# taz.de -- Forscherin über Marburger Subkultur: „Eine linke Kneipe fehlt“
       
       > Susanna Kolbe hat die Studentenkneipen von Marburg durchforstet. Von der
       > linken Subkultur im „roten Marburg“ von einst ist wenig übriggeblieben.
       
 (IMG) Bild: Mit etwas Glück findet man auf dem Marktplatz von Marburg noch ein paar Linke
       
       taz: Frau Kolbe, Sie haben ein Buch über Kneipen in [1][Marburg]
       geschrieben, einer klassischen Universitätsstadt. Wie sind Sie da
       vorgegangen? 
       
       Susanna Kolbe: Viele der [2][Kneipen], über die ich schreibe, existieren
       leider nicht mehr. Aber in die, die noch da sind, bin ich natürlich
       reingegangen. Und die sehen auch tatsächlich – das war für mich eine große
       Überraschung – noch so aus wie früher, als ich die ersten Male da war, Ende
       der 1970er, Anfang der 80er Jahre.
       
       Wie sehen sie denn aus? 
       
       Dunkel, gemütlich, ein bisschen aus der Zeit gefallen. Der Hammer war das
       Delirium in der Marburger Oberstadt. Da war wirklich exakt noch jedes
       Möbelstück und die Farbe an der Wand erhalten, jedes Bild hat noch so
       gehangen wie früher. In den Kneipen hab ich dann ein bisschen mit den
       Leuten gequatscht und natürlich recherchiert. In mehreren Fällen war es so,
       dass der alte Besitzer nicht mehr lebte. Im Delirium hat sich zum Glück
       eine Nachfolgerin gefunden, die da schon lange gearbeitet hatte, und den
       Laden nun mit Leidenschaft weiterführt.
       
       Sind Sie in Marburg aufgewachsen? 
       
       Nein, ich bin erst Anfang der Achtziger zum Studieren hingezogen.
       Ursprünglich komme ich aus Kassel.
       
       Wie hat sich die Marburger Kneipenlandschaft denn entwickelt? 
       
       Ich habe mich immer für die historischen Hintergründe der einzelnen
       Studentenkneipen interessiert. Was war da vorher? Das waren manchmal ganz
       biedere Bierkneipen. Die wurden dann in den Siebzigern von einer neuen
       Generation übernommen, die was anderes daraus gemacht hat, weil eben andere
       Leute reingegangen sind, die linke, alternative Szene.
       
       Diese Kneipen haben dann den Mythos vom „Roten Marburg“ mitbegründet? 
       
       Grundsätzlich gab es das auch in anderen Städten, dass diese Orte mit
       Butzenscheiben von jungen Leuten besetzt wurden. In Marburg teilte sich das
       dann politisch auf. Wenn man bei der marxistischen Gruppe war, ging man ins
       Quod libet und im Schwarzen Walfisch trafen sich die DKPler.
       
       Hat sich davon etwas erhalten? 
       
       Wenig. Es ist immer noch eine sehr bunte Mischung. Es gibt in Marburg schon
       noch diese linksalternative Atmosphäre, denn die bleibt auch in anderen
       Räumen, wie im Buchladen Roter Stern oder im Kulturzentrum Kfz. Aber ich
       würde nicht sagen, dass man heute in eine bestimmte Kneipe geht, weil man
       da in einer bestimmten Form politisiert wird.
       
       Können heute alle in alle Kneipen gehen? 
       
       Na ja, es gibt die Kneipen in der Reitgasse in der Oberstadt, wo
       Burschenschaftler hingehen. Da steht dann an Wochenenden eine Traube von
       sehr unangenehmen, betrunkenen, machohaften Typen davor. Davon würde ich
       mich fernhalten. Die Stadt hat sich dagegen ein bisschen positioniert,
       gerade wenn es Auseinandersetzungen gibt oder irgendwelche Einladungen von
       Rechtsextremen. Da ist Marburg sich schon treu geblieben.
       
       Aus dem Delirium kam man früher ohne drei Bier nicht raus. Die Jugend,
       heißt es, trinkt weniger Alkohol. Ist Alkohol noch verpflichtend heute oder
       kamen Sie auch gut mal mit einer Apfelsaftschorle durch? 
       
       Da habe ich kein Problem mit. Ich meine, ich gehöre natürlich mittlerweile
       auch zu einer älteren Generation. Aber Alkohol ist schon oft dabei. Wie das
       früher bei mir selbst finanziell ging, wundert mich, das muss ich ganz
       ehrlich sagen. Ich habe so wenig Geld gehabt, ich war aber trotzdem jeden
       Abend in der Kneipe. Heute gehen die jungen Leute gerade im Sommer eher an
       die Lahn oder es wird gecornert. Und später ziehen manche dann in der
       Gruppe betrunken durch die Oberstadt.
       
       Draußen trinken: Eine Kneipe, die das in den 80ern praktisch begonnen hat,
       die sogenannte Außenbewirtschaftung, war Humphreys Wunderbar, ebenfalls in
       der Oberstadt. 
       
       Das ist aber ganz schnell wieder vorbei gewesen, weil die Kneipe auch nicht
       mehr lange lief. Das war ein Versuch. Erst in den 2000ern hat sich das dann
       total verbreitet, natürlich dann nochmal besonders mit und nach Corona. Da
       wurden die Außenbereiche immer größer.
       
       Die Leute saßen drin, sie wollten nicht gesehen werden, sondern sozusagen
       ihr eigenes Reich haben. Und irgendwann hat dann plötzlich wer damit
       angefangen, Stühle nach draußen zu stellen. Das ist ja durchaus ein
       Kulturwandel. 
       
       Da gibt es ein schönes Beispiel vom Café Barfuss. Der damalige Wirt hat
       immer eine Kneipe gegenüber seiner Wohnung beobachtet. Die war immer ganz
       verhangen, ein düsterer Ort. Und der wollte das in seiner Kneipe öffnen,
       Licht reinlassen, damit es nicht mehr so ein Versteck für Menschen war, die
       da ihre Ruhe haben beziehungsweise heimlich trinken wollten.
       
       Wir müssen noch über das Slot reden! Eine Bar, eine Disco, ein Club würden
       wir heute sagen. Für alle, die die Neunziger in Marburg erlebt haben, war
       das ein wichtiger Ort. Ich glaube, ich war jeden Abend im Slot. Aber dann
       machte es zu wegen Beschwerden der Anwohner und hat eigentlich nie einen
       Nachfolger gefunden – oder täusche ich mich da? 
       
       Das ist alles dezentraler geworden. Wolfgang Richter, der Besitzer, hatte
       irgendwann keine Lust mehr, früher zuzumachen, um die Auflagen zu erfüllen
       und hat sich dann außerhalb im Gewerbegebiet Räume gesucht. Es hat aber
       tatsächlich keine Disco mehr in der Oberstadt aufgemacht. Auch wenn in
       manchen Oberstadtkneipen später bestimmt noch aufgelegt wird und die sich
       in Clubs verwandeln.
       
       Gibt es noch eine spezifisch linke Kneipe in Marburg? 
       
       Ich hab mit ein paar jungen Leuten geredet und die haben mir gesagt, dass
       eine linke Kneipe in Marburg definitiv fehlt. Neben der Tanzmöglichkeit
       innerhalb der Stadt. Die queere Szene hat noch einen Ort im Kulturzentrum
       Café Trauma. Aber etwas spezifisch Linkes, so [3][wie früher das Havanna
       8], in dem sich etwas gebündelt hat, die autonome und die schwul-lesbische
       Szene – davon weiß ich wirklich nichts. Die Sehnsucht nach einem solchen
       Raum besteht aber weiterhin.
       
       Geben Sie der Studikneipe eine Zukunft? Oder ist die passé, noch mal mehr
       mit dem fortschreitenden Klimawandel, wenn alle praktisch immer auf der
       Wiese trinken können? 
       
       Ich bin der festen Überzeugung – und das zeigt sich auch daran, was am
       Wochenende hier los ist –, dass die Leute die Studentenkneipen, diese
       düsteren, dunklen, nostalgischen Räume, immer noch toll finden und sich
       wohl fühlen. Das ist ein Raum für viele geblieben. Gerade auch nach Corona
       ist das Bedürfnis da, sich real zu treffen, etwas miteinander zu machen.
       Auch die Kneipe, in die ich im Stadtteil Weidenhausen gerne gehe, sieht
       genauso aus wie zu ihrer Eröffnung in den 80er Jahren. Da treffen sich die
       Generationen und ganz verschiedene Gruppen. Als Raum der Geborgenheit und
       der Kommunikation halte ich das für zukunftsträchtig.
       
       29 Feb 2024
       
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