# taz.de -- Vor der Präsidentschaftswahl in Russland: Der Wackelkandidat des Friedens
       
       > Dank Boris Nadeschdin reden plötzlich Tausende Russ*innen von Krieg und
       > Frieden in der Ukraine. Er will Putin die Stirn bieten. Wer ist der Mann?
       
 (IMG) Bild: Nadeschdin spricht von Verhandlungen mit der Ukraine, schweigt aber vom sofortigen Abzug russischer Truppen
       
       MOSKAU taz | „Wenigstens so“, „wenigstens etwas tun“, „wenigstens einer,
       der sich traut und offen gegen den Krieg ist“: Die Menschen stehen
       stundenlang in der Kälte, quer durch Russland. Sie scherzen, sie
       diskutieren, und ihre Sätze klingen ähnlich, egal, ob am Ural in
       Tscheljabinsk, in Jakutsk bei knapp minus 50 Grad oder in Moskau. Selbst im
       georgischen Tbilissi oder in Belgrad in Serbien. Sie sagen „Putin muss
       weg“, „der Krieg ist ein Fehler, wir sind gegen ihn“.
       
       Solche Sätze wurden lange nicht mehr in der russischen Öffentlichkeit
       gesagt. Russlands repressive Gesetze sorgen dafür, dass jegliche Kritik am
       russischen Überfall auf die Ukraine schnell als „Diskreditierung der
       russischen Armee“ geahndet wird und das Wort „Krieg“ verboten ist. Warum
       also jetzt?
       
       Es liegt an Boris Nadeschdin, der ein „Wunder“ vollbracht hat, wie er
       selbst es mit einer gewissen Großspurigkeit nennt. Für den untersetzten
       60-Jährigen „ohne Charisma“ – auch das seine eigene Beschreibung – stellen
       sich derzeit Tausende von Menschen in die Schlange, weil sie Hoffnung
       hegen.
       
       Die Präsidentschaftswahl vom 15. bis 17. März ist eine Art Volksbefragung
       mit festgelegtem Ausgang. Nadeschdin will dabei dem russischen Präsidenten
       Wladimir Putin dennoch die Stirn bieten. Die erste Hürde dafür hat der
       liberal-patriotische Lokalpolitiker aus einem Vorort von Moskau bereits
       genommen: Er darf Unterschriften für seine Kandidatur sammeln. Die
       [1][Fernsehjournalistin Jekaterina Dunzowa], die sich ähnlich äußerte,
       durfte nicht einmal das. „Sie sind noch jung, Sie haben noch alles vor
       sich“, hatte die Wahlkommissionsvorsitzende Ella Pamfilowa gesagt und
       Dunzowas Absichten im Dezember zunichtegemacht.
       
       ## Vom Hofnarren zum Hoffnungsträger
       
       Jung und unbekannt ist Nadeschdin nicht. Seit den 1990ern macht er
       Politik, war einst Berater des [2][2015 ermordeten liberalen Politikers
       Boris Nemzow] und stand auch an der Seite des loyalen Sergei Kirijenko,
       heute mächtiger Chef über die russische Innenpolitik im Kreml. Er macht
       seit Jahrzehnten Lokalpolitik, saß bis 2003 für die liberale Partei „Union
       der Rechten Kräfte“ in der Staatsduma, versuchte sich 2018 bei der
       Gouverneurswahl im Moskauer Umland und landete auf dem letzten Platz.
       
       Vor der Präsidentschaftswahl 2012 wollte er noch zur Vertrauensperson
       Putins bestimmt werden. Heute sagt er, Putin müsse seinen Posten räumen,
       und nennt den Krieg in der Ukraine – er sagt gesetzeskonform „militärische
       Spezialoperation“ – einen „fatalen Fehler Putins“.
       
       Jahrelang gab Nadeschdin den Hofnarren, ließ sich von staatlichen
       Fernsehsendern einladen und dort für seine kritischen Positionen
       niederbrüllen. Er ging trotzdem immer wieder hin – bis er in einer Sendung
       im Mai 2023 forderte, Putin auszutauschen.
       
       Nun redet er vor allem in den Youtube-Sendungen exilierter russischer
       Journalist*innen, die der russische Staat vielfach zu „ausländischen
       Agenten“ abgestempelt hat. [3][Nadeschdin erzählt ihnen, dass er als
       Präsident alle Politgefangenen freilassen], Verhandlungen mit der Ukraine
       führen und die Mobilisierung einstellen werde.
       
       Vom sofortigen Abzug russischer Truppen spricht er nicht. Stattdessen
       wiederholt er gern, dass er „russischer Patriot“ sei und sich an die
       Verfassung seines Landes halten werde. Darin gelten die von Russland
       besetzten ukrainischen Gebiete, selbst nur die teils eroberten, als
       russisches Territorium. „Ich fühle die Verantwortung für Millionen von
       Menschen“, sagt Nadeschdin in seinen Interviews.
       
       Die geforderten 100.000 Unterschriften hat er bereits gesammelt. Wohl auch
       deshalb selbst für ihn so unerwartet schnell, weil russische
       Oppositionspolitiker*innen aus dem Exil – von den
       Mitstreiter*innen Alexei Nawalnys bis hin zum einstigen Ölmagnaten
       Michail Chodorkowski – sich für Nadeschdin ausgesprochen haben. Nicht weil
       sie ihn und seine Ansichten überzeugend finden, sondern weil sie in seiner
       Kampagne einen legalen Protest gegen Putins Regime sehen. Die Unterschrift
       für Nadeschdin ist eine Stimme gegen Putin.
       
       ## Hauptsache, Opposition gegen Putin
       
       Indem sie in der Kälte anstehen, wehren sich viele Russ*innen gegen den
       politischen Stillstand. Es zeigt ihnen, dass sie mit ihrer kremlkritischen
       Meinung nicht allein sind. Nadeschdin selbst interessiert kaum jemanden.
       „Da könnte auch ein Meerschweinchen antreten, Hauptsache, es ist nicht
       Putin“, spottet einer.
       
       Dass Nadeschdin die nächste Hürde packt, als Kandidat registriert wird,
       zweifeln die meisten an, die sich für den 60-Jährigen einsetzen. Zu oft
       haben sie erlebt, wie die Wahlkommission die gesammelten Unterschriften
       wegen Formfehlern ablehnt. Einige halten Nadeschdin auch für einen
       Testballon des Kremls, um ein Gefühl für die Proteststimmung kurz vor der
       „Wahl“ zu bekommen. Nadeschdin selbst sagt in gewohnt selbstgefälligem Ton:
       „Jetzt hat eine echte Politik angefangen.“
       
       Auf die Frage, was er tun werde, wenn die Regierung doch zu ihrem gängigen
       Knüppel greift und die Unterschriften ablehnt, bleibt Nadeschdin derweil
       ungewohnt stumm.
       
       29 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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