# taz.de -- Ultraschall-Festival für Neue Musik: Zerrissenes Stückwerk
       
       > Zeitgenössische Musik sollte sich auch der Zeitgeschichte stellen. Beim
       > Berliner Ultraschall-Festival für Neue Musik ist davon einiges zu hören.
       
 (IMG) Bild: Vladimir Jurowski dirigiert das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
       
       Mariupol zum Beispiel. Einen Namen, den man doch fast täglich in den
       Nachrichten gehört hat während der monatelangen schweren Kämpfe um die
       Stadt. Dann wurde sie von den russischen Truppen eingenommen. Vor dem Krieg
       war Mariupol eines der wichtigsten Wirtschaftszentren der Ukraine. Jetzt
       sind weite Teile der Hafenstadt am Asowschen Meer zerstört.
       
       „Am Meer“ ist der Titel der Komposition von Olga Rayeva, am Donnerstagabend
       war sie im Großen Sendesaal des RBB im Rahmen des Ultraschall-Festivals zu
       hören. Eine Uraufführung, gespielt vom Rundfunk-Sinfonieorchster Berlin.
       
       Wenn man wollte, konnte man in der Musik auch einen Wellengang hören und im
       Quietschen der Geigen das Schreien von Möwen. Fetzen von Wehmut jedenfalls
       sammelten sich in dem Stück, das – stets stockend im Fluss – den großen
       orchestralen Apparat gar nicht wirklich nutzen wollte. Immer wieder
       splitterte die Musik auf in Einzelstimmen, man hörte traurige Bläsersignale
       und Glockenschläge. Vorbeihuschende Motive, zerrissenes Stückwerk.
       
       Wie aus der Ferne schien einen diese Musik anzuwehen. Wegsterbende Töne.
       Vielleicht Tod.
       
       In Mariupol, schreibt Olga Rayeva, sei sie in ihrer Kindheit immer
       glücklich gewesen. Die Eltern ihrer Mutter lebten dort. Und nun gibt es
       diese Stadt so gar nicht mehr.
       
       ## Keine politische Kampagne
       
       Ultraschall, das von RBB Kultur und Deutschlandfunk Kultur gemeinsam
       veranstaltete Festival, ist der Neuen, zeitgenössischen, Musik gewidmet.
       Bis Sonntag dauert das [1][auch im Radio zu hörende Festival] noch.
       
       Dass das an dem Abend zwar „keine politische Kampagne“ sei, meinte Rainer
       Pöllmann, mit Andeas Göbel Festivalleiter. „Aber doch ein Konzert, in dem
       die Zeitumstände ihre Spuren hinterlassen haben.“
       
       Wobei, so Pöllmann, gerade zeitgenössische Musik sowieso „auch einen
       gesellschaftlichen Kontext hat“. Sogar dann, wenn sie ihn negiert.
       
       Weil man halt selbst beim Komponieren gar nicht ganz raus kann aus seiner
       Zeit mit ihren Verwerfungen, den Krisen, den Hoffnungen, Utopien.
       Dazwischen immer der knirschende Alltag.
       
       In dem Stück „C-Dur“ von Alexey Retinsky, zum Auftakt des Abends wurde es
       gespielt, oszillierte der Klang von Streicherflächen zwischen ruhig
       schnaufend und schnappatmend. Gleichzeitig friedlich wiegend und doch auch
       bedrohlich, ein musikalisches Pathos wie bei einem Soundtrack zu einem
       Technicolor-Melodram blitzte auf. Und verröchelte wieder, ohne dass man das
       gleich als ironische Brechung hören wollte. Gefühlig und doch wieder nicht
       in den Stimmungen. Bestens unentschieden.
       
       ## Verpönte Gefälligkeit
       
       Wobei ja schon der Titel des Stücks eine kleine Provokation ist, ist C-Dur
       als Metapher der Gefälligkeit doch eigentlich verpönt in der Neuen Musik,
       die es sich ja eben nicht bequem machen will.
       
       Und der Hörer doch eigentlich auch nicht. Der kann ja genauso wenig aus
       seiner Zeit. In einem Selbstversuch mag man gern einmal probieren als
       rechtschaffen zerrissener Gegenwartsmensch, wie viel Barockmusik zum
       Beispiel man überhaupt aushält, ohne dass sie einen nervt in ihrem stets
       sich rundenden Glück.
       
       Wobei gar nicht gesagt sein soll, dass der Barockmensch nicht auch so seine
       Dissonanzen hatte in seinem Leben.
       
       ## Eine Musik des langen Atems
       
       Dass ein Kunstwerk eine Reflexion darüber ist, was man erlebt, sagte die in
       Teheran geborene Komponistin Farzia Fallah, deren Komposition „Traces of a
       Burning Mass“ zum Schluss des Konzerts zu hören war. Entstanden ist sie in
       der Zeit der Proteste im Iran gegen den gewaltsamen Tod von Jina Mahsa
       Amini im September 2022. Eine fauchende Musik, lauernd, immer auf dem
       Sprung, mit schrillen Lichtblitzen im Dunkeln. Sich durchaus kleine
       Triumphgesten gönnend, ohne dabei je stehen bleiben zu wollen.
       
       Und auch eine Musik des langen Atems. Des Ungewissen. Diese „Traces of a
       Burning Mass“ hatten gar kein wirkliches, irgendwie sonderlich
       ausgearbeitetes Finale.
       
       Die Musik, sie hörte einfach nur auf.
       
       19 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://ultraschallberlin.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Mauch
       
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