# taz.de -- Der Hausbesuch: Sich bloß nicht einfangen lassen
       
       > Michael und Mirja Küster wollten ausbrechen aus der Kleinfamilie. Seit
       > 2022 leben sie in einem Wohnprojekt im Schwarzwald und lernen dazu.
       
 (IMG) Bild: Als Familie müssen sie sich im Wohnprojekt neu finden und erfinden
       
       Sie haben sich in ein Abenteuer gestürzt, für das sie nicht weit reisen
       mussten. Der Schwarzwald ist spannend genug.
       
       Draußen: Eine Landstraße schlängelt sich von Kenzigen aus den Schwarzwald
       hinauf. Vor dem Ort Bleichheim taucht rechterhand ein Gebäudekomplex auf:
       zwei große Fachwerkhäuser, davor ein Gemüsegarten, in dem eine große
       Holzskulptur auf einem Baumstumpf thront. Lichterketten sind über den Hof
       gespannt. Hier entsteht seit anderthalb Jahren das Wohn- und Kulturprojekt
       Kirnhalden.
       
       Drinnen: Ein Flur, wo Fotos der Bewohner und Bewohnerinnen hängen, führt in
       das Hauptgebäude. Es erinnert an eine alte Schule: hohe Decken, Gänge und
       eine dunkelbraune Treppe in der Mitte. Ein großes Schuhregal steht rechts
       am Eingang, daneben ein Raum als Garderobe, mit unzähligen Jacken. Links
       befindet sich ein kleiner Saal, der auch für öffentliche Veranstaltungen
       genutzt wird. Im ersten und zweiten Stockwerk ist der Wohnbereich der
       aktuell 18 Bewohner*innen. Michael und Mirja Küster leben mit ihren Kindern
       Thjorben und Runa in der ersten Etage.
       
       Wurzeln: Sowohl Mirja Küster als auch ihr Mann, von allen „Michel“ genannt,
       sind im Umland von Freiburg geboren. Als er 19 Jahre alt war, starb seine
       Mutter. „Ich saß bei ihr am Bett, als sie ging, es war ein sehr friedlicher
       Moment“, sagt er. Nach ihrem Tod zog er aus. „Ich habe mehrere Geschwister,
       die es nicht so einfach haben, und ich musste aus dem Kontext ausbrechen.“
       Mirjas Eltern wiederum haben sich in Schottland kennengelernt; als Kind
       besuchte sie mit ihnen unterschiedliche Wohngemeinschaften. „Für ein
       längeres Praktikum bin ich dann in die Schweiz in das Ökodorf Sennrüti
       gegangen.“
       
       Wahnsinn: „Meine Eltern sagen, dass sie es schön finden, was wir hier
       machen, aber dass es auch Wahnsinn ist“, sagt Mirja Küster. Das vier Hektar
       große Gelände umfasst neben den vier Gebäuden, davon zwei denkmalgeschützt,
       mehrere Wiesen und ein Stück Wald. Im März letzten Jahres hat das
       Wohnprojekt die geschichtsträchtige Immobilie für 1,5 Millionen Euro
       gekauft. Monatelang sammelten sie dafür Privatkredite. „Für die zweite
       Finanzierungsphase suchen wir gerade wieder Direktkredite, damit Café- und
       Seminarbetrieb entstehen können.“
       
       Die Idee: Eigentlich war die Idee, in einer Gemeinschaft zu leben, schon
       immer da. „Wir haben das schon als Kinder gesagt“, sagt Mirja Küster. Sie
       und ihr Mann trafen sich über mehrere Jahre regelmäßig mit Bekannten,
       Freundinnen und Freunden, um sich über ein Zusammenleben auszutauschen.
       Besonders bewusst wurde Mirja der Wunsch nach Gemeinschaft, als sie allein
       mit Michel in Bocholt lebte. „Wir waren neu in der Stadt, Michel hat
       studiert und ich war mit unserem ersten Kind zu Hause. Damals war ich sehr
       einsam und habe festgestellt, dass ich so nicht leben möchte.“
       
       Gemeinschaft: Für die beiden hat das Leben in einer Gemeinschaft viele
       Vorteile: im Wechsel macht eine Person die Arbeit für viele, wie etwa
       Kochen. Besonders ist für sie der soziale Mehrwert: „Wenn jemand fehlt,
       fällt es einem auf und dann fragt man sich, ob alles in Ordnung ist“, sagt
       Mirja. Michel ist es besonders wichtig, den Gemeinschaftsgedanken
       weiterzutragen. „Was ist, was bedeutet Gemeinschaft? Und kann das auch für
       andere passen? Ich sehe Kirnhalden als Transportmedium für diese
       Auseinandersetzung.“
       
       Geld: Das Transportmedium ist aber nicht umsonst. „Es sind andere
       Dimensionen, wenn wir über die Finanzierung sprechen, die sich auf mehrere
       Millionen beläuft. Dass muss man erst in seinen Kopf kriegen“, sagt Michel.
       Die Gemeinschaft hat neben einem Verein auch eine Genossenschaft gegründet.
       Jeder, der in dem Projekt wohnt, zahlt demnach einen Genossenschaftsanteil
       ein für mindestens 20.000 Euro; viele haben mehr eingezahlt. „Das Gute ist,
       dass wir einen Refinanzierungsplan haben. Wenn ich das als Einzelperson
       tragen müsste, würde ich aussteigen.“ Die gewerbliche Vermietung von
       Räumen, ein Seminarbetrieb und ein Café sollen das Projekt neben den
       Mieteinnahmen finanziell tragen. In der Gruppe hätten sie eine sehr offene
       Kommunikation über Geld. Es wird darüber gesprochen, wie viel wer verdiene
       und wie man gelernt habe, mit Geld umzugehen. „Das schafft Vertrauen“, sagt
       Mirja. Wer hier wohnt, zahlt eine solidarische Miete, also so viel er oder
       sie kann, durchschnittlich etwa 450 Euro.
       
       Arbeit: In Kirnhalden bringen sich alle mit ihren Fähigkeiten ein. Von
       Bauplanung über Finanzierung bis zu Gruppenprozessen gibt es zuständige
       Teams – die „Utopienverwirklicher:innen“, kurz „UVis“. „Der Begriff kommt
       von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, an der meine Schwester
       studierte. Irgendwann hat sich der Arbeitstitel erhalten“, sagt Mirja.
       
       Fähigkeiten: Michel ist Arborist. In Kirnhalden aber Hausmeister,
       Bauplaner, Buchhalter, Heizungsmonteur, Vorstandsmitglied der
       Genossenschaft. Ab und zu arbeitet er auch für eine externe Heizungsfirma
       als Aushilfe. „Ich bin fast 100 Prozent im Projekt, manchmal auch 200.“ Die
       Arbeit als Baumpfleger vermisse er schon, aber es gebe auf dem Gelände viel
       Grünfläche zu beplanen. Dass er sich schnell für vieles verantwortlich
       fühlt und einen Hang zur Detailverliebtheit hat, zeigt sich an seiner Art
       zu erzählen. Wo Mirja Küster einen Punkt setzt, setzt Michel ein Komma und
       fährt fort. Mirja arbeitet Vollzeit als Bäckerin im Nachbarort. Im Projekt
       ist sie im Vorstand, hilft bei der Finanzplanung, kümmert sich mit um
       Veranstaltungen und Plena.
       
       Prozesse: Eine Arbeitsgruppe setzt sich mit sozialen Themen auseinander und
       sorgt dafür, dass es für alle die Möglichkeit gibt, Bedenken zu äußern.
       „Wir achten darauf, dass es an den Plenumswochenenden immer Raum dafür
       gibt, auch dann, wenn wir merken, es brennt irgendwo“, erklärt Mirja. Ihre
       zehnjährige Tochter Runa, die sich bisher ruhig an sie lehnte, fragt
       erschrocken: „Was soll denn brennen, Mama?“
       
       Liebe und Zeit: Ihr Leben als Paar und als Eltern haben Mirja und Michel in
       Kirnhalden neu ausloten müssen. „Wir mussten lernen, uns gezielt Zeit
       füreinander zu nehmen“, sagt Michel. Ohne Planung funktioniere das nicht,
       sagt Mirja. „Und ich muss lernen, auch mal Sachen liegen zu lassen“,
       ergänzt Michel. „Bei den Kindern dürfen wir auch den Punkt nicht verpassen,
       sie einzufangen, wenn sie draußen spielen, um noch Zeit als Familie zu
       verbringen. „Uns einfangen? Uns kann man nicht einfangen!“, ruft Runa
       dazwischen.
       
       Ein offener Ort: „Als Gruppe stellen wir uns auch der Möglichkeit, dass es
       nicht funktionieren könnte. Aber es ist ein Stück unseres Idealismus, dass
       wir uns trotzdem reinstürzen.“ Michel wünscht sich, dass es ein Ort der
       Begegnung und des Austausches wird. „Kirnhalden braucht das Öffentliche mit
       Kulturbetrieb und dem Café.“ Als Michel diesen Satz beendet, ruft Thjorben,
       der Sohn der beiden, durch den Flur: „Es gibt Essen!“.Wenig später platzt
       er ins Wohnzimmer: „Kommt ihr?!“
       
       28 Jan 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sara Rahnenführer
       
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