# taz.de -- Julia Korbik über Schwesternschaft: Ist Feminismus aus der Zeit gefallen?
       
       > Rassismus, Antisemitismus, Transfeindlichkeit – die Frauenbewegung ist so
       > zerstritten wie selten. Autorin Julia Korbik fordert radikale
       > Schwesterlichkeit.
       
 (IMG) Bild: Geschlossen feministisch, bei allen Unterschieden: hier eine Demo zum Frauenkampftag am 8. März 2018
       
       wochentaz: Frau Korbik, in Deutschland ist es still geworden um den
       Feminismus, gleichzeitig ist die Bewegung zerstritten wie selten zuvor. Nun
       erscheint Ihr Buch „Schwestern“, in dem Sie die „Macht des weiblichen
       Kollektivs“ beschwören. Ist das nicht aus der Zeit gefallen? 
       
       Julia Korbik: Absolut nicht, auch wenn der Begriff Schwesterlichkeit etwas
       altmodisch klingt. Aber das weibliche Kollektiv ist hochaktuell, wenn wir
       beispielsweise an die #MeToo-Bewegung denken oder die Debatten um sexuelle
       Gewalt, die von Rammstein und Sänger Till Lindemann ausgegangen sein soll.
       Hier zeigt sich eine große Solidarität gegenüber betroffenen Frauen – und
       darum geht es bei der Frage der Schwesterlichkeit, bei der Macht des
       weiblichen Kollektivs.
       
       Sie bezeichnen Sisterhood, Schwesterlichkeit, als radikales Konzept. Was
       ist daran radikal? 
       
       Schwesterlichkeit ist ein Zeichen politischer Solidarität. Das heißt aber
       nicht, dass Frauen, nur weil sie Frauen sind, automatisch mit anderen
       Frauen solidarisch sein müssen. Das Konzept der Schwesterlichkeit verbindet
       sie nicht aufgrund ihres Geschlechts, sondern weil sie das gleiche Ziel
       eint: Gleichberechtigung.
       
       Beim Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober hat dieses Konzept offenbar
       versagt. Zumindest schweigen Feministinnen in Deutschland, wenn es um
       Solidarität mit den vergewaltigen, entführten Jüdinnen geht. 
       
       Viele Feministinnen wussten offenbar nicht, wie sie reagieren sollen, es
       fehlte an Empathie gegenüber betroffenen Jüdinnen. Selbst internationale
       Organisationen, beispielsweise UN Women, haben bis heute nur verhalten
       reagiert.
       
       Was ist Schwesterlichkeit da wert? 
       
       Hier zeigt sich deutlich, dass Schwesterlichkeit kompliziert und nicht
       automatisch gegeben ist, sondern immer wieder geschaffen werden muss. Ich
       selbst bin immer davon ausgegangen, dass sich die feministische Bewegung
       darauf geeinigt hatte, dass jede von sexualisierter Gewalt Betroffene
       Solidarität verdient, egal wer sie ist, egal woher sie kommt. [1][Das gilt
       seit dem 7. Oktober offenbar nicht mehr].
       
       Israelinnen sind dadurch Frauen zweiter Klasse. 
       
       So könnte man das sehen. Man muss aber auch sagen, dass die
       Vergewaltigungen bekannt wurden, als Israel bereits in Gaza war, zu einer
       Zeit also, als die schrecklichen Bilder mit den unzähligen
       palästinensischen zivilen Opfern überaus wirkmächtig waren.
       
       Feministinnen wird vorgeworfen, dass sich hinter ihrem Schweigen
       Antisemitismus verbirgt. 
       
       Der Feminismus hat sich in den vergangenen Jahren stark mit Rassismus
       auseinandergesetzt, also mit der Frage, wie weit sich weiße Feministinnen
       trotz ihres politischen Anspruchs der Gemeinschaftlichkeit rassistisch
       verhalten. Das ist richtig und wichtig. Darüber ist die Auseinandersetzung
       mit Antisemitismus wohl vergessen worden.
       
       Wie kann das sein? 
       
       Viele Menschen glauben, sie seien nicht antisemitisch und haben daher das
       Thema zur Seite geschoben. Jetzt müssen wir erkennen, auch in der
       feministischen Szene: Das war ein Trugschluss.
       
       Haben Sie sich zum Hamas-Überfall geäußert? 
       
       Ja, in einem Radiointerview, aber ich nehme mich aus der Kritik absolut
       nicht aus. Mir ist in diesen Wochen klar geworden, dass der deutsche
       Feminismus viel stärker darüber debattieren muss, wie antisemitisch er ist.
       Unabhängig davon schließt es sich für mich überhaupt nicht aus, Israels
       Einmarsch in Gaza heftig zu kritisieren und sich gleichzeitig an die Seite
       der Hamas-Opfer zu stellen.
       
       Der deutsche Feminismus gilt vielen als zu weiß, akademisch, elitär. 
       
       Viele Frauen of Color sind schon lange im deutschen Feminismus aktiv, nur
       hat man ihnen keine sonderlich wichtige Rolle innerhalb der Bewegung
       zugestanden. Dadurch waren sie gezwungen, sich in eigenen Gruppen
       zusammenfinden. Das hat sich in den vergangenen Jahren etwas geändert,
       mittlerweile sitzen mehr Frauen of Color beispielsweise in Talkshows,
       feministische Stimmen sind heute diverser als früher.
       
       Zugleich ist von Sprechverboten die Rede. Was würden Sie tun, wenn Sie auf
       einer Veranstaltung von Women of Color nicht reden dürften? 
       
       Ich würde das akzeptieren und vermutlich schweigen.
       
       Das ginge dann allerdings auf Kosten des Dialogs, den Sie in Ihrem Buch
       anregen. 
       
       Ich würde nach der Veranstaltung versuchen, mit den Frauen ins Gespräch zu
       kommen.
       
       Nun wird Frauen von jeher nachgesagt, eher gegeneinander zu kämpfen, statt
       solidarisch zu sein. Begriffe wie „Stutenbissigkeit“ und „Zickenkrieg“
       sprechen für sich. 
       
       Das wird Frauen seit Jahrhunderten zugeschrieben. Ich glaube aber nicht,
       dass Frauen von Natur aus andere Frauen bekämpfen.
       
       Ich beobachte aber, dass Frauen an der Spitze nicht selten andere Frauen
       wegbeißen. 
       
       Frauen in Toppositionen haben keine Tradition, sie sind tatsächlich
       vielfach allein unter Männern und in patriarchalen Strukturen, das allein
       ist hart genug. Wenn einer Frau zusätzlich suggeriert wird, dass sie es als
       eine der wenigen bis nach oben geschafft hat, wird sie verständlicherweise
       alles dafür tun, dort auch zu bleiben.
       
       Schwesterlich ist das nicht. 
       
       Manche Frauen, die sich gegen Männer durchsetzen müssen, passen sich an die
       männliche Unternehmenskultur an. Daher braucht es ja auch diese berühmte
       kritische Masse an Frauen, die weitere Frauen nachziehen und die
       Unternehmenskultur grundsätzlich ändern. Es gehört allerdings einiges dazu,
       sich als einzige Frau an der Spitze gegen etablierte Führungsstrukturen zu
       stellen und zu sagen: Mir ist es wichtig, andere Frauen zu fördern.
       
       Männer machen das offenbar anders. 
       
       Männer begreifen sich mehr als Gruppe, als Boys Club, der füreinander
       einsteht. Frauen tun das eher nicht. Das hatte schon die französische
       Feministin Simone de Beauvoir erkannt und gesagt: „Frauen sagen nicht
       ‚wir‘.“
       
       Warum ist es so schwer, „wir“ zu sagen? 
       
       Frauen sind keine homogene Gruppe, sondern so divers, wie die Welt nun mal
       ist: jung, alt, mit Kindern, ohne Kinder, heterosexuell, queer, mit und
       ohne Erwerbsarbeit, und, und, und. Angesichts dieser Vielfalt steht die
       Frage im Raum, ob man überhaupt dieses Wir beschwören kann. Von Männern
       würde man im Übrigen diese Einigkeit gar nicht erwarten.
       
       Es gibt sogar Frauen, die über prominente Feministinnen herziehen und sie
       fertigmachen: zu schön, zu jung, zu erfolgreich. 
       
       Das hat mit Neid und Eifersucht zu tun, wovor Frauen natürlich nicht gefeit
       sind. Warum sollten sie auch? Der Anspruch an den Feminismus, an Frauen ist
       komplett überzogen: Vom Feminismus als Bewegung wird sehr viel stärker als
       von anderen sozialpolitischen Bewegungen erwartet, dass er ohne innere
       Kämpfe auskommt. Das ist Quatsch. Unabhängig davon würde ich mir wünschen,
       dass Feministinnen öfter miteinander ins Gespräch kommen statt sich
       gegenseitig öffentlich auf X anzugehen.
       
       Beim Selbstbestimmungsgesetz stehen sich zwei feministische Gruppen
       gegenüber: Die einen, die [2][nichts gegen trans Personen etwa in einer
       Frauensauna haben], und die anderen, die eine solche Öffnung verbieten
       wollen, weil in ihren Augen eine trans Frau ein Mann ist, der in
       Frauenräume vordringt. 
       
       Das sind zwei fundamental unterschiedliche Haltungen, das stimmt, und ich
       halte es tatsächlich für schwierig, dass hier die Kontrahent:innen
       miteinander ins Gespräch kommen können.
       
       An dieser Stelle müssen wir auch über Alice Schwarzer reden, die sich
       [3][gegen das Gesetz ausspricht]. 
       
       Hier ist Alice Schwarzer leider stehen geblieben. Früher hat sie sich
       durchaus für trans Frauen eingesetzt, als diese in Frauenhäusern nicht
       willkommen waren. Jetzt hat sie ihre Position komplett gewechselt: Früher
       waren trans Personen in ihren Augen Menschen mit einer psychischen Störung,
       heute findet sie, „Transgender“ sei ein Kult, dem sich auch Kinder beugen
       müssten.
       
       Schwarzer hat keine Verdienste? 
       
       Doch, doch. Für die feministische Bewegung in den 1970er und 1980er Jahre
       war Alice Schwarzer überaus wichtig. Mit ihren Erfolgen beim Kampf für
       Abtreibung, Frauenrechte, beim Aufdecken patriarchaler Strukturen in der
       Gesellschaft hat sie ihre feste Rolle, die ihr trotz aller Kritik heute
       niemand streitig machen kann.
       
       Nun setzt sie sich mit Sahra Wagenknecht für Verhandlungen mit Russland
       ein, betritt ein umstrittenes Feld. [4][Verspielt sie gerade ihre
       feministischen Meriten]? 
       
       Die verspielt sie schon länger, beispielsweise bei Fragen wie Prostitution
       oder Kopftuch. Es geht gar nicht darum zu sagen, dass sie speziell bei
       diesen beiden Themen falsch liegt. Beide Themen werden kontrovers
       diskutiert, das ist auch gut so. Das Problem ist, dass Alice Schwarzer ihre
       Meinung dazu hat, dass sie recht behalten und am liebsten Prostitution und
       Kopftuch verbieten will.
       
       Was ist falsch daran? 
       
       Das Weltbild von Alice Schwarzer ist in Schwarz-Weiß geteilt, die Welt ist
       aber grau, also vielschichtig und kompliziert. Verbote sind selten eine
       Lösung. Ihrer Argumentation, egal bei welchem Thema, fehlen oft die
       Nuancen, so als gäbe es für ein Problem nur eine einzige Lösung.
       
       Die sie ihrer Meinung nach hat. 
       
       So ungefähr. Störend ist zudem, dass sie jüngeren Feministinnen oft
       gönnerhaft begegnet, so nach dem Motto: Ich geb dir mal einen Tipp, was
       richtig ist. Auf dieser Grundlage kommt man mit ihr nicht ins Gespräch. Und
       das ist misslich, denn ein solches Verhalten ist alles andere als
       schwesterlich.
       
       21 Feb 2024
       
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