# taz.de -- Netanjahu und die Zweistaatenlösung: Totaler Sieg über den Frieden
       
       > Netanjahu lehnt eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten ab. Darin ist er
       > sich mit der Hamas einig – und untergräbt jede Hoffnung auf ein Ende der
       > Gewalt.
       
 (IMG) Bild: Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bei einer Pressekonferenz im Oktober 2023 in Tel Aviv, Israel
       
       Das rechte und rechtsextreme Lager unter Premierminister Netanjahu hat sich
       entschieden, in der Frage nach einer politischen und regionalen
       Nachkriegsordnung auf Konfrontation mit dem Westen zu setzen. Netanjahu
       wird nicht müde, die Formel vom „totalen Sieg“ über die Hamas auszugeben,
       während die Militärführung längst klargemacht hat, dass es diesen nicht
       geben wird.
       
       Die Strategie ist, die Regierungskoalition zusammenzuhalten und darauf zu
       setzen, dass die internationale Gemeinschaft bei der Durchsetzung von
       Kompromisslösungen scheitern wird. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.
       Letzte Woche gelang die Verabschiedung einer Regierungserklärung, die sich
       gegen jegliche „unilaterale Anerkennung“ eines palästinensischen Staates
       aussprach, wie sie von Großbritannien und den USA diskutiert wird.
       Netanjahu hat es dabei mit 99 von 120 Knesset-Stimmen geschafft, nahezu die
       gesamte Opposition ins Boot zu holen. Dem Meister der politischen
       Ränkespiele scheint es gelungen, das Blatt zu wenden.
       
       Dabei ist allen Israelis bekannt, dass Netanjahu mit seinem Versuch der
       Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung tatsächlich zu deren
       Stärkung beitrug, indem er etwa finanzielle Zuwendungen aus Katar an die
       Hamas gestattete. Anders als die Führungspersönlichkeiten aus den
       Sicherheitsapparaten und im Militär weist er jedoch jede politische
       Verantwortung zurück. Es lohnt sich, einen Blick auf den Etappensieg in der
       Knesset zu werfen, da dieser die Konfliktlinien zwischen der israelischen
       Mehrheit und der Wahrnehmung der internationalen Gemeinschaft offenbart.
       
       Die Regierungserklärung stellt die Aussicht auf einen palästinensischen
       Staat als Belohnung für den Terror dar, welche jedwedes zukünftiges
       Friedensabkommen verhindere. So als ob es bei dem Massaker der Hamas um
       einen palästinensischen Staat neben dem israelischen gegangen wäre.
       Letzteres ist völliger Unsinn, was im Grunde auch alle Beteiligten wissen.
       Die Hamas will die Errichtung eines islamischen Gottesstaates und die
       Vernichtung Israels. Sie ist sich in der Ablehnung der Zweistaatenlösung
       mit dem rechten Lager israelischer Politik einig.
       
       ## Zwei Geschichtserzählungen
       
       Was sich in der unterschiedlichen Auslegung des Massakers vom 7. Oktober
       zeigt, ist die Etablierung einer vollkommen unterschiedlichen
       Geschichtserzählung in Israel und international. Während das Massaker in
       breiten Teilen der jüdisch-israelischen Bevölkerung als ein Vorbote dessen
       gesehen wird, was einen erwartet, wenn man die Kontrolle an eine
       palästinensische Verwaltung übergibt, herrscht international die
       Einschätzung vor, dass die Gewaltspirale ohne eine Aussicht auf nationale
       Selbstbestimmung der Palästinenser nicht zu beenden ist. Die Rückkehr der
       Zweistaatenlösung in die Diplomatie des Nahen Ostens ist der politische
       Ausdruck dieser unterschiedlichen Auffassungen.
       
       Netanjahu versucht, das Trauma der israelischen Bevölkerung für sein
       politisches Überleben einzuspannen. Auch die parlamentarische Opposition
       vermag es nicht, sich dem zu entziehen. Einerseits teilen breite Teile
       davon die Einschätzung der Gefahren, die von einem palästinensischen Staat
       ausgehen, und andererseits befürchtet man, die Wählergunst zu verlieren.
       Die allwöchentlich in den Straßen von Tel Aviv und anderen Städten zu
       vernehmenden wütenden Rufe à la „Du bist der Kopf, du bist schuldig“ finden
       keine Übersetzung ins politische System.
       
       ## Gaza als Westbank 2.0
       
       Netanjahus Nachkriegsplan von vergangenem Wochenende ist sicherlich keine
       Ankündigung einer historischen Wende. Vielmehr wird mit dem Vorschlag einer
       zeitlich unbegrenzten militärischen Kontrolle, der Einrichtung von
       Pufferzonen, einer antiterroristischen „Reeducation“ und einer nicht näher
       spezifizierten Zivilverwaltung ein Szenario erkennbar, das als abgespeckte
       Besatzungspolitik aus dem Westjordanland bereits bekannt ist.
       
       Wenn es der internationalen Koalition nicht gelingt, der Regierung einen
       verbindlicheren Fahrplan abzutrotzen, werden sich die Gegner der
       Zweistaatenlösung weiterhin die Bälle zuspielen. Netanjahu ist darin seit
       den Angriffen auf die Verträge von Oslo der versierteste Akteur.
       
       Insbesondere wird jede palästinensische Zivilverwaltung für den
       Gazastreifen, wie sie gerade [1][nach dem Rücktritt von Ministerpräsident
       Mohammed Schtajjeh] vorbereitet wird, einen schwierigen Stand haben. Jahre
       von Korruption und Autoritarismus haben die Palästinensische
       Autonomiebehörde im Westjordanland und im Gazastreifen erheblich
       diskreditiert.
       
       Zudem gestaltet sich die Suche nach politischen Repräsentanten, die sowohl
       die internen palästinensischen Fraktionen überbrücken können als auch den
       israelischen und internationalen Anforderungen genügen, als äußerst
       kompliziert. Als wäre das nicht genug, wurde mit der Verordnung zur
       Beschränkung der muslimischen Besucher zum Tempelberg/Haram al-Scharif zu
       Beginn des Ramadan am 10. März durch den nationalen Sicherheitsminister
       Itamar Ben-Gvir ein erster Fallstrick für kooperationswillige Partner
       ausgelegt.
       
       ## Das eigene Überleben im Sinn
       
       In der [2][israelischen Opposition] scheint vergessen, dass sich ein
       zionistischer Politiker wie Jitzhak Rabin für Verhandlungen mit der PLO
       entschied, als die Zustimmungsquote für einen Palästinenserstaat bei gerade
       mal 30 Prozent lag. Heute sind es knapp unter 50 Prozent. Der an
       Meinungsumfragen orientierte Populismus frisst seine Kinder. [3][Netanjahus
       „totaler Sieg“] mündet in der endgültigen Liquidierung einer
       Zweistaatenlösung zugunsten seines eigenen politischen Überlebens.
       
       In den Tunneln der Hamas dürfte man sich die Hände reiben. Das Einzige, was
       die fundamentalistische Terrororganisation langfristig gefährdet – die
       Bildung einer internationalen Koalition, die ihr die Finanzmittel abstellt
       und dabei eine politische Perspektive jenseits von Gewalt eröffnet –, wird
       gerade hintertrieben.
       
       1 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael B. Elm
       
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