# taz.de -- Wiederholung akzeptieren: Neues Jahr, gleicher Film
       
       > Das Ende des Jahres ist dazu da, Vorsätze zu formulieren, um sie einige
       > Wochen später zu brechen. Unser Autor widmet dieses Jahr den
       > Wiederholungen.
       
 (IMG) Bild: Alle Jahre wieder: Neujahrsschwimmen im Schleichersee bei Jena, Thüringen
       
       Weil meine Kolumne so schön auf den Jahresbeginn datiert ist, wollte ich
       eigentlich über Vorsätze zum neuen Jahr schreiben. Weil die mich jedes Jahr
       aufs Neue beschäftigen: Immer geistert da ein Wunsch nach Veränderung
       herum, dem ich nicht traue, weil ich ihn unrealistisch,
       selbstoptimierungswahnsinnig oder gleich verlogen finde, weshalb ich ihn
       verwerfe, nur um danach festzustellen, dass ich es ganz ohne auch nicht
       schaffe, mich für die Zukunft zu motivieren.
       
       Weil ich mich vor dem Schreiben vage daran erinnert habe, dass ich manche
       Gedanken doch irgendwann schon einmal hatte und deshalb bereits
       verschriftlicht haben könnte, habe ich zur Sicherheit im Archiv
       nachgeschaut. Und siehe da, eine Kolumne vom Januar des vergangenen Jahres
       mit dem ironisch übersteigerten Titel [1][„Vorsätze sind für Systemopfer“].
       Das brachte mich dann aber zum Glück auf das Thema, über das ich nun
       ersatzweise schreibe: die Wiederholung.
       
       Denn die ist ja das eigentliche Problem, das über allem schwebt, was jetzt
       zum Jahreswechsel an Unbehagen und inneren Konflikten hochkommt. Die
       Neujahrsvorsätze sind dabei nur ein Element des immergleichen Zyklus namens
       Jahr, auf das dann früher oder später weitere Elemente wie zum Beispiel
       Nichteinhaltung der Vorsätze, Enttäuschung und Frust folgen. Oder man zieht
       vielleicht doch mal ein Vorhaben durch und freut sich, aber merkt dann,
       dass sich trotzdem nicht auf einmal alles im Leben verändert.
       
       ## Thriller wird zum Horrorfilm
       
       Dann gibt einem die Realität eine laut klatschende Nackenschelle. Und bevor
       man die geplatzten Hoffnungen verarbeiten konnte, erwischt man sich beim
       Herbstspaziergang wieder dabei, wie man erst beiläufig und dann ganz
       explizit über neue Neujahrsvorsätze fantasiert. Es sei denn, man hat das
       Hoffen nach vielen Wiederholungsschleifen grundsätzlich aufgegeben, was
       kurzfristig Entlastung versprechen mag, langfristig aber überhaupt nicht
       gesund ist.
       
       Neues Jahr, gleicher Film – nur dass der Film immer noch ein bisschen
       brutaler wird, sich von einem in Teenagerjahren schon gruseligen Thriller
       zum schrecklichen Horrorfilm im erwachsenen Blick auf die Welt und sich
       selbst ausbaut. Neu ist höchstens, dass mit jedem Jahr noch eine weitere
       gesellschaftliche Krise hinzukommt oder zumindest noch ein weiterer
       verheerender Krieg. Wer soll das auf Dauer aushalten?
       
       Der Umgang mit dieser unbequemen Frage, ist natürlich auch etwas, das sich
       wiederholt. Während die B-Promis der Nation ihre unkreativen und naiven
       [2][Neujahrswünsche] auf Porträtaufnahmen ihrer selbst kritzeln und diese
       dann online als Kacheln in Kalenderspruchoptik verbreiten, kommt von linker
       Seite genauso verlässlich der jährliche Hinweis auf den italienischen
       Marxisten Antonio Gramsci, der geschrieben hat, dass Jahreswechsel „[3][zum
       Verlust des Sinns für die Kontinuität des Lebens und des Geists“] führten.
       
       Dieser Gedanke ist über hundert Jahre alt. Den Jahreswechsel gibt es als
       wirkmächtiges Konzept immer noch. Wahrscheinlich wird er sich auf absehbare
       Zeit auch nicht dekonstruieren lassen. Deshalb habe ich mir für 2024
       vorgenommen, die Wiederholung nicht mehr abzulehnen, sondern mich voll und
       ganz auf sie zu einzulassen, mich ihr hinzugeben. Vielleicht lässt sich das
       Neue ja aus ihr heraus umarmen. Und wenn ich mich in dieser Kolumne nun
       wiederholt habe, dann ist das aus diesem Grund natürlich so gewollt.
       
       4 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Start-ins-neue-Jahr/!5904010
 (DIR) [2] https://twitter.com/OliverKahn/status/1741443228878950877
 (DIR) [3] https://jacobin.de/artikel/antonio-gramsci-ich-hasse-den-neujahrstag-silvester-gefaengnishefte-marxismus-neujahr
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
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