# taz.de -- Geflüchtete Ukrainer in Deutschland: Heimat finden
       
       > Viktoriia Glukhovska ist aus der Ukraine geflohen und lebt nun in einem
       > niedersächsischen Dorf. Ihr Mann darf die Ukraine nicht verlassen.
       
 (IMG) Bild: Auch wenn das Ankommen nicht immer einfach ist: Viktoriia Glukhovska kann sich vorstellen, in Deutschland zu bleiben
       
       Wenn Viktoriia Glukhovska an die guten Zeiten in der Ukraine denkt, an die
       Zeiten vor dem Krieg, fallen ihr zuerst die Familienfeste ein. Zu Ostern,
       zum Beispiel. Alle zusammen, stundenlang, an einem großen Tisch, „gedeckt
       und bedeckt“, sagt sie lächelnd und freut sich kurz über diese sprachlichen
       Feinheiten im Deutschen, gedeckt und bedeckt jedenfalls mit Unmengen von
       leckerem Essen.
       
       Im Moment sitzen ihre Schwiegereltern im russisch besetzten Luhansk, ihr
       Mann in Kyjiw, ihre Mutter und ihre Schwester mit deren Familie in Polen,
       ihre Tochter in Toulouse und sie selbst in einem winzigen niedersächsischen
       Dorf namens Lavenstedt, Gemeinde Selsingen, Landkreis Rotenburg (Wümme). Ob
       und wo sie je wieder gemeinsam an einer großen Tafel sitzen werden, weiß
       sie nicht.
       
       Viktoriia Glukhovska spricht vom „1. Krieg“ und vom „2. Krieg“, gemeint ist
       die Besetzung der Krim 2014 und der Überfall 2022. Sie spricht von ihrer
       zweifachen Flucht, erst aus Luhansk und dann später aus Kyjiw, und sagt
       trotzdem: „Ich habe immer viel Glück gehabt.“
       
       Zum Beispiel mit der Bekanntschaft mit Alfred Poppinga, die sie hierher
       geführt hat. Sie haben sich vor sechs Jahren in einer Lüneburger
       Jugendherberge kennengelernt. Sie begleitete eine Gruppe von
       Tschernobyl-Kindern, er eine Klassenfahrt. Weil ihre Gruppen die gleichen
       Essenszeiten im Speisesaal zugeteilt bekommen hatten, kamen sie immer
       häufiger ins Gespräch. So war das schon immer bei ihr, sagt sie. Wenn sie
       von einem Ausflug zurück kommt, fragt die Familie: „Und? Was für Lehrer
       hast du dieses Mal kennengelernt?“ Sie hat da ein Händchen für, man erkennt
       sich irgendwie.
       
       Die beiden bleiben in Kontakt. Poppinga chattete auch mit Glukhovskas
       Tochter Julia, die ihre Deutschkenntnisse verbessern wollte. Einmal kam sie
       ihn besuchen. Zum Gegenbesuch in der Ukraine kam es dann nicht mehr. Als
       der Krieg ausbrach (der zweite), schrieb er ihr eine Whatsapp-Nachricht.
       Komm her, ich habe Platz.
       
       ## Wenigstens einer in Sicherheit
       
       Und ihr Mann sagte: Geh, damit wenigstens einer von uns in Sicherheit ist.
       Denk an unser Kind, es soll nicht beide Eltern auf einmal verlieren. Und
       sie ging. Nicht nach Toulouse, wo die Tochter studierte, sondern nach
       Lavenstedt, zu Alfred Poppinga.
       
       Anfangs dachten sie natürlich nicht, dass es so lange dauern würde. Aber
       aus Wochen oder Monaten wurde schleichend eine unbestimmte Zeit. Jetzt sind
       es bald zwei Jahre.
       
       Für Glukhovska war schnell klar: Sie will nicht vom Jobcenter abhängig
       sein. Und im Vergleich zu vielen anderen Geflüchteten hat sie einen
       Vorteil: Sie spricht fließend Deutsch, wenn auch mit Akzent und
       gelegentlich kleinen Pausen, wenn sie nach dem richtigen Ausdruck sucht.
       Sie ist ausgebildete Deutsch- und Französischlehrerin mit 25 Jahren
       Berufserfahrung.
       
       Da, dachte sich auch ihr Freund Alfred Poppinga, müsste sich doch was
       machen lassen. Immerhin klagt man hier ja allgemein [1][über Lehrermangel.
       In Niedersachsen] spricht man von einem historischen Tiefststand bei der
       Unterrichtsversorgung, zum Anfang des Schuljahres konnten fast 300 Stellen
       nicht besetzt werden, das Kultusministerium wirbt um Quereinsteiger, lässt
       Plakate drucken, eine Hotline schalten.
       
       Poppinga schaffte es mit einigen Mühen tatsächlich, Viktoriia Glukhovska in
       der nahegelegenen Grundschule unterzubringen, zunächst als pädagogische
       Mitarbeiterin. Sie begann dort am 5. September 2022 – sechs Monate nach
       ihrer Ankunft in Deutschland. Schon nach drei Monaten wurde der Vertrag
       geändert, sie arbeitete als angestellte Lehrerin weiter, zunächst für den
       Rest des Halbjahres, das waren noch zweieinhalb Monate. Dann folgte ein
       Vertrag über fünf Monate als Vertretungslehrkraft.
       
       Aber nur bis zu den Sommerferien, in denen war sie arbeitslos. Es folgte
       eine weitere Vertretungsstelle, wieder ein halbes Jahr, inklusive
       Teil-Abordnung an die Grund- und Oberschule im Nachbarort. Sie
       unterrichtete nun an zwei Schulen, ukrainische Kinder in Deutsch und
       deutsche Kinder in Französisch.
       
       ## Eine ganz schöne Umstellung
       
       Das, sagt sie, sei erst einmal eine ganz schöne Umstellung gewesen. In der
       Ukraine hatte sie an Gymnasien mit fremdsprachlichem Schwerpunkt
       unterrichtet, zuletzt an einer Privatschule in Kyjiw. Da paukten ihre
       Schüler zehn, zwölf Stunden in der Woche die fremde Sprache, erhielten auch
       Literaturunterricht und Gesellschaftskunde auf Französisch.
       
       Hier ist das Niveau ein ganz anderes. Französisch ist Wahlpflichtfach oder
       AG, läuft mit wenigen Stunden in der Woche, eher so nebenbei. „Ich musste
       lernen, mich zu bremsen, alles ein bisschen spielerischer und leichter zu
       gestalten.“ Dazu kam die quasi doppelte Unterrichtsvorbereitung, denn sie
       musste sich ja auch die deutschen Erklärungen zurechtlegen, statt
       umstandslos von ihrer Muttersprache ins Französische zu wechseln, wie sie
       es gewohnt war.
       
       Aber sie biss sich durch. „Die Kollegen an beiden Schule haben mich sehr
       nett aufgenommen und immer alle meine Fragen beantwortet.“ Die Arbeit macht
       ihr Freude, sagt sie. Und man glaubt ihr das sofort, wenn man hört, mit
       welcher Wärme sie über ihre Schüler spricht. Selbst wenn es Konflikte gibt.
       
       „Gerade hatten wir eine Schulversammlung, weil einige Schüler in der Schule
       ‚Ausländer raus‘ gerufen haben.“ Die Schulleiterin habe darauf sofort
       reagiert und klar gestellt, dass man hier Wert auf einen freundlichen und
       respektvollen Umgang lege. Das sei gut gewesen, sagt sie.
       
       Auch wenn sie den ukrainischen Kindern anschließend noch einmal in ihrer
       Muttersprache erklären musste, was genau da gemeint war. Die sind dann
       natürlich erst einmal verunsichert, sagt sie. Verstehen nicht genau, ob sie
       jetzt gemeint sind und warum. Sie habe versucht, ihnen zu erklären, dass
       die gesellschaftliche Stimmung eben gerade ein bisschen schwierig sei. Dass
       manche Kinder so etwas aufschnappen und nachplapperten. Dass sie sich davon
       nicht provozieren lassen sollten. Genauso, wie sie selbst den Jungen
       ignoriert hat, der hinter ihrem Rücken laut und deutlich sagte: „Ich mag
       Putin“. So sind Jugendliche eben manchmal, sagt sie.
       
       ## Zurück zu Putins Krieg
       
       Sie fährt eigentlich jedes Mal in den Ferien zurück nach Kyjiw, zurück in
       Putins Krieg, um bei ihrem Ehemann zu sein. Als Mann im wehrfähigen Alter
       darf er die Ukraine nicht verlassen, auch wenn er nicht an der Front ist,
       sondern als Ingenieur eine Lehranstalt für Schweißtechnik leitet. Im
       letzten Jahr hat er sich verletzt, als er während eines Stromausfalls auf
       der Arbeit in eine Grube stürzte. Der komplizierte Bruch im Fuß wurde schon
       vier Mal operiert, aber richtig laufen kann er noch immer nicht.
       
       Die Stadt, sagt sie, ist immer noch in einem andauernden Ausnahmezustand,
       ständig heulen die Sirenen. „Ich lebe in zwei Welten.“ Auch er ist
       zerrissen zwischen der Sehnsucht nach ihr und der gemeinsamen Tochter und
       der Sorge um seine Eltern. Die waren damals, 2014, zu gebrechlich, um mit
       ihnen zu flüchten. Sie leben noch immer im von Russland besetzten Osten der
       Ukraine. Die Verbindung aufrecht zu erhalten ist schwierig, und wenn man
       sie überhaupt einmal erreicht, muss man aufpassen, was man sagt, erzählt
       Glukhovska. Bei bestimmten Stichworten wird sofort die Verbindung gekappt.
       
       Sie glaubt nicht mehr, dass sich an dieser Situation so schnell etwas
       ändert. Sie möchte am liebsten in Deutschland bleiben und ihren Mann zu
       sich holen. Noch will er das nicht. „Aber vielleicht, eines Tages“, sagt
       sie hoffnungsvoll.
       
       Aber so ganz leicht ist das Ankommen hier eben auch nicht. Sie ist
       mittlerweile bei ihrem vierten befristeten Vertrag als Lehrerin angekommen,
       dem fünften befristeten Vertrag insgesamt. Im Sommer hatte ihre Schule eine
       unbefristete Stelle für eine Französischlehrerin ausgeschrieben, Zweitfach
       beliebig.
       
       Sie hat sich beworben, sonst kaum jemand, soweit sie weiß. Ihre Bewerbung
       wurde trotzdem abgelehnt. Sie müsse sich, hieß es, als Quereinsteigerin
       bewerben, das ist ein anderes Verfahren. Also setzte sie mit Hilfe der
       Schulleiterin ein zweite Bewerbung auf. Doch dann zog sich die Anerkennung
       ihrer Berufsabschlüsse ewig hin.
       
       „Das kostet 200 Euro und sollte eigentlich in drei Monaten gehen, hier
       waren es sechs“, ärgert sich ihr Freund Alfred Poppinga. Eingetrudelt sei
       das Gutachten auch erst, nachdem er mit einer Klage gedroht hatte.
       
       Mittlerweile ist es aber da. Ihr Abschluss als Französischlehrerin
       entspricht – zusammen mit ihrer langjährigen Berufserfahrung – deutschem
       Niveau. Deutsch hingegen hat sie nur als Fremdsprache unterrichtet, für
       eine Anerkennung als Deutschlehrerin, die auch Muttersprachler unterrichten
       kann, müsste sie noch einiges nachholen und einen so genannten
       Anpassungslehrgang absolvieren. Sie weiß noch nicht genau, ob sie das
       macht. Das hängt für sie ein bisschen vom organisatorischen Aufwand ab.
       „Wenn ich dafür einmal in der Woche zweihundert Kilometer zum Beispiel nach
       Braunschweig fahren muss, wird das ein bisschen schwierig“, meint sie.
       
       ## Nicht undankbar sein
       
       Sie wisse ja, das sie großes Glück gehabt habe, sagt Viktoriia Glukhovska.
       Sie wolle auch ganz bestimmt nicht undankbar sein. Sie sehe doch, wie
       schwer es andere hätten. Die Mutter einer ihrer Schülerinnen sei
       ausgebildete Chemikerin. Hier putzt sie die Schule, weil ihre
       Sprachkenntnisse noch nicht ausreichten.
       
       Auch ihre Schwester und ihre Mutter in Polen würden mit der schwierigen
       Sprache kämpfen, nur ihr Schwager habe dort Arbeit. Und ihre Tochter in
       Toulouse habe jetzt zwar ihren Master in der Tasche, finde es aber auch
       nicht so leicht, in Frankreich eine Stelle zu finden – obwohl sie als
       Studentin immer gejobbt habe.
       
       Es sei nur so schwer zu verstehen, sagt sie. Sie unterrichte jetzt doch
       schon so lange. Warum gehe das denn befristet, aber unbefristet nicht? Ob
       es etwas damit zu tun habe, dass sie Ukrainerin sei?
       
       Alfred Poppinga schnaubt ärgerlich. Auch ihm geht langsam die Geduld aus.
       Seit zwei Jahren hilft er Viktoriia Glukhovska, sich durch die diversen
       Antragsformulare und sonstige Formalitäten zu kämpfen. Vieles davon sei
       auch ihm als Akademiker unverständlich. Wie machen das denn eigentlich
       Leute, die kein Deutsch sprechen und keine Hilfe haben?
       
       Die Sache mit dieser Bewerbung liege jetzt beim Personalrat, sagt er.
       Vielleicht tue sich da ja doch noch etwas.
       
       Sie werde bald 50, sagt Viktoriia Gluhovska leise. Sie habe nun schon so
       oft neu angefangen. Nach der Flucht aus Luhansk und der Flucht aus Kyjiw,
       an dieser Schule und der nächsten. „Ich möchte doch nur ein bisschen Ruhe
       und Sicherheit, ja? Und einfach meine Arbeit machen. Ist das zu viel?“
       
       26 Feb 2024
       
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