# taz.de -- Zum Tod von Sally Perel: Er ging, um zu leben
       
       > Sally Perel trat als Jude in die Hitlerjugend ein, um unter Nazis zu
       > überleben. Seine Geschichte behielt er jahrelang für sich. Danach machte
       > er Aufklärung zu seiner Mission.
       
 (IMG) Bild: „Hitlerjunge Salomon“: Sally Perel kam 1925 in Peine bei Braunschweig zur Welt
       
       BERLIN taz | „Du sollst leben“, das waren die entscheidenden Worte. Mit
       gerade einmal 14 Jahren sollte sich der junge Salomon – kurz: Sally – Perel
       im Jahr 1939 entscheiden, ob er gehen oder bleiben soll. Gehen, das hieß:
       Die Eltern verlassen, vielleicht für immer. Bleiben, das hieß: Mit allen
       anderen Juden im Ghetto leben, das die Nazis gerade im polnischen Łódź
       aufbauten.
       
       Juden, Nichtjuden – was da der Unterschied gewesen sein soll, das habe er
       nie verstanden, sagte er später. Dass die Nazis aber aus diesem Unterschied
       mörderischen Ernst machen würden, das war zu diesem Zeitpunkt vielen klar:
       „Meine Eltern fühlten: Ins Ghetto kommst du rein, aber lebendig nicht mehr
       raus“. Der junge Perel ging.
       
       [1][Sally Perels Geschichte] ist die eines Juden, der in der NS-Zeit zum
       jungen Mann heranwächst – und überlebt. Allein das macht sie besonders. Was
       Perel aber widerfuhr, als er sich 1939 entschloss, Łódź zu verlassen, um zu
       den Sowjets zu fliehen, ist auch nach Jahren kaum zu fassen. In Polen
       holten ihn die Nazis wieder ein, als sie 1941 den Hitler-Stalin-Pakt
       brachen. „Bist du Jude?“, fragte ihn ein deutscher Soldat. Wissend, dass
       sein Leben an der Beantwortung dieser Frage hing, antwortete Sally: „Ich
       bin kein Jude, ich bin Volksdeutscher.“
       
       „Da ereignete sich das Erstaunliche und Unglaubliche, das ich heute noch
       nicht begreife“, schreibt er später in seine Autobiographie. Der Soldat
       verzichtete auf weitere „Kontrollen“ und glaubte ihm. Alle anderen Juden
       wurden auf ihre Beschneidung hin untersucht, abgeführt und erschossen.
       
       ## Rückkehr nach Peine als „Hitlerjunge Salomon“
       
       Auf Messers Schneide verwandelte sich Salomon Perel in „Josef Perjell“ und
       lebte fortan als Jude unter Nazis. Er gab sich als Waisenkind aus,
       arbeitete als Russisch-Übersetzer für die Wehrmacht. Russisch konnte er
       durch seine Zeit im sowjetischen Kinderheim, sein dialektfreies
       niedersächsisches Hochdeutsch verbarg seine jüdische Identität.
       Aufgewachsen ist er mit Jiddisch. Ein Nazi-Hauptmann mochte den jungen Mann
       so sehr, dass er ihn adoptieren wollte.
       
       Er schickte ihn kurz vor Kriegsende auf die „Akademie für Jugendführung“
       der Hitlerjugend Braunschweig. Perel lernte dort die NS-Ideologie, ein
       Lehrer „identifizierte“ ihn als zugehörig zur „arischen Rasse“. Mehr und
       mehr glaubte der junge Mann an die Vorstellungen der Nazis. „Mein wahres
       ‚Ich‘ verdrängte ich nach und nach. Es konnte sogar sein, dass ich
       ‚vergaß‘, dass ich Jude war“, schrieb er.
       
       Als „Hitlerjunge Salomon“, wie er sich später selbst nannte, kehrte Perel
       sogar in seine Geburtsstadt Peine zurück, wohl wissend, dass er hier
       erkannt werden könnte. Aber wieder war das Schicksal auf seiner Seite. Oder
       war es Gott, der ihn behütete, so wie sein Vater, der Rabbiner, meinte?
       
       Mit der Religion haderte Perel ein Leben lang. Hätte er auf seinen Vater
       gehört und allzeit zu seinem Jüdischsein gestanden, hätte er das Ende des
       Krieges wohl nicht mehr erlebt. Auch später wollte er an einen schützenden
       Allmächtigen nicht mehr glauben. „Man sagt doch: Gott ist in uns, neben
       uns, über uns, beschützt uns – aber war er auch in Auschwitz? Meiner
       Meinung nach: An einem Ort, wo anderthalb Millionen Kinder zu Asche
       verbrennen, war Gott nicht anwesend. Und dann ist er auch nicht
       allmächtig.“
       
       Ein Leben lang haderte er auch mit seiner Entscheidung, sich zu den Feinden
       gesellt zu haben. Dabei war es wohl diese Entscheidung, die ihm ein langes
       Leben ermöglichte. Perel geriet in US-Kriegsgefangenschaft, wurde
       freigelassen und emigrierte 1948 in den neu gegründeten Staat Israel, so
       wie seine Brüder Isaak und David. Alle anderen Mitglieder der Familie Perel
       wurden von den Nazis ermordet.
       
       Den jüdischen Staat wollte er mit aufbauen. Noch in Deutschland meldete er
       sich freiwillig zum Dienst in der israelischen Armee, kämpfte 1948 im
       ersten arabisch-israelischen Krieg. Später arbeitete er als Unternehmer.
       Über seine außergewöhnliche Geschichte sprach er 40 Jahre lang mit so gut
       wie niemandem. Gewissensbisse ereilten ihn, als nach und nach die
       Dimensionen der Shoah bekannt wurden: „Ich schrie ‚Heil Hitler‘, und die
       waren in Auschwitz.“
       
       ## „Ihr werdet euch schuldig machen, wenn es wieder passiert“
       
       Nach einer Herzoperation in den 80er Jahren entschied er sich, zu
       schreiben. Die Biographie erschien 1990 zuerst auf Französisch, dann auf
       Hebräisch und schließlich 1992 unter dem Titel „Ich war Hitlerjunge
       Salomon“ auf Deutsch. Spätestens mit der Verfilmung von Agnieszka Holland
       wurde Perels Geschichte einem internationalen Millionenpublikum bekannt.
       
       Perel bereiste Deutschland, um seine Geschichte zu erzählen und
       aufzuklären, unter anderem an vielen Schulen. Seine Biographie eignete sich
       wie kaum eine andere dazu, auf die Gefahren faschistischer Ideologien
       hinzuweisen: So mächtig war die nationalsozialistische „Idee“, dass selbst
       er, der Jude, ihr verfallen konnte. Ein Leben lang wohnte neben seinem
       jüdischen Ich „der Jupp“ in ihm – so nannte Sally Perel sein Alter Ego, das
       zum Nazi wurde. Bei seinen Vorträgen machte er immer wieder deutlich: Es
       ist ein gefährlicher Irrglaube, zu meinen, man sei immun gegen den
       Faschismus.
       
       Verantwortung, nicht Schuld wollte er die nachfolgenden Generationen
       lehren. Nach seinen Vorträgen in Deutschland, so berichtete er, seien
       Einzelne unter Tränen auf ihn zugekommen, hätten um Verzeihung gebeten. „Da
       sage ich: Ich verzeihe nicht, weil ich nichts zu verzeihen habe. Schuld ist
       doch nicht erblich. Ihr seid doch nicht verantwortlich für die Verbrechen,
       die diese Generation der Großeltern mitgemacht haben. Aber ihr werdet euch
       schuldig machen, sage ich immer, wenn es wieder passiert.“
       
       1999 erhielt Perel das Bundesverdienstkreuz, weitere Auszeichnungen
       folgten. Mehrere Schulen tragen seinen Namen, noch im Jahr 2022 wurde seine
       Botschaft „Ihr seid verantwortlich dafür, dass es nie wieder passiert“ an
       der Eingangstür einer Grundschule in seiner alten Heimat im
       niedersächsischen Peine angebracht.
       
       ## Radikal ehrliche Aufklärung
       
       Von seiner neuen Heimat Israel versprach er sich viel, träumte von einem
       liberalen, demokratischen Staat „wie die Schweiz in Europa“. Später mischte
       sich Enttäuschung dazu: „Ich habe so einige Wahrheiten erfahren, die vorher
       nie erzählt worden sind. Es gab hier auch ein anderes Volk, die
       Palästinenser. Wir haben sie einfach vertrieben. Damit fühlte ich mich
       nicht wohl.“ Dennoch verließ er Israel nie wieder und setzte sich fortan
       für eine friedliche Lösung im Nahost-Konflikt ein.
       
       Auch wenn es vor allem seine jungen Lebensjahre waren, die Tausende
       interessierten, blieb Perel nicht der Vergangenheit verhaftet. In
       zahlreichen Interviews und Vorträgen warnte er vor den Gefahren neuer
       rechter Bewegungen. In seiner Wohnung in Tel Aviv verfolgte er die
       Nachrichten aus Deutschland, hörte vom Wiedererstarken des Hasses im Zuge
       der sogenannten Flüchtlingskrise, erfuhr von Rechten in der Bundeswehr, von
       den Wahlergebnissen der AfD. „[2][Es passiert ja wieder in Deutschland].
       Die Neonazis werden wieder massiv gewählt. Es gibt Bundesländer, da sind
       sie schon die zweitgrößte politische Macht. Und da muss man sich fragen:
       Deutschland, wohin?“, sagte er 2021.
       
       Sein Mittel gegen den Ungeist blieb eine radikal ehrliche Aufklärung, die
       auch vor unangenehmen Wahrheiten nicht zurückwich. Bis zuletzt gab er
       Interviews, hielt Vorträge und schonte dabei weder sich selbst noch sein
       Publikum.
       
       „Du sollst leben“, waren die Worte, nach denen er sich richtete. Und gelebt
       hat er. Am Donnerstag ist Sally Perel im Alter von 97 Jahren in Tel Aviv
       gestorben.
       
       3 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Portraet-Hitlerjunge-Salomon/!5154903
 (DIR) [2] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/holocaust-uberlebender-sally-perel-im-interview-es-passiert-ja-wieder-in-deutschland-371845.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konstantin Nowotny
       
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