# taz.de -- Lichtenberger Projekt gegen Legasthenie: Gegen Barrieren kämpfen
       
       > Legasthenie verhindert oft eine Teilhabe. Weit.Blick, ein Projekt zur
       > Unterstützung von Familien in benachteiligten Lebenslage, hilft
       > Betroffenen.
       
 (IMG) Bild: Wenn das Schreiben und Lesen schwerfällt: Buchstabensalat im Gehirn
       
       BERLIN taz | Fatime Zeqiri* sitzt an einem Tisch im Lichtenberger
       [1][Familienzentrum Weit.Blick] und reibt sich die müden Augen. Ein paar
       Meter weiter spielt ihr fünfjähriger Sohn mit bunten Bauklötzen. „Ich habe
       immer zu tun mit den Kindern, und dadurch, dass ich nicht lesen und
       schreiben kann, ist alles noch mal viel schwerer“, sagt die junge Frau.
       
       Zeqiri leidet unter schwerer Legasthenie und ist nicht in der Lage, Lesen
       und Schreiben zu lernen. Arbeiten, erzählt sie, sei deshalb unmöglich, und
       der Alltag mit ihren zwei Kindern alles andere als leicht. Alltägliche
       Aufgaben, wie ein Bahnticket zu kaufen, Termine zu vereinbaren oder
       Klamotten zurückzugeben, stellt sie vor gewaltige Hürden. Und die
       Bürokratie erst recht: „Die Schulanmeldung von meinem Sohn war ein Kampf,
       acht oder neun Blätter sollte ich lesen und ausfüllen.“
       
       Im Familienzentrum bekommt sie nun Hilfe. Seit September gibt es hier ein
       neues Projekt der Stadtmission, das Familien unterstützt, die von Armut
       betroffen oder gefährdet sind. Durch persönliche Beratung und Betreuung,
       aber auch, indem es strukturelle Veränderungen des bestehenden Hilfesystems
       anstößt. Einen „ganzheitlichen, niedrigschwelligen Ansatz“, beschreibt es
       Projektleiterin Tanja Schleher.
       
       Die Probleme, auf die Zeqiri wegen ihrer Legasthenie stößt, nennt Schleher
       „Barrieren zur ökonomischen und sozialen Teilhabe“. Diese Barrieren können
       vielfältig sein: gesundheitliche Probleme, Schwierigkeiten beim
       Berufseinstieg, in der Alltagsbewältigung oder mit der Sprache.
       
       ## Für ein größeres Selbstvertrauen
       
       Individuelle Beratung soll hier Abhilfe leisten. Über einen Zeitraum von
       sechs Monaten treffen sich die Teilnehmer*innen für zwei Stunden pro
       Woche mit Sozialarbeiter*innen und Spezialist*innen für
       Familien-, Berufs- oder Gesundheitsberatung im Familienzentrum. Hier
       erhalten sie Unterstützung bei Bewerbungen oder bürokratischen Problemen,
       knüpfen Kontakt zu anderen Hilfsangeboten und werden von den Mitarbeitenden
       gecoacht.
       
       „Das Ziel ist auch, dass die Teilnehmenden sich gestärkt fühlen, sicherer
       fühlen, ein größeres Selbstvertrauen erhalten“, sagt Schleher. Zu wichtigen
       Terminen begleiten die Mitarbeiter*innen des Projekts die Familien.
       
       Von dem „Netzwerk für Familien mit Weit.Blick“ hat Zeqiri über das
       Jobcenter erfahren. Eine gesetzliche Betreuung habe sie zwar vorher schon
       gehabt, aber die drei Stunden im Monat, die ihr dort zustanden, hätten bei
       Weitem nicht für den Papier- und Organisationskram ausgereicht. Es kam auch
       schon vor, erzählt Zeqiri, dass ihr dabei die Jobcenter-Mitarbeiterin
       helfen musste.
       
       Ein weiteres Problem, das sie belaste, seien die Vorurteile. Immer wieder
       sei sie in sozialen Einrichtungen von anderen Eltern ausgegrenzt worden.
       „Ganz oft muss ich mit Vorwürfen kämpfen wie: ‚Sie leben doch in
       Deutschland, lernen Sie Lesen und Schreiben!‘ Das ist doch rassistisch.“
       
       ## Das Modellprojekt wird ausgeweitet
       
       Projektleiterin Schleher hört aufmerksam zu und stellt Fragen. Teil der
       Projektarbeit seien auch langfristige Überlegungen, wie Diskriminierung und
       Ausgrenzung abgebaut werden könnten, sagt sie. Dafür treffen sie sich
       regelmäßig mit Vertreter*innen von Behörden, sozialen Anlaufstellen,
       Schulen und Kitas in sogenannten Lernzirkeln. Dort, erklärt Schleher,
       tausche man sich gemeinsam darüber aus, wie Hilfsangebote verändert werden
       könnten, um die Situation von Familien zu verbessern.
       
       „Meine Erfahrung ist, dass sich alle weiterentwickeln wollen“, sagt
       Schleher. Um die eigenen Angebote zugänglicher zu machen, sei ein
       konstruktiver Umgang wichtig – auch mit Ämtern und Behörden. Von April 2020
       bis Dezember 2022 lief ein Modellprojekt in Lichtenberg an, jetzt wird das
       Netzwerk auf Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Pankow ausgeweitet. Bis
       Ende August 2027 läuft das Projekt, das vom Bundesministerium für Arbeit
       und Soziales und der EU finanziert wird.
       
       Fatime Zeqiri bleiben noch fünf Monate im Projekt, sie wirkt hoffnungsvoll.
       „Es ist immer ein Kampf. Und dann hat man noch Leute, die einem vorwerfen,
       man wäre faul“, sagt sie. Aber entmutigen lassen will sie sich deshalb
       nicht: „Einen Führerschein zu machen – das ist mein Traum!“
       
       * Name geändert
       
       5 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.berliner-stadtmission.de/weitblick
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Clara Heuermann
       
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