# taz.de -- EKD-Bericht über Missbrauch: Gläubiges Schweigen
       
       > Die Evangelische Kirche räumt massiven sexuellen Missbrauch ein, die Rede
       > ist von über 2.000 Betroffenen. Die Dunkelziffer liegt wohl höher.
       
 (IMG) Bild: Schwere Vorwürfe: der 800-seitige Bericht der EKD
       
       BERLIN taz | Da ist Manuela Z. Sie war etwa 10 Jahre alt, als der Pfarrer
       einer kleinen Gemeinde in Brandenburg ihr zwischen die Beine griff. In den
       1970er Jahren waren nur wenige Kinder in den Nachmittagsstunden beim
       Brandenburger Dorfpfarrer, erzählte Manuela Z., die „Kirche im Sozialismus“
       spielte in der DDR damals keine sehr große Rolle. Manchmal sorgte der Mann
       dafür, dass sie, Manuela, nach dem Unterricht bei ihm blieb. Er wolle noch
       etwas mit ihr als der Ältesten in der Kindergruppe besprechen. Er nahm sie
       mit in sein Büro, sprach kurz mit ihr, griff dann an ihre Brust und ihre
       Genitalien. Aus den Berührungen wurden schon bald Vergewaltigungen,
       erzählte Manuela vor einigen Jahren der Autorin. Damals waren beide
       miteinander befreundet.
       
       Da ist die Tochter des im Westen bekannten und vielfach preisgekrönten
       Kinderbuchautors, Pen-Mitglieds und evangelischen Theologen Arnulf
       Zitelmann, deren Fall die Zeit kürzlich öffentlich gemacht hat. „Wir sitzen
       gemeinsam auf dem Rasen im Pfarrgarten. Ich bin schon größer, habe aber
       noch keine Brust. Er streichelt mir über die Brustwarzen, hinterm Ohr, an
       den Lippen und redet mit mir über erogene Zonen“, erzählte sie der
       Wochenzeitung. Eine Zeit lang sei sie „Vaters Liebling“ gewesen.
       
       Und da ist noch Detlev Zander, der zehn Jahre lang in einem evangelischem
       Kinderheim in Baden-Württemberg sexuelle, psychische und physische
       Übergriffe erlebt hatte. In seinem Roman „Und Gott schaut weg“ beschreibt
       er die heftige Gewalt, die ihm widerfahren ist. Er erzählt das alles mit
       fiktiven Personen an fiktiven Orten.
       
       Wer aber seine wirkliche Leidensgeschichte, die er vor einigen Jahren
       selbst öffentlich gemacht hat, kennt, liest aus Zanders Buch dessen eigene
       Erlebnisse heraus. Den Satz „Oben wurde gebetet, unten gefoltert“, mit dem
       er den Alltag im Kinderheim beschreibt, sagt er häufig, wenn er nach seiner
       Zeit im Heim Korntal gefragt wird.
       
       ## Wer sind die Täter:innen?
       
       Das sind nur drei Fälle von möglicherweise mehreren tausend, in denen
       Kindern sexuelle Gewalt durch Mitarbeiter:innen der evangelischen
       Kirche angetan wurde. Wie viele Betroffene sind es insgesamt? Wie konnte
       das passieren? Wie ging und geht die [1][Evangelische Kirche in
       Deutschland] (EKD) damit um? Und vor allem: Werden Täter:innen zur
       Rechenschaft gezogen?
       
       Fragen wie diese soll die rund 870 Seiten dicke [2][Studie beantworten, die
       die EKD am Donnerstagmittag in Hannover vorstellte]. Es ist die erste große
       Aufarbeitung der evangelischen Kirche, seit vor zehn Jahren massenhafte
       Missbrauchsfälle in der [3][katholischen Kirche] öffentlich geworden waren.
       Rund 3,6 Millionen Euro hat die EKD eingesetzt, um herauszufinden, wie
       viele Kinder und Jugendliche in evangelischen Einrichtungen seit 1945
       missbraucht und misshandelt worden sind. Dafür hat sie den
       [4][interdisziplinären Forschungsverbund ForuM] beauftragt, dem
       Universitäten und Hochschulen aus Hannover, Hamburg, Wuppertal, Berlin,
       München, Mannheim und Heidelberg angehören.
       
       Das Forscherteam konnte 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte ausmachen.
       Die Opfer waren im Durchschnitt 11 Jahre alt.
       
       Die Zahlen stellen nicht das „wahre Ausmaß des Missbrauchs dar“, betonte
       Martin Wazlawik, Professor für Erziehungswissenschaften an der Hochschule
       Hannover und Koordinator der ForuM-Studie, am Donnerstag bei der
       Präsentation der Studie. Die Forschenden gehen davon aus, dass die
       Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sei. Wazlawik nennt die Zahlen aus der
       Studie daher die „Spitze der Spitze des Eisberg“.
       
       Aus gutem Grund: Der Forschungsverbund konnte nur Disziplinarakten
       einsehen, also Unterlagen, die nach einem bekannt gewordenen sexuellen
       Übergriff angelegt wurden. Doch nicht jede Tat sei dokumentiert, diese
       Fälle bleiben möglicherweise für immer unentdeckt. Manche Disziplinarakten
       seien vernichtet worden, bevor die Forschergruppe sie einsehen konnte.
       
       Wazlawik beklagt zudem, dass die Forscher:innen keine Personalakten
       einsehen konnten. Personalakten, die Fehlverhalten, Versetzungen und für
       sie neue Pfarrstellen verzeichnen, offenbaren ein weitaus konkreteres Bild
       des Missbrauchs in evangelischen Heimen, Kitas, Ferienlagern, Pfarrräumen
       und Pfarrhäusern, in der Diakonie ergeben.
       
       Die Studie untersuchte nicht nur Fälle im Westen der Republik, sondern
       wollte auch einen Überblick über den Missbrauch in evangelischen
       Einrichtungen in der DDR bekommen. Allerdings wurden Missbrauchsfälle in
       der DDR weniger systematisch erfasst als im Westen.
       
       In den 70er Jahren, als Manuela Z. zum ersten Mal sexuellen Missbrauch
       durch den evangelischen Kirchenmann erlebte, wuchs in Manuelas Klasse kaum
       ein Kind mit religiösen Werten auf. In Manuelas Familie hingegen war die
       Kirche täglich präsent: ihre Eltern waren mit dem Pfarrer befreundet,
       Manuela ging erst zur Christenlehre und später zum Konfirmandenunterricht.
       Auch Manuelas zwei Jahre jüngere Schwester nahm daran teil. Beide Mädchen
       wurden vom Pfarrer jahrelang missbraucht.
       
       All das hat Manuela Z. nie der Polizei erzählt, auch nicht ihren Eltern.
       Das habe sie sich nicht gewagt. Denn irgendwann stieg auch ihr Vater zu ihr
       ins Bett, wenn die Mutter mit der kleinen Schwester unterwegs war. Von der
       EKD-Studie wird sie nichts erfahren, sie ist vor einigen Jahren an Krebs
       gestorben. Ihr Vorname wurde in diesem Text verändert.
       
       Detlev Zander hat von der EKD 20.000 Euro als Anerkennungszahlung bekommen.
       Den Betrag erkennt Zander, der einer der beiden Sprecher:innen der
       EKD-Betroffenenvertretung ist, lediglich als symbolische Entschuldigung an.
       Sein erduldetes Leid wiege diese Summe nicht auf: „Ich bin bindungsunfähig,
       kann keine Nähe zulassen und nicht mehr arbeiten.“ Nach einem Suizidversuch
       hat er beschlossen, mit dem Missbrauch an die Öffentlichkeit zu gehen.
       
       25 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Zukunft-der-Evangelischen-Kirche/!5979142
 (DIR) [2] https://forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/01/Abschlussbericht_ForuM.pdf
 (DIR) [3] /Reform-der-katholischen-Kirche/!5968594
 (DIR) [4] https://www.forum-studie.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
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