# taz.de -- Zukunft des Fußballs: Vorwärts zu den Wurzeln
       
       > Wer wissen will, welche Wege der Profifußball einschlagen kann, muss nach
       > England schauen. Unser Autor war in der Premier League unterwegs.
       
 (IMG) Bild: Ein Fan von Dulwich Hamlet
       
       LONDON taz | Der alte Fußball liegt im Sterben, aber der neue ist noch
       nicht geboren. Der Deal über einen Investoreneinstieg in die [1][Deutsche
       Fußball Liga] (DFL) ist geplatzt, was aber nicht heißt, dass nicht bald
       neue angestrengt werden. Und einige Fragen, die die wochenlangen
       Diskussionen bestimmt haben, warten immer noch auf befriedigende Antworten:
       Wie wichtig sind Fußballfans? Was sind und wollen sie überhaupt? Und wem
       gehört dieser Fußball eigentlich?
       
       Keine Ahnung, aber mit dem nötigen Kleingeld kann ich mir ein bisschen was
       davon kaufen, denke ich Ende September 2023. Ich stehe im Fanshop des FC
       Arsenal direkt am [2][Emirates Stadion]. Das Heimtrikot kostet 110 Pfund,
       umgerechnet 128 Euro, ein Arsenal-Lederarmband-und-Uhren-Set 132 Pfund, ein
       gerahmtes und von den Spielern signiertes Trikot 1.000 Pfund. Es ist
       Nordlondon-Derby und der Andrang erinnert mich an Tage bei Aldi-Filialen,
       an denen billige, aber gute Elektroware im Angebot ist.
       
       Ich bin mit einem Austauschprogramm nach England gekommen, weil ich
       [3][Fußball liebe] und der Fußball in England geboren wurde. Weil seine
       Kommerzialisierung, über die wir in Deutschland streiten, in England nicht
       mehr zur Debatte steht. Weil der Fußball aus Sicht eines Fußballromantikers
       hier seinem Tod am nächsten ist.
       
       Weil gleichzeitig keine Liga der Welt attraktiveren Fußball und größeren
       Umsatz bietet als die Premier League. Und weil dieser Ort deshalb [4][etwas
       darüber sagen kann], was in Deutschland droht, wenn in der Zukunft ein
       Investorendeal mal nicht platzt.
       
       Für das Spiel gegen die Tottenham Hotspurs habe ich kein Ticket bekommen.
       Wer Arsenal im Stadion sehen will, muss Mitglied werden. Damit hat er aber
       noch lange kein Ticket, die werden verlost. Es gibt unterschiedliche
       Mitgliedschaften für unterschiedliche Chancen auf ein Ticket.
       
       ## Schnurrbart-Vorbild
       
       Die Red Membership sichert einen Platz auf der Warteliste für die Silver
       Membership – und damit bessere Chancen. Weil ich das alles so kompliziert
       finde wie damals als Fünfjähriger die Abseitsregel, fahre ich einfach zum
       Stadion in den Nordlondoner Stadtteil Holloway.
       
       Der Weg von der Bahnstation führt über kleine Straßen, die gesäumt sind von
       Einfamilienhäusern und Imbissbuden. Google schlägt mir den Gunners Pub als
       Alternative zum Emirates vor. Das Spiel wird hier auf großen Leinwänden
       übertragen, an den Wänden hängen Fotos der Arsenal-Legenden Ian Wright und
       Thierry Henry. Auf einem Mannschaftsfoto erkenne ich Torwart David Seaman
       wieder, den Mann, wegen dem ich heute so gerne einen Schnurrbart trage.
       
       Arsenal geht in Führung. Kurz vor der Halbzeit zieht James Maddison von
       Tottenham auf der linken Außenbahn spektakulär an Bukayo Saka vorbei, passt
       den Ball von der Grundlinie zurück in den Strafraum. Spurs-Kapitän
       Heung-Min Son schiebt ihn zwischen drei gegnerischen Spielern elegant ins
       freie lange Eck. Später gleicht er einen weiteren Rückstand aus, woraufhin
       Arsenal-Fans im Gunners-Pub schreien:
       
       „What do we think of Tottenham?“
       
       „Shit!“
       
       „And what do we think of shit?“
       
       „Tottenham!“
       
       Es sind gerade so viele Leute da, dass niemandem auffällt, dass ich mir
       kein teures Bier bestelle. Seine Ausgaben im Rahmen zu halten, ist als
       Fußballfan in London nicht einfach. Im Gunners falle ich ohnehin nicht als
       Fremder auf, die Arsenal-Fans hier sprechen Urdu, Chinesisch, Türkisch und
       andere Sprachen. Das bringt meine Fußballglobalisierungskritik ins Wanken.
       Es erinnert mich auch an eine unangenehme Begegnung in der Alten Försterei
       bei Union Berlin, als mir ein Ostberliner Fan einmal sagte, ich solle mich
       zurück nach Kreuzberg verpissen.
       
       Der FC Arsenal gehört dem US-Milliardär und Immobilienmogul Stan Kroenke.
       Bei Tottenham Hotspurs ist der Milliardär Joe Lewis Hauptanteilseigner. In
       England mischen längst auch russische Oligarchen und arabische Petrodollar
       mit. Viele englische Fans empfangen sie sogar mit offenen Armen: Bei
       Newcastle United wurde 2021 die Übernahme durch einen saudischen
       Staatsfonds euphorisch gefeiert. Fans hofften, wieder ganz oben mitspielen
       zu können.
       
       ## Die „Dildo Boys“
       
       Bei West Ham United, einem anderen Londoner Premier League-Club, sind seit
       2010 David Gold und David Sullivan Mehrheitseigner. Sullivan machte sein
       Geld in der Pornoindustrie, Gold mit Sexshops. Manche West Ham-Fans
       schimpfen sie deshalb „Dildo Boys“. Unter ihnen verließ der Verein 2016
       nach 112 Jahren – ohne Not, wie viele Fans sagen – sein Zuhause im
       migrantischen und proletarischen East End.
       
       Heute absolviert West Ham seine Heimspiele im großen und modernen
       Olympiastadion ein paar Kilometer weiter westlich, umgeben von Wiesen,
       Kanalläufen und einem Einkaufszentrum, irgendwo im Nirgendwo. Da, wo einst
       das legendäre Stadion Upton Park stand, sind heute teure Wohnungen.
       
       Für ein Heimspiel gegen Newcastle United ergattere ich im Oktober online
       eine Karte. Ich bekomme sogar einen Platz hinter einem der Tore. In
       Deutschland ist hier die beste Stimmung: Die Stehplätze sind billig und die
       Ultras organisieren den Support. Bei Hertha BSC kostet so ein Ticket 15
       oder 20 Euro, was einige Fans nicht davon abhält, über zu hohe Ticketpreise
       zu klagen.
       
       Für meinen Sitzplatz im Bobby Moore Stand, benannt nach dem Kapitän, der
       die englische Nationalmannschaft 1966 zum WM-Titel führte, zahle ich 65
       Pfund, also umgerechnet 76 Euro. Die Stimmung ist so öde, dass mir das
       Berliner Olympiastadion, das nicht als besonders stimmungsvoll gilt, wie
       ein Traum vorkommt.
       
       In der Premier League ist Alkohol auf den Rängen verboten. Vor dem Spiel
       wird deshalb so viel reingekippt wie nur geht. Kurz vor Anpfiff eilen die
       Besucher dann zu den Plätzen. Wo soll da noch eine Choreo reinpassen? Dass
       die berühmte Stadionhymne „I’m Forever Blowing Bubbles“, bei der
       Seifenblasen durch das Stadion fliegen, nur ganz kurz eingespielt wird,
       scheint außer mir niemanden zu stören.
       
       Auch nach Anpfiff bleibt es bis auf wenige spontane kurze Gesänge ruhig.
       Organisierte Fans suche ich vergeblich. Das einzige, was hier organisiert
       ist, ist der Alkoholkonsum: Lange vor Ende der ersten Halbzeit, ab der 30.
       Minute, steuern die ersten die Bierschlange an, um die 15 Minuten
       Halbzeitpause so effektiv wie möglich zu nutzen.
       
       ## Teures Bier
       
       In der 33. Minute sehe ich einen Mann mit seinem Sohn auf den Schultern die
       Treppen hochsteigen. Der kleine Junge protestiert erst, dann fleht er
       seinen Vater an, noch nicht zu gehen. Der hält kurz an, aber nur bis der
       Ball im Aus ist. Das Bier kostet knapp 7 Pfund, eines der teuersten in
       Englands Stadien.
       
       Als die West Ham-Spieler nach Abpfiff nicht in die Kurven gehen, um sich
       bei den Fans zu bedanken, wie ich es kenne, wundert mich das nicht mehr.
       Beim Ostlondoner Arbeiterklub, über den mal der klischeereiche, aber
       reichweitenstarke Film „Green Street Hooligans“ mit Elijah Wood gedreht
       wurde, scheint die Stimmung weggentrifiziert.
       
       Ein paar Wochen später finde ich sie doch noch, wenn auch mit Abstrichen
       bei der fußballerischen Qualität. Ich besuche den Siebtligisten Dulwich
       Hamlet FC im Südosten Londons. In den Champion Hill in einem
       malerisch-dörflichen Stadtteil passen 3.000 Personen, der Eintritt kostet
       12 Pfund.
       
       Der Guardian nannte den Verein einmal „London’s most hipster football
       club“. Das kann ich nachvollziehen, wenn ich den jungen, aufgebrezelten
       Teil der Anhängerschaft betrachte, der an einem sonnigen Samstagnachmittag
       auch am Kreuzberger Landwehrkanal spazieren gehen könnte. „Don’t Buy The
       Sun“, steht auf einem Banner hinter dem Tor über Großbritanniens
       auflagenstärkstes Boulervardblatt.
       
       Streifen der Regenbogenfahne leuchten auf dem Beton rund um das Spielfeld.
       Das Geländer auf den Stehrängen ist vollgeklebt mit Antifastickern, auch
       vom Hamburger Fünftligisten Altona 93, mit dem die Südostlondoner eine
       Fanfreundschaft pflegen.
       
       ## Selbstironische Gesänge
       
       Ich frage drei junge Männer, warum sie sich Fußball der siebten Liga
       anschauen.
       
       „Wir wohnen alle in der Gegend, das ist ein Treffpunkt“, sagt der Erste.
       
       „Weil man hier beim Fußballgucken Bier trinken kann“, sagt der Zweite.
       
       „Hier geht es nicht um Fußball, der Fußball hier ist grottenschlecht“, sagt
       der Dritte.
       
       Ich kann das an diesem Tag kaum beurteilen, weil ich vor lauter Gesprächen
       nicht viel vom Spiel mitbekomme. Dafür finde ich heraus, warum die Fans von
       Dulwich, die während der Halbzeit von den Stehplätzen hinter dem einen Tor
       zu jenen hinter dem anderen Tor wechseln, um so nahe wie möglich dran zu
       sein, falls ihre Mannschaft doch mal ein Tor schießt, immer wieder diesen
       einen Satz singen:
       
       „Tuscany! Tuscany! We’re the famous Dulwich Hamlet and we look like
       Tuscany!“
       
       Als das alte Stadion in den Neunzigern abgerissen und durch ein neues
       ersetzt werden sollte, gab es Proteste. In einem Brief an den Gemeinderat,
       der bei einer Sitzung unter dem Gelächter der Anwesenden vorgelesen wurde,
       schrieb ein sentimentaler Fan, dass die Gegend der Toskana ähnele und nicht
       durch eine Modernisierung zerstört werden dürfe.
       
       Er wurde überstimmt und das neue Stadion wurde gebaut. Heute machen sich
       die Fans von Dulwich diese Geschichte in ihren selbstironischen Gesängen zu
       eigen – und erinnern daran, dass nicht alles, was neu ist, schlecht sein
       muss.
       
       1 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] /Fanproteste-im-englischen-Fussball/!5769430
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
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