließen damals ihre Heimat
       oder wurden gewaltsam vertrieben. Aus Zelten sind seit Langem mehrstöckige
       Häuser geworden. Offiziell hat hier seit dem Oslo-Friedensprozess in den
       1990er-Jahren die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Kontrolle.
       Trotzdem kommt es auch hier aktuell immer wieder zu Razzien durch die
       israelische Armee. Seit Anfang des Jahres wurden dabei im Westjordanland
       fast 500 Palästinenser getötet. Viele von ihnen starben bei Feuergefechten,
       [3][immer wieder aber trifft es auch augenscheinlich Unbeteiligte und
       Kinder].
       
       Wenige Meter hinter dem Eingang zum Camp liegt das Haus der muslimischen
       Familie Nadschasch. Die drei Brüder Sami (50) Alaa (48) und Mohammed (45)
       haben sich im Wohnzimmer versammelt. Auf Mohammeds Stirn prangt ein großer
       blauer Fleck, Alaa kann sich nur unter Schmerzen bewegen. Vor zwei Tagen
       hätten rund zwei Dutzend israelische Soldaten frühmorgens die Türe der
       Wohnung eingetreten und beide festgenommen. „Sie haben uns die Augen
       verbunden und uns mit ihren Gewehren geschlagen“, erzählt Alaa. „Ich weiß
       nicht wieso, sie haben mich auch nichts gefragt.“ Sie seien zu einer
       Polizeistation nahe Bethlehem gebracht worden, wo man sie gefesselt im
       Regen habe warten lassen. „Nach zehn Stunden haben sie uns freigelassen.“
       
       ## Von Scharfschützen überwacht
       
       Die Angst sei schlimmer als während der Zweiten Intifada, dem letzten
       palästinensischen Volksaufstand Anfang der 2000er-Jahre, sagt der älteste
       Bruder Sami. Damals gab es fast wöchentlich Anschläge palästinensischer
       Terroristen in Israel. Wenige Meter vom Haus der Familie entfernt standen
       israelische Panzer. Die Weihnachtsfeiern an der Geburtskirche wurden von
       israelischen Scharfschützen auf den Dächern überwacht. „Aber damals
       konntest du zumindest sprechen, heute nehmen sie dich schon wegen eines
       Facebook-Posts fest, [4][während Israels Minister für nationale Sicherheit
       Tausende Sturmgewehre an rechtsextreme Siedler ausgeben lässt]“, sagt Sami.
       
       In den engen Gassen von Bethlehems Altstadt wollen deshalb viele ihre
       Familiennamen nicht verraten. „Ich habe sechs Kinder zu Hause, was soll aus
       ihnen werden, wenn sie mich festnehmen?“, sagt der Verkäufer Aladin. Sein
       Laden, wenige Hundert Meter von der Geburtskirche entfernt, ist gefüllt mit
       Teppichen und bestickten Tüchern. „Wir dachten, wir können uns endlich auch
       wirtschaftlich von der Coronazeit erholen, aber im Prinzip haben wir nur
       geöffnet, um wenigstens den Laden zu lüften“, sagt er und zeigt auf die
       leere Gasse. Die Lage sei so prekär, er könne seinen Kindern morgens kein
       Geld mehr für Essen in die Schule mitgeben. Im Laden nebenan hängen zwei
       Nikolauskostüme für Kinder. „Normalerweise verkaufe ich davon 500 Stück“,
       sagt der Nachbar. „Dieses Jahr habe ich gar nicht erst bestellt.“
       
       Das Weihnachtsfest, das in Bethlehem armenische, katholische, orthodoxe und
       evangelische Christen begehen, ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der
       Stadt, die zu 70 Prozent vom Tourismus lebt. Wegen des Krieges haben laut
       dem palästinensischen Tourismusministerium rund 580.000 Menschen ihre
       Reisen nach Bethlehem storniert, 380.000 Übernachtungen wurden abgesagt.
       Insgesamt gingen der Stadt jeden Tag knapp 1,4 Millionen Euro Umsatz
       verloren.
       
       Doch nicht alle wollen sich vom Krieg abschrecken lassen. Vor der
       Geburtskirche wartet eine Gruppe von zehn Reiseleitern aus Äthiopien. „Wir
       wollen herausfinden, ob wir für das äthiopische Weihnachtsfest im Januar
       Pilgergruppen hierher bringen können“, sagt Delnesahu Alemu. Den
       überlieferten Geburtsort Jesu unter der Grabeskirche erreichen für
       gewöhnlich nur jene, die sich lang angestellt haben. Heute ist das große
       Kirchenschiff leer. Hinter dem Altar führt eine kurze Treppe hinab in eine
       halbdunkle Höhle. Andächtig bleiben Alemu und seine Kollegen vor einem
       silbernen Stern im Boden stehen, an dem vor rund 2.000 Jahren die Krippe
       der Weihnachtsgeschichte gestanden haben soll.
       
       „Ich habe diese Orte in 15 Jahren noch nie so erlebt“, sagt Alemus Kollegin
       Leron Muse. Sie seien seit fünf Tagen durch das Land gereist und hätten
       viele ihrer Kontakte aus früheren Reisen getroffen, erzählt die 36-Jährige
       aus Addis Abeba. Es herrsche große Trauer und Anspannung. Trotzdem habe sie
       beschlossen, im Januar eine Pilgerreise zu organisieren. „Zum einen wissen
       wir um die Situation unserer langjährigen Partner hier“, sagt Muse. „Und
       zum anderen wollen wir die Feiertage und die Geburt Jesu feiern, auch im
       Krieg.“
       
       23 Dec 2023
       
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