# taz.de -- Musikszene Litauens: Spirit der Community
       
       > Rumoren in den Nischen: Ein Streifzug durch die vielstimmige Musikszene
       > der litauischen Hauptstadt Vilnius.
       
 (IMG) Bild: Santaka sind v.l.n.r. Manfredas Bajelis und Marijus Aleksa, bei der Plattentaufe in Vilnius
       
       Ein Kellerklub in der Altstadt von Vilnius vor wenigen Wochen. Das orange
       Licht ist gedimmt, die Luft vernebelt. Wie Operationsbesteck reihen sich
       auf einem langen Tisch auf der Bühne Effektgeräte, Synthesizer, Becken,
       kleine Trommeln und Drumsticks aneinander. Damit werkeln die litauischen
       Musiker Marijus Aleksa und Manfredas Bajelis.
       
       Bajelis dreht an Knöpfen und sampelt Chorgesang, Aleksa schlägt einen Gong,
       klopft mit seinen Sticks auf kleine Becken, die auf Stoff platziert sind.
       Rund 150 Besucher:innen sind gekommen, viele jung, mit hippen Klamotten
       und Frisuren. Es klickert und klackert, rumort und rauscht im Raum,
       gläserne Sounds wechseln sich ab mit galoppierenden Trommeln.
       Streichersounds ertönen, die Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“
       entstammen könnten.
       
       Marijus Aleksa und Manfredas Bajelis – Künstlername Manfredas – sind zwei
       Schlüsselfiguren der litauischen Musikszene. Die beiden Künstler bilden
       neuerdings zusammen das Duo Santaka, das in einem ehemaligen Jazzklub seine
       neue EP vorstellt – Neuinterpretationen von Stücken des litauischen
       Komponisten Rytis Mažulis und des Melos Collective aus Vilnius. Aleksa
       lebte lange in London und war dort Teil der weltweit gerühmten jungen
       Jazzszene, tourte unter anderem mit dem Pianisten Joe Armon Jones und dem
       Musiker Anthony Joseph.
       
       Nun ist Aleksa zurück in Vilnius, 2023 war ein produktives Jahr für ihn: Er
       hat zwei Soloalben und drei EPs mit Santaka veröffentlicht. Auch Manfredas
       zählt als House-DJ und Produzent verquirlter elektronischer Sounds zu den
       bekanntesten Musikexporten Litauens, er ist zudem Mitgründer von Radio
       Vilnius, dem interessantesten Onlinesender des 2,8-Millionen-Landes im
       Baltikum.
       
       ## Nachwirken des sowjetischen Traumas
       
       Wenige Tage vor dem Konzert, ein Proberaum über dem Club Tamsta in der
       historischen Altstadt. Marijus Aleksa sitzt zwischen seinen Schlagzeugen
       und Keyboards, der 38-jährige Drummer trägt, wie fast immer, eine
       Baumwollmütze. Aleksa denkt darüber nach, was den „Sound of Vilnius“
       ausmachen könnte.
       
       [1][„Die Stadt ist gerade erst dabei, zu ihrer eigenen musikalischen
       Subkultur zu finden. Es hat nach der neuerlichen Unabhängigkeit 30 Jahre
       gebraucht, um zu verinnerlichen, dass man als Litauer, als Künstler aus
       Vilnius etwas Interessantes kreieren kann“, sagt er.] Lange habe das
       koloniale Trauma der Sowjetunion nachgewirkt, man habe stets
       eingetrichtert bekommen, dass alles, was aus dem Ausland kommt, besser sei.
       
       „Doch jetzt beginnt die junge Generation, ihr Selbstbewusstsein zu
       entwickeln. Die nachrückenden Künstler sind auf der Suche, wer sie in der
       Musik sind. Sie gehen eigene Wege – endlich.“
       
       Auch deshalb ist die litauische Hauptstadt musikalisch eine Stadt des
       Ausprobierens und Austüftelns geworden und hätte international viel mehr
       Aufmerksamkeit verdient. Für die Größe der Stadt – Vilnius hat rund 550.000
       Einwohner:innen – gibt es sehr viel hörenswerte Musik: Ein aufregendes
       In-, Neben- und Durcheinander von Ambient, Jazz, Elektroakustischem,
       Postpunk und Noise.
       
       ## Abseitige Sound Artists
       
       Dazu zählen Reihen wie die von Komponist und Saxofonist Liudas Mockūnas
       gegründeten Klangabende Improdimensija oder die seit vielen Jahren
       etablierten Minimal Mondays, auch in der Galerie Studium P finden Konzerte
       statt. Einer der angesagten Orte ist „Sodas2123“, in dem litauische
       Punk-Ska-Legenden wie Dr. Green genauso zu hören sind wie Chor- und
       Vokalmusik.
       
       Clubs wie das „Loftas“, die „Gallery 1986“ und der „Opium Club“ sind längst
       etabliert. Im Stadtteil Kirtimai findet zudem regelmäßig die Reihe
       Susikirtimai („Kreuzungen“) statt – an kalten Winterabenden verirren sich
       zwar nur wenige dorthin, aber man kann abseitige Sound Artists wie Benas
       Buivydas (alias Current b-lectric) und den Field-Recordings-Tüftler Yiorgis
       Sakellariou entdecken.
       
       Veranstalter Paulius Burakas sagt, dank staatlicher Kulturförderung könne
       er ungewöhnlichen und nischigen Künstlern, Sounds und Projekten eine Bühne
       bieten. Auch Formate wie das jährliche Festival „Braillė Satellitė“, das
       Videoprojekt der Antidote Community, bei dem DJs und Produzent:innen
       charakteristische Orte der Stadt bespielen, sind erwähnenswert – und
       dennoch wären in dieser Aufzählung bei Weitem nicht alle Formate genannt.
       
       Weil Vilnius überschaubar ist, mischen sich die Szenen und werden
       ungewöhnliche Kollaborationen möglich – so wie jetzt bei Santaka. „Santaka“
       bedeutet auf Deutsch „Zusammenfluss“. „Die Hauptidee von Santaka ist, dass
       die Szenen von Manfredas und mir miteinander in Berührung kommen, also
       Clubklänge mit Live-Percussion und litauischem Jazz zusammenfinden“, sagt
       Aleksa.
       
       Zwei bekannte litauische Avantgardemusiker – die beiden
       Perkussionisten/Drummer Dalius Naujokaitis (Naujo) und Vladimir Tarasov –
       seien wichtige Einflussgrößen, genauso internationale elektronische Musik.
       Vladimir Tarasov ist auch ein wichtiger Link zum Jazz in Sowjetzeiten: Der
       heute 76-Jährige war von den 1970ern an Teil des Ganelin Trio, eines der
       mutigsten und progressivsten Jazzensembles jener Zeit.
       
       ## Frische Genre-Mischungen
       
       Auch in anderen Kontexten entstehen frische, neue Mischungen. Das fast
       meditative Flötentrio Fleitų 3 etwa entstammt dem gleichen Dunstkreis wie
       die grundnervöse Band Sneeze Etiquette mit ihren doppelten Drums und
       Synthesizern. Jazz-Prog-Gruppen wie Džiazlaif („Jazz Life“) und
       Kanalizacija biegen dagegen eher Richtung Noise ab.
       
       Daneben stehen Gruppen wie das Ambient-Elektronik-Duo Ambulance on Fire und
       das Riot-Grrrl-Pop-Trio Shishi für einen eigenwilligen Sound. Die beiden
       Letzteren bestehen ausschließlich aus Frauen, wobei der Anteil an
       Musikerinnen in der Szene erst allmählich zuzunehmen scheint.
       
       Mitte Dezember, im „XI20“ nahe dem Hauptbahnhof. Es ist einer der ältesten
       Undergroundclubs der Stadt, die Wände sind mit Tags, Graffiti und Street
       Art verziert. Das junge Trio Sheep Got Waxed tritt vor etwa 50 Fans auf.
       Seine Musik ist ein Auf und Ab, ein Hin und Her, changiert zwischen laut
       und leise. Es gibt doomigen Jazz und Progrock genauso zu hören wie
       House-Sounds. Saxofonist und Keyboarder Simonas Šipavičius sampelt
       zwischendurch immer wieder Geräusche aus dem Konzertraum und seine Ansagen.
       
       Wie ein Spielkind bedient er die Pads des MIDI-Controllers. Gitarrist
       Paulius Vaškas ist für die Staccato-Akkorde zuständig, Schlagzeuger Adas
       Gecevičius reibt mal mit Jazzbesen über das Snare-Fell, dann spielt er
       harte Breakbeats, schließlich streichelt er mit Fellkopf-Schlegeln über die
       Becken. Sheep Got Waxed spielen Songs ihres Albums „More Chews“ (2022) und
       improvisieren dazu, das Publikum lässt sie erst nach etwa eineinhalb
       Stunden wieder von der Bühne. Ihre komplexen Klänge hätten mehr
       Hörer:innen verdient.
       
       ## Radio Vilnius sendet in die Welt
       
       Radio Vilnius, ein von Vilnius aus operierender Internetsender, dessen
       herausforderndes und vielfältiges Programm begeistert, wäre ebenfalls eine
       größere Hörerschaft zu wünschen. Eingerichtet hat sich der Sender im
       kleinen Anbau eines Geländes in der Neustadt, das zu Sowjetzeiten für eine
       geheime Funktechnikanlage genutzt worden sein soll.
       
       Manfredas Bajelis sitzt an einem Wintermorgen vor Reglern und
       Plattenspielern im Studio, gemeinsam mit Kotryna Briedytė hat er den Sender
       in den vergangenen drei Jahren aufgebaut. „Radio Vilnius hat den Spirit
       eines Community-Radios, es bringt ganz unterschiedliche Leute und Musiken
       zusammen“, sagt er. „Zunächst dachten wir, wir wollen die litauische
       Elektronikszene der Welt da draußen zeigen. Aber wir merkten, dass wir uns
       erst mal lokal etablieren müssen.“
       
       Bajelis, 41-jährig, hat während seines Erwachsenenlebens bereits für
       verschiedene Radiosender gearbeitet. Heute ist er vor allem als DJ und
       Produzent bekannt, legt weltweit in Clubs auf, bringt dabei
       unterscheidliche Stile wie House, Jazz, Minimal und Cold Wave zusammen. Nun
       arbeitet er auch daran, Radio Vilnius im Netz weiterzuentwickeln.
       
       Mit einem IT-Entwickler tüftelt er etwa an einem Algorithmus, der das
       (nicht kuratierte) Nachtprogramm noch besser bespielt. Ein Ziel von Radio
       Vilnius ist es, eine UKW-Frequenz zu bekommen. Auch ein Label ist an das
       Radio angeschlossen: Bald soll es eine Kompilation der
       Radio-Vilnius-Programmmacher:innen geben.
       
       Für Bajelis hat Radio Vilnius auch mit Archäologie zu tun. „Es geht uns
       darum, den Menschen Nischenmusik nahezubringen, die sie vielleicht vorher
       noch nicht kannten.“ Abgrenzungen gibt es dabei kaum: Ambient, Noise,
       House, Pop, Neue Musik und sogar litauischer Schlager – alles steht hier
       nebeneinander. Der Name des Senders ist somit als Statement zu verstehen:
       für eine vielstimmige und -schichtige Musikstadt. Eine solche ist Litauens
       Hauptstadt Vilnius unzweifelhaft.
       
       2 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Jazzfest-Vilnius/!5893520
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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