# taz.de -- Staatsgründung am 1. April: Staatsstreich in der Unterwelt
       
       > Am Flüsschen Vilnia in Vilnius rief eine Gruppe von Kreativen am 1. April
       > 1997 die „Republik Užupis“ aus. Mitgründer Romas Lileikis erinnert sich.
       
 (IMG) Bild: In vorderster Reihe und von Anfang an dabei: Romas Lileikis, Mann mit Schnauzbart und Mitgründer von Užupis, im Jahr 1995
       
       An einem kalten Januartag sitzt Romas Lileikis in einem Café in Vilnius und
       erinnert sich, wie er einst einen Staat im Staat gründete. Der litauische
       Musiker und Filmemacher ist heute 65 Jahre alt, hat graue Haare, einen
       grauen Bart und trägt einen gestreiften Wollpullover. Das Interview gibt er
       in der Užupio Kavinė – „Café Užupis“ – am Rande der historischen Altstadt.
       
       Hier, direkt am Flüsschen Vilnia gelegen, beginnt der Stadtteil Užupis,
       litauisch „Už upis“, zu deutsch „Jenseits des Flusses“. Hier saßen Lileikis
       und rund zwanzig andere junge Menschen – darunter viele Künstler – Mitte
       der Neunziger oft zusammen. Ihr Ziel: das Viertel neu gestalten.
       
       „Es war eine ziemlich kaputte und heruntergekommene Gegend, auf den
       Straßen war es gefährlich abends“, sagt Romas Lileikis. „Die meisten von
       uns waren frisch hierhergezogen, die Einheimischen waren uns feindlich
       gesinnt.“ Zu jener Zeit, nach der Unabhängigkeitserklärung Litauens 1990,
       ist die ganze Stadt im Umbruch. In Užupis – gesprochen „Uschupis“ – treffen
       viele Bevölkerungsgruppen aufeinander. Arbeiter:innen, die sich in
       Sowjetzeiten angesiedelt hatten, leben hier genauso wie Outlaws, die nicht
       ins kommunistische System gepasst hatten.
       
       Vor allem aber ziehen junge Künstler:innen wie Lileikis hierher,
       angelockt von der dort residierenden Academy of Arts und von günstigen
       Mieten.
       
       ## Idee des kleinen Staatsstreichs
       
       Lileikis will die Bewohner:innen des Viertels zusammenbringen. Also
       lädt er an Weihnachten 1996 alle zu einer Versammlung auf einem kleinen,
       zentralen Platz mit Weihnachtsbaum ein. Hunderte treffen sich dort, feiern
       eine Party. „Damit hat alles angefangen“, sagt Lileikis. „Es kamen sehr
       viele Leute, sie brachten Kuchen und anderes Essen mit. Sie waren erstaunt,
       dass in Užupis so ein Weihnachtsfest möglich ist.“ Vorher habe der Ort eher
       der urbanen Halb- und Unterwelt gehört.
       
       In jenen Tagen entsteht die Idee des kleinen Staatsstreichs von Vilnius:
       Lileikis und seine Künstlerfreunde (die meisten sind männlich) wollen die
       Unabhängigkeit von Užupis ausrufen. Am 1. April 1997 – man beachte das
       Datum – erklärt das Kollektiv das kleine Viertel, das sich auf weniger als
       1 Quadratkilometer Fläche erstreckt, zur eigenständigen Republik. „Republik
       Užupis“ ist noch heute auf einem Ortsschild zu lesen.
       
       Lileikis hat einen Ordner mitgebracht, in dem er Fotos und Dokumente aus
       jener Zeit gesammelt hat, darunter mehrere Schreiben der
       Kommunalverwaltung. „Im ersten Jahr teilten sie uns mit, wir dürften ein
       humoristisches Event veranstalten, bei dem wir die Unabhängigkeit von
       Užupis erklären. Im dritten Jahr schrieben sie nur noch: ‚Sie dürfen den
       dritten Jahrestag der unabhängigen Republik feiern.‘“ Er zeigt auf das
       behördliche Schreiben, als wolle er sagen: Hier ist unsere Unabhängigkeit
       verbrieft.
       
       ## Eine Verfassung zum Widerspiegeln
       
       Sie gaben der Republik nach und nach alles, was einen Staat ausmacht: eine
       Regierung und einen Präsidenten, der bis heute im Amt ist: Romas Lileikis.
       Eine Armee, eine Polizei, einen Geheimdienst, Pässe. Eine Staatsflagge, die
       eine Hand mit einem Loch darin zeigt. Auch eine eigene Kalenderrechnung hat
       Užupis.
       
       Am berühmtesten aber ist die Verfassung. Heute hängt sie – auf Spiegel
       gedruckt, sodass man sich selbst in ihr widerspiegeln kann – in mehr als 30
       Sprachen an den Wänden einer Straße des Viertels. Sie besteht aus 41
       Artikeln und enthält fast nur Rechte. Zum Beispiel: „Jeder Mensch hat das
       Recht, glücklich zu sein“ und „Jeder Mensch hat das Recht, unglücklich zu
       sein“. Oder: „Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie
       zu sorgen.“
       
       Das erste und wichtigste Menschenrecht ist aber: „Jeder Mensch hat das
       Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an
       jedem vorbeizufließen.“ Erst wenn sie in allen Sprachen der Welt zu lesen
       sei, sei die Verfassung vollständig, sagt Lileikis, „denn keine Sprache ist
       besser als eine andere“.
       
       ## Stadtteil mit wechselvoller Geschichte
       
       Oft wird nur die jüngere Geschichte der Unabhängigkeit des Stadtteils
       erzählt, dabei hat er eine viel längere, wechselvolle, teils tragische
       Historie, die die gesamte Stadtgeschichte widerspiegelt. An den Flüssen –
       neben der Vilnia, die der Stadt vor mehr als 700 Jahren auch ihren Namen
       gab, führt der größere Fluss Neris durch Vilnius – lassen sich zu jener
       Zeit viele Handwerker nieder, vor allem für seine vielen Lederwerkstätten
       wird Vilnius berühmt.
       
       Užupis, im 15. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, ist eine der ersten
       Ansiedlungen am Fluss Vilnia und Zentrum der Stadt. Im 19. Jahrhundert ist
       Užupis jüdisch geprägt. Die Nazis vernichten nach der Okkupation Litauens
       und Vilnius’ im Jahr 1941 fast alles jüdische Leben, auch die Synagoge wird
       zerstört. In der Sowjetzeit wird sie wieder aufgebaut, aber als Wohnhaus
       genutzt. Im 19. Jahrhundert befindet sich auch der jüdische Friedhof in
       Užupis. Er wird zu Sowjetzeiten zerstört und später als Denkmal
       wiedererrichtet.
       
       In der Zeit des Kalten Krieges wird aus Užupis eine verrufene und
       bitterarme Gegend, auch damals war der Stadtteil ein Ort der Boheme. Weil
       viele alkoholkranke Menschen in Užupis leben, nennt man das Viertel
       einer Stadtführerin zufolge zu der Zeit auch die „Leber der Stadt“.
       
       Dieser Ära ein Denkmal gesetzt hat der litauische Autor Jurgis Kunčinas in
       seinem Roman „Tūla“. Er handelt von einem durchs Leben stolpernden und
       streunenden Trinker, der den Freaks des Viertels begegnet und dessen große
       Liebe Tūla auch in Užupis wohnt. „Wenn ich dieses krakeelende,
       blutüberströmte Viertel voller Ratten und Menschen – Obdachloser, Armer,
       Kranker, Invalider, Schwachsinniger – sehe, wird mir heiß im Nacken,
       schwindlig – nein, nein, kein Lichtschimmer!“, sinniert der Ich-Erzähler.
       Er nennt Užupis einen Ort für „Satanisten, Liebespärchen (…) und
       jugendliche Gottsucher“, die schon die Nazis verfolgt und verhaftet hätten.
       
       Die 1997 ausgerufene Republik Užupis erinnert an andere Projekte nach dem
       Fall des Eisernen Vorhangs: die Bunte Republik Neustadt, die sich Anfang
       der Neunziger in Dresden gründete, oder die [1][Freie Republik Utopia] in
       Ostberlin. Auch auf den – natürlich schon älteren – [2][Freistaat
       Christiania] in Kopenhagen wird oft verwiesen, allerdings wurde Užupis im
       Gegensatz dazu niemals als autonom geduldet. Romas Lileikis sagt, wahre
       politische Macht sei auch nie ihr Anliegen gewesen: „Viele Leute haben mich
       gefragt, ob wir eine Užupis-Partei gründen wollen. Ich habe gesagt:
       Vergesst es! Užupis muss frei sein!“
       
       ## Ein Staat ohne Pflichten
       
       Lileikis ist eher philosophischer Freigeist als Pragmatiker. „Das Leben
       besteht aus Paradoxen, die Republik und ihre Verfassung bestehen aus
       Paradoxen“, sagt er. Mit Parteiprogrammen oder Ideologien vertrage sich das
       nicht. Er verweist auch auf die zweite Bedeutung des Wortes „už“, litauisch
       heißt es auch „für“. Lileikis interpretiert es so: Man könne sich
       widersetzen, indem man für den eigenen Lebensentwurf einstehe.
       
       Ein Freund von ihm, der Kunsthistoriker Saulius Pilinkus, ist ebenfalls
       Teil des Gründungskollektivs. Pilinkus berichtet im Gespräch stolz von
       seiner Karriere als Armee- und Geheimdienstchef von Užupis. Zum Anführer
       der berittenen Armee wurde er, weil er als Einziger ein Pferd reiten
       konnte, zum Secret-Service-Chef hat er sich irgendwann einfach selbst
       ernannt. Pilinkus betont den utopischen Geist der Gründungsidee: „Wir
       wollten einen Ort schaffen, an dem man nicht übers Geschäftemachen spricht,
       sondern über den Sinn des Lebens diskutiert“, sagt er.
       
       Vor allem brachte das Kollektiv jede Menge Kunst nach Užupis. Zu Ehren des
       dort beheimateten Dichters Zenonas Šteinys errichteten sie eine
       Engelsstatue im Ortskern. Auch Skulpturen, etwa eine Waschmaschine, die aus
       einem dicken Steinklotz besteht, und viel Street Art finden sich heute in
       dem Stadtteil. Eine überdachte Brücke mit diagonalen Metallstreben heißt
       „Fluxus-Brücke“ – benannt nach der Avantgardebewegung, die der
       amerikanisch-litauische Künstler George Maciunas in den sechziger Jahren
       entscheidend prägte.
       
       Ein großes Porträt von Jonas Mekas, dem anderen großen Fluxus-Künstler
       litauischer Herkunft, prangt in einer Gasse. Von der Brücke nahe dem Café
       Užupis baumelt eine bunt bemalte Schaukel, auf der man im Sommer die Füße
       in die rauschende Vilnia tauchen kann. Den Begriff einer Künstlerrepublik
       lehnt Romas Lileikis aber ab: „Es ist ein Ort für Kreativität. Das ist ein
       Unterschied. Kreativ sein kann jeder und jede“, sagt er.
       
       Doch wie viel ist vom Sponti-Spirit der Gründer heute noch übrig?
       
       Užupis ist über die Jahre zu einem touristischen Hotspot geworden.
       Besucher:innen kaufen Andenken an die fiktive Republik im
       Souvernirladen an der Republikgrenze, der Dalai Lama war zu Besuch, Papst
       Franziskus hat die Verfassung auf Lateinisch geweiht. Die Stadt vermarktet
       Užupis offensiv. Der Stadtteil zählt zu den beliebtesten Wohngegenden von
       Vilnius, viele neue Häuser mit teuren Wohnungen wurden hier gebaut. Sie
       stehen nun neben alten Holzhäusern aus dem 19. Jahrhundert und
       schrammeligen Altbauten.
       
       ## Feste werden immer gefeiert
       
       Doch die Feste von damals werden noch immer gefeiert: Der Užupis’ Summer
       Day of Culture und andere Festivals finden jährlich statt – und natürlich
       die Parade zum 1. April, dem Nationalfeiertag. An ihr nimmt Saulius
       Pilinkus immer noch gelegentlich teil. Die Gründergeneration ist aber eher
       ein Relikt aus alten Zeiten. „Das ist ähnlich wie mit den amerikanischen
       Indigenen, die in der Prärie oder in den Bergen leben und für Touristen
       tanzen“, sagt er. „Heutzutage ist diese Republik wie ein Echo aus der
       Vergangenheit.“
       
       Für Saulius Pilinkus ging die große Zeit der Freien Republik Užupis etwa
       Mitte der nuller Jahre zu Ende. Die Gründer:innen sind älter geworden,
       widmen sich anderen Projekten. Pilinkus war lange bei den Kulturbehörden in
       Vilnius beschäftigt, arbeitete bei der litauischen Botschaft in Israel, hat
       heute eine eigene TV-Show im litauischen Fernsehen. „Die Republik Užupis
       war wie ein Kindheitsprojekt, wir konnten uns austoben und haben die
       Freiräume genutzt“, sagt er. „Ich habe an verschiedenen Orten in der Welt
       gelebt. Aber egal, wo ich war, ich habe mich immer wie ein Bürger dieser
       Republik gefühlt.“
       
       Auch für Romas Lileikis bleibt Užupis als Einstellung, als
       „Bewusstseinsfeld“ bestehen, wie er sagt. Bürger oder Bürgerin von Užupis
       könne jeder und jede werden, unabhängig vom Wohnort. Užupis biete jedes
       Jahr die Gelegenheit, sich neu zu erfinden: an Neujahr, das nach
       Užupis-Zeitrechnung am 21. März gefeiert wird. „Einmal im Jahr bricht die
       alte Ordnung, und man muss eine neue Ordnung errichten. Man kann seine
       alten persönlichen Stereotype und Klischees ablegen und neue Stereotype und
       Klischees annehmen“, sagt er und grinst vor sich hin.
       
       Für solche Ideen hat es sich doch gelohnt, vor 27 Jahren einen Staat im
       Staate gegründet zu haben.
       
       30 Jan 2024
       
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