# taz.de -- Blick in die Wunden: Bittersüße Fremde
       
       > Unsere Autorin zieht es immer wieder nach Lateinamerika. Bei einer
       > Recherche in Mexiko werden ihr die eigenen Privilegien gespiegelt.
       
 (IMG) Bild: Ein Graffiti in Playa del Carmen, Mexiko
       
       Einmal im Jahr packt mich das Fernweh. Es ist anders als das Fernweh, das
       mit dem Jahresurlaub kommt. Es ist größer, gewaltiger und manchmal macht es
       mir Angst, es könnte mich nicht mehr loslassen. Nicht immer kann ich ihm
       nachgeben, zu groß sind die Zwänge der Heimat, das Leistenmüssen, das
       Kümmern, das Eingebundensein. Aber manchmal habe ich Glück, dann bietet
       sich eine Chance und ich ergreife sie.
       
       Oft suche ich dann das Unbekannte im Bekannten und finde es in
       Lateinamerika. Ich habe dort ein paar Mal gelebt, an verschiedenen Orten,
       in verschiedenen Ländern, das erste Mal mit 16 Jahren, ein Schuljahr lang.
       Seitdem zieht es mich dort immer wieder hin, etwas treibt mich dazu an, es
       zu erschließen, Land für Land, wie einst Kolumbus, der Schurke, aber mit
       friedlichen Absichten. Oft sind diese Reisen bittersüß.
       
       Zuletzt reiste ich nach Mexiko, ein strahlender, bunter, vor Leben
       strotzender Ort und finster, erbarmungslos, voller Gewalt zugleich. Ich
       ging dort auf Recherche, um nicht nur seine Oberfläche zu erkunden, sondern
       auch in seine Wunden zu schauen. Das Ankommen in Lateinamerika ist jedes
       Mal holprig. Ich fühle mich zu Hause und doch wie eine Fremde. Ich werde
       gesehen und gelesen, mit Assoziationen, Projektionen, Erwartungen, mal
       Sehnsüchten, mal Abneigung behangen. Manchmal bereichernd, manchmal
       erdrückend schwer.
       
       Im Süden Mexikos begegnete ich einem jungen Mann aus Honduras. Auch er war
       auf Reisen. [1][Einer von Tausenden, zu Fuß, auf der Flucht vor Gewalt oder
       Armut oder beidem]. Sein Ziel, das Land der vermeintlich unbegrenzten
       Möglichkeiten. Knapp 3.000 Kilometer lagen noch vor ihm, Dutzende
       Checkpoints, an denen er Gefahr lief, von Beamt:innen beraubt zu werden,
       ein Güterzug, auf dessen Rücken er tagelang im kalten Fahrtwind sitzen
       würde, [2][große Städte, in denen Menschenhändler:innen darauf
       warteten, ihm zwielichtige Angebote zu machen].
       
       Zwei Tage lang bewegte ich mich in seinem Tempo, mit seinen Mitteln, ließ
       mir erzählen, wovor er sich fürchtete, worauf er hoffte. Dann zog ich
       weiter. Nicht zu Fuß, nicht auf einem Güterzug, ich stieg in ein Flugzeug.
       In zwei Stunden war ich dort, wohin der junge Mann noch Monate brauchen
       würde. Einfach so, weil ich es kann. Der Blick in die Wunden seiner Welt
       offenbarte mir meine Privilegien in aller Deutlichkeit.
       
       Oft kehre ich am Ende dieser Reisen gern wieder zurück. Das Leistenmüssen
       wird wieder zum Leistenwollen, das Kümmern fühlt sich weniger schwer und
       das Eingebunden sein weniger eng als selbstgewählt an. Was bleibt, ist der
       Geschmack nach bittersüß.
       
       Nora Belghaus schreibt in den nächsten Monaten als Vertretung von Alina
       Schwermer übers Gehen, Bleiben und über Reisebegegnungen.
       
       7 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Flucht-in-die-USA/!5978722
 (DIR) [2] https://www.nytimes.com/es/2023/10/03/espanol/migrantes-detenidos-testigos.html
       
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 (DIR) Nora Belghaus
       
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