# taz.de -- Israels Taktik der gezielten Tötungen: Vergeltung für jeden Angriff
       
       > Diejenigen zu töten, die Terror gegen Israelis planen und ausführen, ist
       > keine neue Taktik. Zahlt Israel dafür langfristig einen zu hohen Preis?
       
 (IMG) Bild: Der Sarg von Hamas-Führer Saleh al-Arouri wird durch Beirut getragen, 4. Januar 2023
       
       Noch sind die genauen Umstände des Todes von Salah al-Aruri am Dienstag im
       Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut nicht geklärt. Doch bezweifelt
       kaum jemand, dass Israel für das Attentat verantwortlich ist. Die Nummer
       zwei der Hamas-Führung sei bei einem „hinterhältigen israelischen Angriff“
       gestorben, erklärte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einer Rede am
       Mittwoch. Bekannt hat sich Israel zu dem mutmaßlich per Drohne erfolgten
       Angriff bisher nicht.
       
       Gezielte Tötungen gehören seit Jahrzehnten zum Repertoire israelischer
       Geheimdienste und Sicherheitsbehörden. Der Ruf des israelischen
       Auslandsgeheimdienstes Mossad beruht nicht zuletzt auf einer Reihe von
       spektakulären Attentaten und Entführungen, darunter die Festnahme [1][des
       Naziverbrechers Adolf Eichmann] in Argentinien 1960 oder der Mord an dem
       Waffenhändler Gerald Bull 1990, der für den irakischen Diktator Saddam
       Hussein Geschütze bauen wollte.
       
       Nachdem die Hamas bei ihrem beispiellosen Überfall am 7. Oktober rund 1.200
       Menschen in Israel ermordete, hatte die israelische Führung gewarnt: Die
       Drahtzieher des Angriffs sollen sich an keinem Ort der Welt mehr sicher
       fühlen. Der Angriff auf al-Aruri in Beirut zeigt, dass die Warnung wohl
       ernst zu nehmen war. Ein hoher US-Beamter ließ laut einem Bericht der New
       York Times durchblicken: „Das ist erst der Anfang, es wird Jahre so
       weitergehen.“
       
       Doch der Angriff wirft auch Fragen auf: Droht ein solches Vorgehen die
       Region weiter zu destabilisieren? Bringt es Israel mehr Sicherheit? Und ist
       es überhaupt zulässig und legitim?
       
       ## Angriff auf ein militärisches Ziel in einem verfeindeten Land
       
       Al-Aruri hatte als Vizechef innerhalb der Hamas ein offiziell eher
       politisches Amt und befand sich in Beirut zudem weitab der Kampfhandlungen.
       Israel wirft dem Mitgründer der Kassam-Brigaden aber vor, Raketenangriffe
       aus dem Libanon sowie Terroranschläge und Entführungen im Westjordanland
       koordiniert zu haben. Für die Hamas dürfte sein Tod militärisch
       Konsequenzen haben, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der
       Universität Bern. „Wegen seiner engen Beziehungen zur Hisbollah und zu den
       iranischen Revolutionsgarden könnte er nur von jemandem ersetzt werden, der
       das Vertrauen aller Seiten genießt.“
       
       Die USA hatten ein Kopfgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar auf al-Aruri
       ausgesetzt, der auch an der Entführung und Ermordung dreier Teenager im
       Westjordanland 2014 beteiligt gewesen sein soll. „Moralisch sehe ich kein
       Problem“, sagt der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen
       Universität in Jerusalem. „Juristisch war es ein Angriff auf ein
       militärisches Ziel in einem verfeindeten Land.“
       
       Gezielte Tötungen gehören zu den umstrittensten Mitteln, die demokratische
       Staaten einsetzen können. Dabei, so schreibt der israelische Journalist und
       Geheimdienstexperte Ronen Bergman in seinem Buch „Der Schattenkrieg“, habe
       kein anderer westlicher Staat dieses Mittel in den vergangenen Jahrzehnten
       häufiger genutzt als Israel.
       
       Alleine zwischen dem Ende der zweiten Intifada Mitte der 2000er Jahre bis
       2018 gab es demnach mehrere hundert solcher Operationen. Der Großteil habe
       während der regelmäßigen Auseinandersetzungen zwischen der israelischen
       Armee sowie der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad in
       Gaza (2008, 2012, 2014) stattgefunden. Außerdem habe der Mossad immer
       wieder Angriffe auf palästinensische, [2][syrische und iranische Ziele] in
       der arabischen Welt ausgeführt. Zum Vergleich: Während der Präsidentschaft
       von George W. Bush sollen die USA 48 solche Operationen umgesetzt haben,
       unter Obama seien es 353 gewesen.
       
       ## Operation Zorn Gottes
       
       Als Mittel zur Verteidigung und zur Durchsetzung der eigenen Ziele ließen
       sich gezielte Tötungen bis in die jüdischen Untergrundorganisationen
       verfolgen, die vor der Staatsgründung 1948 im britischen Mandatsgebiet
       Palästina aktiv waren, sagt Orbach. „In den frühen Jahren Israels, als
       Infiltrationen und Anschläge aus den benachbarten arabischen Staaten an der
       Tagesordnung waren, hat sich dieses Mittel etabliert.“
       
       Israels erster Regierungschef David Ben-Gurion fasste es noch 1969 düster
       zusammen: „Wir müssen ihnen zeigen, dass das Blut (jüdischer Israelis)
       nicht billig ist.“ Aus der Erfahrung zahlreicher Pogrome und des Holocausts
       sowie der Tatsache, dass der jüdische Staat auch Jahre nach seiner Gründung
       noch nicht über die Mittel verfügte, seine Bürger effektiv zu schützen,
       habe sich die Doktrin entwickelt, für jeden Angriff Vergeltung zu üben,
       sagt Orbach.
       
       Erstmals massiv gegen Palästinenser eingesetzt wurden gezielte Tötungen
       nach [3][dem Münchner Olympia-Attentat im September 1972]. Damals wurden
       während einer Geiselnahme durch palästinensische Terroristen elf
       israelische Sportler sowie ein Polizist getötet. Der Mossad stellte,
       autorisiert von Regierungschefin Golda Meir, die Sondereinheit „Caesarea“
       auf.
       
       Noch im Oktober erwarteten Agenten den Vertreter der palästinensischen
       Befreiungsorganisation PLO in Italien, Abdel Wael Zwaiter, vor seiner
       Wohnung in Rom und erschossen ihn mit zwölf Kugeln. Kurz darauf wurde der
       PLO-Repräsentant in Paris, Mahmud Hamshari, von einer in seinem
       Telefonhörer versteckten Bombe getötet. Insgesamt töteten israelische
       Agenten und Spezialeinheiten im Rahmen der „Operation Zorn Gottes“ einen
       der überlebenden Terroristen sowie zwölf mutmaßlich an der Planung des
       Attentats Beteiligte in Europa und im Nahen Osten. Dabei kamen auch
       mehrere Unschuldige ums Leben. Die Operation könnte laut Orbach als
       Blaupause für den Angriff auf al-Aruri und mögliche weitere Attentate
       dienen.
       
       ## Beirut ist wichtigstes Hamas-Machtzentrum außerhalb Gazas
       
       Ihren Höhepunkt erreichte die Praxis der gezielten Tötungen während der
       zweiten Intifada, des palästinensischen Volksaufstands Anfang der 2000er
       Jahre vor dem Hintergrund einer beispiellosen Welle von Terroranschlägen
       auf israelische Zivilisten. Das System gezielter Tötungen war laut Orbach
       zu „einer gut geölten Maschine“ geworden. Binnen fünf Jahren wurden mehrere
       hundert Mitglieder palästinensischer Organisationen und Terrorverdächtige
       gezielt getötet.
       
       2005 beschloss ein Kabinettsausschuss der israelischen Regierung unter
       Ariel Scharon mit Aussicht auf einen neuen Friedensprozess, auf gezielte
       Tötungen zu verzichten. Danach seien sie auch im Ausland zurückgegangen,
       haben aber keineswegs aufgehört, sagt Orbach. Das zeigten Attentate auf
       Wissenschaftler des iranischen Atomprogramms oder der Mord an Mohammed
       al-Mabhuh in dessen Hotelzimmer 2010 in Dubai, die Israel zugeschrieben
       werden. Al-Mabhuh gilt als Mitbegründer der Kassam-Brigaden, des
       bewaffneten Arms der Hamas.
       
       Theoretisch ist die Liste der potenziellen Ziele für weitere Attentate
       lang: Ganz oben stehen [4][Jahja Sinwar] und Mohammed Deif, die die Hamas
       und deren Kassam-Brigaden im Gazastreifen leiten und die Hauptverantwortung
       für den 7. Oktober tragen dürften. Der Großteil der Hamas-Führung aber lebt
       außerhalb des Gazastreifens. Im katarischen Doha sitzt die offizielle
       politische Führung um Hamas-Chef Ismail Hanijeh und Chalid Maschal. Sie
       gelten als offen für Verhandlungen. In Beirut hingegen existiert um Osama
       Hamdan und den getöteten al-Aruri ein radikalerer Flügel. „Doha ist zwar
       weiter für die Außenbeziehungen zuständig“, sagt Islamwissenschaftler
       Reinhard Schulze. „Beirut aber hat sich zunehmend zum wichtigsten
       Machtzentrum außerhalb von Gaza entwickelt.“
       
       Auch die Doha-Gruppe müsse mit ähnlichen Aktionen rechnen, sagt Schulze.
       Ronen Bar, der Chef von Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet, hatte
       gedroht, Hamas-Anführer auch in der Türkei und in Katar ins Visier zu
       nehmen. Solange aber noch mehr als 130 Geiseln in Gaza festgehalten würden,
       sei Katar als Kommunikationskanal für Freilassungen wichtig. Mit der Türkei
       wiederum verbindet Israel trotz eisiger Beziehungen ein großes
       Handelsvolumen. Aktuell sind dort laut Orbach öffentlich keine ausreichend
       wichtigen Zielpersonen bekannt, um diese Verbindung zu riskieren.
       
       ## Der moralische Preis und die Grenzen der Methode
       
       Wiegt der Nutzen solcher Tötungen das immense Risiko einer Ausweitung des
       Krieges in der Region auf? In der Vergangenheit sind zahlreiche
       Hamas-Anführer bei israelischen Attentaten getötet worden, darunter ihr
       Gründer Scheich Ahmad Jassin. Dennoch wurde die Organisation über die Jahre
       immer stärker und genießt auch heute unter Palästinensern viel
       Unterstützung.
       
       Geheimdienstexperte Ronen Bergmann lässt diese Frage in einem Podcast im
       Mai 2023 offen: Taktisch gebe es gute Gründe für das Mittel der gezielten
       Tötungen. Doch die Professionalität, die Israels Geheimdienste in diesem
       Feld entwickelt haben, dürfe nicht über den moralischen Preis und die
       Grenzen der Methode hinwegtäuschen.
       
       Viele israelische Politiker seien im Laufe der Jahrzehnte zu der
       gefährlichen Einschätzung gelangt, der Mossad habe die Macht, jede
       Bedrohung aus dem Weg zu räumen. „Sie haben nicht verstanden, dass es ein
       Limit gibt, bis zu dem sich Probleme mit Gewalt lösen lassen, und dass man
       seinem Gegner mitunter mit Dialog und Diplomatie begegnen muss.“
       Andernfalls laufe Israel Gefahr, auf taktischer Ebene große
       geheimdienstliche Erfolge zu feiern und dennoch langfristig und strategisch
       katastrophal zu scheitern.
       
       6 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Wellisch
       
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