# taz.de -- Die Wahrheit: Fauchen, sengen, kiffen
       
       > Das Jahr des Drachens beginnt. Aber wie geht es den Fabelwesen selbst
       > damit? Und warum bezweifeln die Menschen ihre Existenz?
       
       Fafnir erwachte mit einem seltsamen Jucken im Federbart. Verdammt, da waren
       ja schon wieder drei goldene Speere. Er hatte sich offensichtlich nach dem
       letzten Drachentreffen wieder Jungfrauen eingefangen. Und er konnte sich
       nicht einmal daran erinnern, wie peinlich er diesmal gewesen war.
       
       Jetzt rollte wahrscheinlich bald die ganze Blechbüchsenarmee an, um ihn zu
       bestrafen. Das Einzige, was nun noch helfen konnte, war ein Bad in
       Lorbeersud. Und danach selbstverständlich ein Besuch bei Frau Mahlzahn, bei
       der er immer Nachhilfe und Goldtaler bekam. Wenn Frau Mahlzahn einmal ein
       Tröpfchen zu viel vom Ritter-Likör gesüppelt hatte, geriet sie hin und
       wieder ins Schwärmen von einer längst vergangenen Liebschaft namens Smaug.
       Aber meistens spielten sie nur zwei, drei Runden „Drachen ärgere Dich
       nicht“, wobei sie vor Zorn immer wieder losstürmten und mehrere Dörfer
       versengten.
       
       Aber heute war es anders. Fafnir hatte etwas Ernsthaftes auf dem Herzen,
       das es zu besprechen galt: Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es
       irgendwo auf der Welt einen Wissenschaftler gab, der ihm, dem Drachen
       Fafnir, die Existenz absprach. Zunächst musste Frau Mahlzahn bei dieser
       Botschaft einmal tief ein- und ausatmen, wobei sie beim Ausatmen
       versehentlich ihre Vorhänge in Brand setzte. Dann hustete sie und sprach
       mahnende Worte.
       
       „Höre gut zu! Du darfst nie zulassen, dass ein Mensch deine Existenz
       bezweifelt. Gehe zu ihm und zeige dich. Wie heißt der Trottel eigentlich?“
       Fafnir antwortete: „Mein Gefühl sagt mir, dass er Professor Doktor Hartmut
       Sandbaumhüter heißt und in einer unbestimmten Großstadt einen
       Flohmarktstand mit trockenen Büchern bewacht.“
       
       Damit konnte Frau Mahlzahn eine Menge anfangen. Sie dachte nach, süppelte
       ein Ritter-Likörchen, legte drei Eier und summte leise „Paff, der
       Zauberdrachen“ von Marlene Dietrich, bis sie sanft einschlief. Fafnir
       wusste, dass sie jetzt mindestens hundert Jahre schlafen würde, und er
       beschloss, zu seinem Cousin Puff zu fliegen.
       
       ## Das Lotterleben eines am Meer lebenden schwarzen Schafs
       
       Puff war das schwarze Schaf der Familie. Statt eine Ausbildung als
       Drachentöter-Töter auf der Drachentöter-Töter-Akademie zu machen, hatte er
       sich für das lustige Leben eines Zauberdrachen entschieden. Und er lebte am
       Meer. Er sang den ganzen Tag nur „La Mer“ mit der Stimme von Jacques Brel
       vor sich hin, schlug unentwegt mit seinem Drachenschwanz Muster in den Sand
       und lebte auch sonst ein Lotterleben.
       
       Und er wartete gezwungenermaßen auf irgendeinen Johnny-Pedro, der ihm von
       der Staatsanwaltschaft als Bewährungshelfer an den Hals geknallt wurde.
       Eine Tatzenfessel hatte er auch. Also ein richtig schwarzes Schaf, das auch
       kiffte und Bier trank. Manchmal guckte er sich dabei sogar Richtersendungen
       im Unterschichtenfernsehen an. So war er halt, der Puff.
       
       Als Fafnir gerade losfliegen wollte, wurde ihm die Absurdität seiner
       Situation bewusst: Er hatte dieses Jahr gar keine Flügel. Es war das
       chinesische Jahr des Drachen, und chinesische Drachen haben keine Flügel.
       Sie sind aber dennoch mit geübtem Blick leicht von Lind- oder Tetzelwürmern
       zu unterscheiden: Chinesische Drachen haben goldene Haare, Federn oder
       Schuppen, während Lind- oder Tetzelwürmer mit schlammigem Moos, Moor oder
       Acker bedeckt sind. Wahlweise auch mit Feldsalat oder Erde. Allen
       Drachenarten gemeinsam ist die Eigenart, oft Ritterreste halbverzerrter
       Recken aus den Lefzenecken hängen zu haben. Und meistens halten sie
       jungfräuliche Prinzessinnen gefangen.
       
       Fafnir stieß bei der Erkenntnis, jetzt zu Fuß zu Puff latschen zu müssen,
       einmal gewaltig auf und vernichtete damit auch das restliche Hab und Gut
       von Frau Mahlzahn. Die Versuchung, den unbekannten Professor Doktor Hartmut
       Sandbaumhüter einfach seine Existenz anzweifeln zu lassen und sich keine
       weiteren Gedanken darüber zu machen, wurde immer süßer …
       
       Am anderen Ende einer unbestimmten Großstadt bewachte derweil der
       unbekannte Professor Doktor Hartmut Sandbaumhüter seinen Flohmarktstand mit
       trockenen Büchern und bezweifelte inbrünstig Fafnirs Existenz. „O wie“, so
       rief er ein ums andere Mal aus, „o wie inbrünstig ich Fafnirs Existenz
       bezweifle! Und nicht nur die seine! Nein, ich gehe noch weiter: Ich
       bezweifle die Existenz aller Drachen! Und zwar inbrünstiger als inbrünstig!
       Für die Stärke der Inbrunst, mit der ich die Existenz dieses unexistenten
       Gewürms bezweifle, müsste ein neues Wort erfunden werden! Vielleicht
       ‚verdaustig‘! Oder ‚gorkig‘! Oder sogar rèqíng, was der chinesische
       Ausdruck für ‚leidenschaftlich‘ ist! Und ich bezweifle nicht nur die
       aktuelle Existenz von Drachen, nein, nein! Ich bezweifle sogar auch alle
       vergangenen und zukünftigen Existenzen!“
       
       So bezweifelte er mit der gesamten Kraft seines Herzens und seines Geistes
       wild gestikulierend die Existenz Fafnirs und seiner Sippe, und die Traube
       der neugierigen Umstehenden oder umstehenden Neugierigen wurde immer
       größer. Und es kam, wie es kommen musste: Professor Doktor Hartmut
       Sandbaumhüter wurde zum international führenden Drachen-Zweifler. Er
       schrieb Bücher, in denen er die Nicht-existenz von mittlerweile allen
       Fabeltieren – er hatte sein Spezialgebiet erweitert – theoretisch bewies,
       er hielt Vorträge rund um den Globus und der Fanatismus seiner Anhänger
       nahm beinahe bedrohliche Dimensionen an.
       
       ## Die Emanzipation der kaum erkennbaren Prinzessinnen
       
       Fafnir haute sich für ein Jahr aufs Ohr, und als er wieder erwachte, hatte
       er ein Paar herrlicher neuer Flügel, mit denen er zu Puff flog, um sich ein
       bisschen in dessen schlechter Einflusssphäre zu suhlen und den lieben
       langen Tag „Ring of Fire“ von Johnny Cash zu singen. Doch aus dem geplanten
       Spaß, ein paar Prinzessinnen zu fangen und Ritter zu knacken, wurde nichts.
       Wie sich herausstellte, hatten sich die Prinzessinnen inzwischen alle
       emanzipiert und die Haare schneiden lassen. Sie waren auf männliche Hilfe
       nicht mehr angewiesen und auch kaum mehr zu erkennen.
       
       Die Ritter hingegen sahen nicht mehr ein, ständig für undankbare Zicken
       ihre Leben zu riskieren. Sie wollten jetzt mehr auch ihre weiblichen Seiten
       ausleben und fließende Stoffe in fröhlichen Farben tragen, was sie von eben
       jenem Professor Doktor Hartmut Sandbaumhüter aus der unbestimmten Stadt
       gelernt hatten, der für sein Lebenswerk schließlich den Nobelpreis für
       Drachen-Zweifel bekommen sollte.
       
       Doch just in dem Augenblick, in dem Fafnir und Puff frustriert den
       Entschluss fassen wollten, ihre Namen in Fuchur und Falkor zu ändern und
       auf Glücksdrache umzuschulen, fiel in China ein Sack Reis um. Doch das ist
       eine andere Geschichte, und die wird in Drachenkreisen fauchend erzählt, um
       die Küken zu erschrecken. Ende.
       
       10 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Corinna Stegemann
       
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