# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Von der Regelmäßigkeit
       
       Wie faszinierend das ist. Menschen, die ihren Stand haben, die ganz bei
       sich sind. Die aus dem Innen zu schöpfen scheinen. Und das Außen nicht zu
       brauchen, um zu leuchten.
       
       Der Regionalzug rauscht durch Niedersachsen. Im Gang steht eine Frau – etwa
       Anfang 20, blonde Haare. Ihr haftet etwas Zeitloses an. Sie könnte aus
       einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert sein, von einem Hausmusikabend bei
       Franz Liszt. Ihr Blick ist zufrieden. Die Wangen glühen, als wäre sie zum
       Zug gerannt.
       
       Auf dem Rücken hat sie einen Rucksack. Sie trägt nur ein T-Shirt an diesem
       kalten Wintertag. Wie schafft sie es, die Kälte zu ertragen? Aber am
       beeindruckendsten ist ihr gelassener Blick. Lächelnd in sich versunken,
       schaut sie aus dem Fenster, als würde sie sich innerlich an einem
       zufriedenen Gedanken ausrichten. Frei steht sie im schwankenden Gang, ohne
       sich festzuhalten.
       
       Fast wirkt es wie ein Auftritt. Als würde sie sich im Theater die letzten
       Sekunden hinter dem Vorhang sammeln, bevor sie nach draußen auf die Bühne
       tritt. Aber ihr Auftritt richtet sich in ein Innen.
       
       Etwas Auratisches geht von ihr aus. Unmissverständlich scheint sie das zu
       sein: eine Person, die ihren eigenen Stand hat. Einen Selbst-Stand. Wie
       kommt das? Wie setzt sich diese Vorstellung von ihr zusammen?
       
       Zum einen erweckt sie den Eindruck, etwas mit großer Regelmäßigkeit zu tun.
       Etwas, was sie ruhig an eine Aufgabe bindet. Sie wirkt wie eine Person, die
       schon lange gefunden hat, was sie erfüllt. Was sie wohl macht? Yoga? Sie
       hat Arme mit definierten Muskeln, wie jemand, der viel klettert. Ihre
       ruhige Ausstrahlung könnte darauf hindeuten, dass sie eine gleichzeitig
       körperliche und spirituelle Tätigkeit mit großer Disziplin ausübt.
       
       Die meisten Menschen, die eine Aura wie sie haben, praktizieren etwas mit
       Regelmäßigkeit. Im Grunde baut sich alles Wichtige im Leben über
       Regelmäßigkeit auf: eine Leidenschaft, Freundschaft, Kunstfertigkeit,
       Berufung, Liebe. Über die Regelmäßigkeit binden wir uns an Dinge, an
       Menschen, Orte, an das Leben. Durch Regelmäßigkeit entsteht Sicherheit, ein
       Zuhause, eine Verbindung zu anderen und auch zu uns selbst. In der
       regelmäßigen Ausübung oder Begegnung entwickeln wir eine Beziehung zum Du.
       Und zum Ich.
       
       Das ist es, was die Frau ausstrahlt. Sie hat eine Beziehung zu sich. So
       sehr, dass sie noch nicht einmal eine Jacke braucht. Ihr Wille scheint so
       stark zu sein, dass er sogar für ein Eisbad im Winter reicht.
       
       Eine Eisfrau. Eine Person, die nichts darstellen will und deswegen
       interessant wirkt.
       
       Wie hat sich das gebildet? Wann ist die Tätigkeit, die sie anscheinend
       ausübt, zu etwas Eigenem von ihr geworden? Wie viele Monate, Jahre hat das
       gedauert? Gab es Zeiten der Qual, der Selbstüberwindung? Vielleicht hat sie
       sich selbst hinter ihre Aufgabe gestellt, mit ihrer täglichen
       Befindlichkeit und Lust zurückgenommen – und sich gerade deshalb gefunden.
       
       Die nächste Station kommt. Ruhig zieht die Eisfrau einen Pullover aus ihrem
       Rucksack, dann einen Mantel. Die ganze Projektion auf sie, die Person, die
       ein Eisbad nimmt, erlischt, wandelt sich. „World of Dance“ steht auf ihren
       Pulli. WOD. Die „World of Dance“-Tanz-Wettbewerbe. Sie scheint eine
       Tänzerin zu sein. Natürlich. Das wird ihre regelmäßige Disziplin sein.
       
       Nun zieht sie auch den Mantel über. Auf einmal sieht sie ganz unauffällig
       aus. Die Eisfrau. Vielleicht wäre sie so von Anfang an gar nicht
       aufgefallen, wäre so die Vorstellung von ihr eine andere geworden.
       
       9 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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