# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Was bleibt
       
       Es war eine einfache Beerdigung. In den Schnee hatten sie ein kleines Loch
       geschaufelt, in das nun gleich ihre Urne gesenkt werden würde. Die braune
       aufgeschüttete Erde bildete einen Kontrast zum Schnee. Marie würde keinen
       Grabstein bekommen. Das hatte sie so gewollt. Sie würde unter dieser Wiese
       liegen, die im Frühling sichtbar werden würde, wenn der Schnee wich. Eine
       Wiese auf dem Friedhof, unter der auch die Reste anderer Menschen ohne
       Grabstein lagen. Kein Stein würde an sie erinnern. Vielleicht vertraute sie
       auf die Erinnerung der Menschen. Erinnerung, die im Herzen bleibt, benötigt
       keinen bestimmten Ort oder Gegenstand.
       
       Der Schnee gab der Beerdigung etwas Feierliches, Würdevolles. Und um das
       Grab standen die Menschen, die sie liebten. Ihre Kinder. Ihre Enkel und
       Urenkel. Mehrere junge Menschen, die um sie trauerten. Die beiden jüngsten
       Kinder hatten zuvor bitterlich in der Kirche geweint und aneinander umarmt,
       als Maries Urne aufgebahrt war und die Bestatterin zu ihrem Leben
       gesprochen hatte. Das Schluchzen der Kinder hatte die Kirche erfüllt, über
       den Sätzen der Bestatterin gelegen und selbst wie eine Rede, ein Kommentar
       zu der Verstorbenen geklungen. Marie Kleinschmidt. Sie hatte das Leben
       anderer geprägt.
       
       Vor dem Grab stützten ihre Enkel die ältere von Maries Töchtern, der es
       schwerfiel, allein zum Grab zu gehen. Es war schön zu sehen, wir warmherzig
       ihre Angehörigen miteinander umgingen. Hinter der Familie mit etwas Abstand
       standen die Menschen aus dem Dorf.
       
       Marie Kleinschmidt. Eine Frau, meistens mit Kittelschürze, die fast ihr
       ganzes Leben bis kurz vor ihrem Tod in ihrem Geburtshaus in Oberdorla
       gelebt hatte.
       
       Sie war die Frau, über die ich einen Film gemacht hatte. Auf wundersame
       Weise hatten sich unsere Wege gekreuzt und damit viel bewirkt. Vor ein paar
       Jahren war sie die Straße hinuntergelaufen, mitten in die laufende Kamera
       hinein, als ich einen Mann zu einem Foto interviewte, das damals im Zweiten
       Weltkrieg an ihrer Straßenecke entstanden war.
       
       Sie erzählte uns, dass sie den toten Soldaten, der auf dem Foto zu sehen
       ist, im Krieg als Fünfjährige gesehen hatte. Marie war der Grund, warum ich
       mich entschied, einen Langfilm über die Straßenecke zu machen. Mit mir ging
       sie tief in ihre Erinnerung zurück. Wir beschäftigten uns im Grunde die
       ganze Zeit mit dem Tod und der Bedeutung von Erinnerung.
       
       Ich hatte sie sehr gemocht. Ihren Witz, ihre Fähigkeit, sich nicht so
       wichtig zu nehmen, auch das, was schwierig oder schmerzhaft war, und ganz
       selbstverständlich anderen zu helfen, sie zu stärken. Sie hatte auch mich
       gestärkt.
       
       Und nun war ich ihr so nah gekommen, dass ich an ihrem Grab stand, bei
       ihrer Familie. Wie Menschen sterben, sagt viel über ihr Leben aus. Sie war
       bei Menschen gestorben, denen sie etwas bedeutete.
       
       Es war die zweite Trauerfeier, auf der ich in diesem Winter war. Und wieder
       starrte ich auf das, was übrig war von dem Menschen, der bis vor Kurzem so
       viel gewesen war. Ein ganzes Universum. An Humor und Wissen, an Erfahrung,
       ureigenem Gefühl und Liebe, an Schmerz und Körper.
       
       Es ist eine Plattitüde, aber an jedem Grab wird mir immer wieder aufs Neue
       bewusst, dass wir nichts Irdisches mitnehmen können am Ende. Dass nur das
       bleibt, was wir in Verbindungen investiert haben. In Hingebung an eine
       Sache, an die wir geglaubt haben und die das Leben anderer berührt.
       
       Nach der Beerdigung, auf dem Weg zum gemeinsamen Kaffeetrinken im
       Gemeindesaal, nahm mich eine Bewohnerin im Auto mit. Sie kannte Marie und
       ihre Familie von klein auf. Wir schwiegen, der Schnee glitzerte im
       Sonnenlicht. „Das zeigt einem wieder, dass man vielem nicht so viel
       Bedeutung geben soll“, sagte sie plötzlich. Ihre Augen schimmerten. „Wie
       meinen Sie das?“, fragte ich. „Ja. Vieles im Alltag nicht so wichtig zu
       nehmen. Am Ende zählt etwas ganz anderes.“
       
       26 Jan 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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