# taz.de -- Der Hausbesuch: Nicht Mitglied, sondern „Mitklit“
       
       > Kassandra Hammel birgt feministische Schätze aus einem lange vergessenen
       > Archiv in Freiburg. Dort verbringt die Historikerin mehr Zeit als daheim.
       
 (IMG) Bild: Kassandra Hammel trägt zum Arbeiten am liebsten ihren Overall: „Dann habe ich mehr das Gefühl des Herumwerkelns“
       
       Frauen wie die Historikerin Kassandra Hammel sorgen dafür, dass soziale
       Bewegungen ein Gedächtnis haben. Zu Besuch in einem Freiburger Archiv.
       
       Draußen: Unter der großen Linde in der Mitte des Hofes sind alle Bänke
       belegt. Ein Mann läuft auf und ab, eine Frau mit Kinderwagen steht am Rand.
       Sie warten. Neben der Asylberatung hat hier in Freiburg eines der ältesten
       freien Radios Deutschlands – [1][das Radio Dreyeckland] – seine Studios.
       
       Drinnen: Kassandra Hammel arbeitet in den Räumen des Archivs Soziale
       Bewegungen, gegenüber von Radio und Asylberatung. „Hier bin ich häufiger
       als zu Hause“, sagt sie bei der Begrüßung im Erdgeschoss, zwischen hohen
       Metallregalen voller Akten. Oben im ersten Stock sind Büro und
       Konferenztisch, unten, im Keller, ist das feministische Archiv
       untergebracht. Die 31-Jährige kramt ein Transparent hervor, das sie bald
       wieder ins Fenster hängen will: pink und lila auf weißem Grund die
       Schriftzüge „Fem-Werkstatt – Archiv soziale Bewegungen“.
       
       Dorfkind: Aufgewachsen ist Kassandra Hammel in Hälden, einem
       60-Einwohner-Weiler in der Nähe von Heilbronn. Die Großeltern betreiben
       Landwirtschaft. Der Vater geht einen anderen Weg, studiert
       Informationstechnik, arbeitet bei der Telekom, dann bei Bosch. Die Mutter
       kümmert sich um die Kinder und um den Weinberg ihrer Eltern, später kommen
       Streuobstwiesen, Pferde und Kartoffeln dazu. Kassandra spielt mit ihren
       Cousinen, Platz gibt’s genug. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie älter
       wurde: „Es war schwierig wegzukommen.“ Mit 17 macht sie den Führerschein.
       
       Tragische Heldin: Immer wenn es irgendwo Schlüsselanhänger, Tassen und
       Plüschtiere mit Vornamen darauf zu kaufen gibt, kann sie ihren nicht
       finden. Ihre Eltern hatten ihn beim Blättern in einem Namensbuch entdeckt
       und fanden ihn einfach nur schön. Kassandra schlägt später im heimischen
       Brockhaus nach und erfährt, dass ihr Name der griechischen Mythologie
       entspringt: Kassandra war die tragische Heldin, die das Unheil voraussah –
       den Untergang von Troja –, aber man glaubte ihr nicht.
       
       Spaßbremse: In der 8. oder 9. Klasse liest [2][der Holocaust-Überlebende
       Sally Perel] in ihrer Schule aus seinen Erinnerungen vor. „Mich hat das
       sehr bewegt“, sagt Kassandra Hammel, „ich konnte nicht verstehen, wie eine
       Gesellschaft so wird, dass es zum Holocaust kam.“ Der Geschichtsunterricht
       interessiert sie, gute Noten hat sie aber nicht. In ihrer Freizeit hört
       Kassandra [3][Metal]. „Das war die Dorfjugendkultur bei uns.“ Wenn sie auf
       Konzerten rechte Sprüche hört, weist sie sie zurück und wird „Spaßbremse“
       genannt. Zu der Zeit besucht sie auch ihre erste Demo: [4][Vor dem Landtag
       in Stuttgart] demonstriert sie für bessere Bildung.
       
       Politisches Engagement: Nach der Schule will sie Geschichte studieren.
       Tübingen ist ihr zu nah, richtige Großstädte hätten ihr aber „Angst
       gemacht“. Also wird es Freiburg. Bei Erstsemester-Veranstaltungen lernt sie
       Kommiliton*innen aus der Fachschaft kennen. Die nehmen sie zu Demos
       gegen rechts mit. Bald schon organisiert Kassandra selbst Veranstaltungen:
       zur Geschichte des Nationalsozialismus und zur Neuen Rechten.
       
       Feminismus: In ihrem Studium stört Kassandra Hammel etwas. Sie sei
       zunehmend von der mangelnden Sichtbarkeit von Frauen sowie der
       „Nebensächlichkeit, mit der Geschlecht als Analysekategorie in der
       Geschichtswissenschaft behandelt wurde“, genervt gewesen. Sie besucht
       Seminare zu Geschlechtergeschichte, darunter eines zu Sexualität in der
       westdeutschen und britischen Gesellschaft von 1870 bis 1950. Für die
       Masterarbeit greift sie das Thema wieder auf. Anhand von Zeitschriften
       untersucht sie, wie Feministinnen in beiden Ländern die sexuelle Revolution
       bewerteten.
       
       Glasgow: Für ihre Forschung macht sie am Centre for Gender History in
       Glasgow ein Praktikum und durchforstet das Archiv der Glasgow Women’s
       Library. Dort gibt es auch Veranstaltungen und Stadtrundgänge. „Ich war
       ganz begeistert von dem Ort.“ Kassandra empfindet ihn als „Gegenort“, als
       Treffpunkt für alle Generationen, als offenen Raum. Hier hat sie das
       Gefühl, „dass Politik und Wissenschaft zusammenkommen können“. Forschung
       und Aktivismus – für die Historikerin kein Gegensatz.
       
       Mitklit: Zurück in Freiburg sucht sie einen ähnlichen Ort. Von der
       Feministischen Geschichtswerkstatt hatte sie schon gehört. Einen Aufruf,
       sich zu engagieren, findet Kassandra auf deren Homepage aber nicht und
       zögert. Eine Freundin ermutigt sie. Die erste Antwort ist enttäuschend:
       „Wegen Corona treffen wir uns gerade nicht.“ Doch bald lädt Birgit Heidtke,
       Mitgründerin der FemWerkstatt, Kassandra zu einem Online-Austausch mit
       Vertreterinnen feministischer Archive aus ganz Deutschland ein. Kassandra
       wird Mitglied der Geschichtswerkstatt. „Beziehungsweise ‚Mitklit‘, wie
       Birgit immer sagt.“
       
       Ausgrabungen: Aus Glasgow hat Kassandra ihre Begeisterung für das
       Durchforsten von historischen Zeitschriften mitgebracht. In der
       FemWerkstatt erfährt sie: Ein brachliegendes feministisches Archiv liegt im
       Keller des „Archivs Soziale Bewegungen“. Kassandra will es wiederbeleben.
       Sie entwickelt ein System, um die Materialien zu katalogisieren: Es sei
       wichtig, dass Feministinnen ihre Geschichte dokumentieren, sonst seien sie
       gezwungen, immer wieder von vorn zu beginnen.
       
       Forschung: Im niedrigen Kellerraum liegen stapelweise Sammelordner mit
       Zeitschriften wie Ariadne, die Cahiers du féminisme und Frau ohne Herz. Das
       Archiv wird Kassandras zweites Zuhause. Sie beginnt eine Promotion, in der
       sie sich wieder mit Frauenkörpern, Gesundheit und der weiblichen sexuellen
       Revolution in Großbritannien und Westdeutschland beschäftigt. Beim
       Durchforsten der Zeitschriften im Keller trägt sie am liebsten einen grauen
       Overall. „Dann habe ich mehr das Gefühl des Herumwerkelns.“ Denn: Die
       Arbeit in Bewegungsarchiven sei Handarbeit, DIY – Do it yourself. Sie werde
       selten von ausgebildeten Archivar*innen gemacht, sondern von
       Aktivist*innen.
       
       Wiedereröffnung: Am 8. März 2022, 20 Jahre nach der Schließung des Archivs,
       eröffnet die FemWerkstatt die Ausstellung „Aufbrechen – 50 Jahre Neue
       Feministische Bewegungen in Freiburg“. Zu sehen sind Flyer, Plakate,
       Zeitschriften. Warum 50 Jahre? „Das älteste Flugblatt im Feministischen
       Archiv ist von 1972“, sagt Kassandra Hammel.
       
       Aktivismus ohne Ästhetik: „Mit dem Aufkommen von Computern sind Flyer erst
       mal hässlich geworden“, findet Kassandra. Früher hätten Flugblätter mehr
       Bastelarbeit erfordert, das hätte sie individueller gemacht. Mit den ersten
       Computern waren die grafischen Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt. „Da
       wusste man überhaupt nicht, wie man mit Bildern arbeiten kann, und hatte
       nur Bleiwüsten.“ In der Ausstellung können Drucktechniken aus den 70ern und
       80ern ausprobiert werden: Matrizendrucker, die mit einer Art
       Durchdruckpapier arbeiten, wie man sie heute noch von Quittungen kennt. Als
       Ergebnis erhielt man blau-lilafarbene Abzüge – was gut zum Thema passte.
       
       Work in Progress: Die Ausstellung soll nicht nur Öffentlichkeit für die
       Geschichte der feministischen Bewegung herstellen, sondern auch für das
       neue alte Archiv. „Ich hatte gehofft, dass es Frauen ermutigt, ihre Keller
       auszumisten.“ Und das tut es. Ein paar Frauen, die in den 90ern eine Gruppe
       gebildet hatten, bringen Protokolle von damals vorbei. Ihnen war
       aufgefallen, dass in der Ausstellung wenig aus den 90er Jahren zu sehen
       war. „Für sie war das aber eine politisch sehr aktive Zeit.“ Die Frauen
       treffen sich daraufhin mehrmals im Archiv. „Es klang, als würden sie sich
       heute über die gleichen Themen streiten wie schon damals.“
       
       Kontinuitäten: Nicht ganz zu Unrecht, findet Kassandra Hammel: „Vor 10, 20,
       30 Jahren hatten Feministinnen die gleichen Themen wie heute.“ Teils sei es
       frustrierend zu sehen, was immer noch nicht geschafft worden sei – wie die
       [5][Abschaffung des Paragrafen 218] des Strafgesetzbuches, der
       Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert. Aber es könne auch empowernd sein
       zurückzublicken, schließlich habe die Frauenbewegung auch sehr viel
       bewirkt. Dank ihr seien beispielsweise Strukturen gegen Gewalt an Frauen
       geschaffen und vielerorts Gleichstellungsbeauftragte eingeführt worden.
       
       Weiter sammeln: Wenn Kassandra heute auf Demos geht, sammelt sie dort auch
       Flyer. Allerdings werde immer weniger auf Papier gedruckt. Es gebe nun viel
       mehr Sharepics, also digitale Bilder mit kurzen griffigen Texten, die sich
       auf Social Media verbreiten und die man digital sichern kann. Aber
       Telegram-Gruppen? „Wie soll man so etwas sichern?“ Noch fehlt Kassandra
       Hammel die Zeit und dem feministischen Archiv das Geld, um Fragen wie diese
       zu klären. „Erst mal muss ich meine Diss zu Ende bringen.“
       
       19 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Freiburger-Radiosender/!5972923
 (DIR) [2] /Zum-Tod-von-Sally-Perel/!5913389
 (DIR) [3] /Heavy-Metal-in-Nordischen-Botschaften/!5947239
 (DIR) [4] /Weniger-Studenten-bei-Demos/!5141350
 (DIR) [5] /Ein-Jahr-ohne-Paragraf-219a/!5931079
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johanna Treblin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Der Hausbesuch
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Feministinnen
 (DIR) Historiker
 (DIR) Freiburg
 (DIR) Der Hausbesuch
 (DIR) Der Hausbesuch
 (DIR) Der Hausbesuch
 (DIR) Westsahara
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Der Hausbesuch: Erst später stellte sie Fragen
       
       In den Jugendjahren der Kinderärztin war der Vater abwesend. Erst als sie
       erwachsen ist, arbeitet sie Rassismus-Erfahrungen auf – und sucht nach ihm.
       
 (DIR) Der Hausbesuch: Er sucht Risse im Spektakel
       
       Der Astrophysiker Christophe Kotanyi kann erklären, was die Situationisten
       der 60er Jahre wollten. Sie saßen bei den Eltern am Küchentisch.
       
 (DIR) Der Hausbesuch: Sich bloß nicht einfangen lassen
       
       Michael und Mirja Küster wollten ausbrechen aus der Kleinfamilie. Seit 2022
       leben sie in einem Wohnprojekt im Schwarzwald und lernen dazu.
       
 (DIR) Der Hausbesuch: Die Träume der Minetu Handi
       
       Minetu Handi wuchs in einem Flüchtlingslager in Algerien auf. Heute setzt
       sie sich in Berlin für die Unabhängigkeit der Westsahara ein.