# taz.de -- Pop-Up-Hochzeitsnacht in Berlin: In Neukölln gesegnet
       
       > Bei einer Pop-up-Hochzeitsnacht in Berlin-Neukölln gibt es Gottes Segen.
       > Eine kirchliche Heirat für die Paare ist das noch nicht.
       
 (IMG) Bild: Büsra Nazar Önay und Preskella Waked warten auf Gottes Segen
       
       BERLIN taz | Kaum ein Schmuckstück ist so symbolträchtig wie der Ehering.
       Gewiss, eine Symbolik, die sich im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. In
       der Antike diente der Ehering noch als Besitznachweis, natürlich von der
       Frau, um 855 erhielt er durch Papst Nikolaus I. eine religiöse Bedeutung:
       Die Ehe als Bund, der vor Gott geschlossen und mit einem Ring besiegelt
       wurde. Mehr als tausend Jahre später spielt die Kirche, zumindest in
       Deutschland, längst nicht mehr eine so große Rolle bei der Eheschließung.
       Und doch ist der Ring immer noch ein fester Bestandteil vieler Hochzeiten.
       
       Kurz nach 20 Uhr an einem Samstag in Berlin-Neukölln tauschen Joachim und
       Sabine die Ringe. Sie stehen unter einem Altar, umgeben von Kerzen und
       silbernen Luftballons in Form von Herzen. Die Eheringe haben sie vor ein
       paar Monaten spontan im Ausverkauf im Kaufhaus ergattert. Jeder bezahlte
       seinen eigenen. Joachim wollte sie sofort tragen, Sabine wollte warten, bis
       sie vor Gott ihren Bund mit dem Ring besiegeln konnten.
       
       Sie wollte auf den Segen Gottes warten. Den erhalten sie an dem Tag in der
       Genezareth-Kirche in Neukölln. Sie erhalten ihn, obwohl die Ehe danach
       nicht ins Kirchenbuch eingetragen wird. Von ihren ehemaligen
       Partner:innen sind sie noch nicht geschieden, weshalb eine
       standesamtliche Trauung nicht in Frage kommt. Aber das ist heute alles
       nicht wichtig.
       
       An diesem Samstag fragt in der Genezareth-Kirche niemand nach der
       standesamtlichen Registernummer oder Kirchenmitgliedschaft. An dem Tag
       zählt nur die Liebe. Die Kirche ist mit vielen weißen Kleidern und
       schwarzen Talaren gefüllt. Die große Altarwand ist blau und lila
       angestrahlt. Der Kissenkreis, der meist Platz für Betende bietet, ist für
       Tanzende abgeräumt worden.
       
       ## Immer weniger Hochzeiten
       
       Die Zahl der Eheschließungen in Deutschland ist in den letzten 70 Jahren
       stetig gesunken. Die Paare, die noch heiraten, entscheiden sich immer
       seltener für eine kirchliche Trauung – nur mehr jede fünfte Ehe wird
       kirchlich gesegnet. 1953 waren es noch 80 Prozent.
       
       Für diese neue Realität will das sogenannte Segensbüro in Neukölln
       [1][Möglichkeiten bieten und tut dies in Form einer Pop-up-Hochzeitsnacht].
       Paare, die heiraten wollen, es aber kirchlich oder zivilrechtlich nicht
       können oder wollen, werden von einer Pfarrperson gesegnet. Nicht zum ersten
       Mal veranstaltet das Segensbüro, das vom [2][Evangelischen Kirchenkreis
       Neukölln] gefördert wird, ein solches Event. Im vergangenen Sommer kamen 63
       Paare, um sich an einem Tag segnen zu lassen.
       
       Und so stehen Joachim und Sabine an diesem Samstag unter einem Altar in
       Berlin. Sie sind extra aus Hanau angereist. Ihre Familie und Freund:innen
       wissen nicht, dass sie in der Hauptstadt heiraten. „Wir machen das nur für
       uns heute“, sagt Sabine. Sie trägt ein selbst genähtes weißes Kleid,
       Joachim einen braunen Anzug. Beide tragen Vorfreude in sich.
       
       „Ich bin ziemlich aufgeregt“, sagt Joachim, als sie gemeinsam das
       Trauzimmer betreten. Pfarrer Tobias Kuske schließt die Tür zur Tanzfläche
       hinter sich. Mit einer zweiten Pfarrerin führt er das Paar durch eine kurze
       Zeremonie. Zum Schluss liest Kuske einen Segensspruch vor: „Tanzt euer
       Leben in eurem Rhythmus. Gott schwingt mit.“ Joachim küsst seine Frau, noch
       bevor Kuske fertig ist. Er kann nicht länger warten.
       
       ## Vor 40 Jahren auf der Schulbank
       
       Sabine und Joachim kennen sich seit der Realschule. Von der 8. bis zur 10.
       Klasse saßen sie nebeneinander auf der gleichen Schulbank. Damals waren sie
       wie kleine Schwester und großer Bruder, sagen sie heute, fast 40 Jahre
       später. Nach dem Realschulabschluss verloren sie sich aus den Augen. Sie
       heirateten andere Menschen, bekamen Kinder und hörten fast 20 Jahre lang
       nichts mehr voneinander. Bis zum ersten Klassentreffen.
       
       Die Kinder waren fast erwachsen, die ersten Ehen auch nicht mehr in den
       Kinderschuhen. „Irgendwie stimmte alles nicht mehr“, sagt Joachim.
       Gemeinsam entdeckten sie das Leben neu. Sie besuchten ein Kloster, machten
       ein Schweigeseminar, nahmen an einem Gospel-Workshop teil, wanderten
       gemeinsam den Jakobsweg, bestiegen Berge. „Das sind Dinge, die wir nicht
       mit unserem Partner gemacht haben“, sagt Joachim. „Wir haben gemeinsam das
       Abenteuer gesucht und gefunden.“
       
       An dem Tag in der Genezareth-Kirche das nächste Abenteuer. Sie sind seit
       fünf Jahren zusammen, vor drei Jahren sind sie zusammengezogen. „In unserem
       Alter passieren manche Dinge nicht mehr so schnell, wie man es sich
       wünscht“, sagt Joachim. Scheidungen, zum Beispiel. Jetzt müsse er immer
       noch „Lebensabschnittsbegleitung“ sagen, wenn er von Sabine spricht, sagt
       er. „Heute Abend kann ich sagen, dass ich mit meiner Frau hier bin.“
       
       Elf Paare werden sich an diesem Abend segnen lassen. Sie alle werden ein
       kurzes Traugespräch mit zwei Pfarrer:innen führen und Fragen zu ihrer
       Beziehung, ihren Wünschen und Träumen beantworten, genau wie bei einer
       normalen Hochzeit. Es werden Tränen fließen, die Kinder werden die ersten
       auf der Tanzfläche sein und Rosenkonfetti wird den Eingang der Kirche
       schmücken.
       
       ## Drei Mal gesegnet
       
       Doch einiges weicht von einer traditionellen Hochzeit ab. Normalerweise
       dauere das Traugespräch 1,5 Stunden, sagt Pfarrerin Lina
       Hildebrand-Wackwitz. Heute hat sie in dieser Zeit bereits drei Paare durch
       eine Segenshochzeit begleitet. Drei Mal hat sie die Frage gestellt: „Wie
       habt ihr euch kennengelernt?“; drei Mal hat sie den Satz „Und Gott schwingt
       mit“ gesagt; drei Mal hat sie Paare gesegnet. Trotzdem sei sie allen drei
       Paaren sehr nahe gekommen, sagt sie. „Es ist erstaunlich, wie viel in fünf
       Minuten anvertraut wird.“
       
       Büsra Nazar Önay und Preskella Waked sitzen aufgeregt vor
       Hildebrand-Wackwitz an einem kleinen Tisch am Rande der Tanzfläche. Die
       beiden Frauen sind im Partnerlook gekleidet, Önay mit einem
       Paillettenoberteil und einer weißen Schlaghose und Waked mit einer
       Paillettenhose und einem weißen Oberteil. Sie tragen beide den gleichen
       Brautstrauß und die gleichen weißen Pumps. „Fast hätte ich heute auch
       meinen Glitzer angezogen“, sagt Hildebrand-Wackwitz. Dann schaut sie
       schmunzelnd zu ihrem Talar hinunter. „Aber das hätte man ja nicht gesehen.“
       
       Auf dem Tisch stehen zwei Sektgläser. Daneben liegt eine Broschüre mit der
       Aufschrift „Mit Gottes Segen“. Genau deshalb sind die beiden Frauen hier.
       Waked ist religiös aufgewachsen, sie kann ihre Kindheit in der Kirche nicht
       loslassen, jetzt, wo sie Önay heiratet. Die standesamtliche Trauung findet
       nächste Woche statt. Aber ihre Familie akzeptiert ihre Sexualität nicht,
       deshalb sind sie heute nur zu zweit hier.
       
       „Ihr seid hier in dieser Kirche herzlich willkommen“, sagt
       Hildebrand-Wackwitz. Mit jeder Minute, die verstreicht, legt sich die
       Aufregung etwas mehr. Die beiden Frauen beginnen zu erzählen: Sie haben
       sich im Internet kennengelernt, sind seit sechs Jahren zusammen und vor
       vier Jahren nach Berlin gezogen. Ihre Beziehung sehen sie als zwei Säulen,
       stark und unabhängig und doch gemeinsam.
       
       Nach dem kurzen Gespräch begibt sich die Hochzeitsgesellschaft in das
       Trauzimmer. Hildebrand-Wackwitz schließt die Tür zur Tanzfläche hinter sich
       und damit auch die Außenwelt für einen kurzen Moment aus. Draußen bleibt,
       dass Wakeds Mutter ihre Sexualität nicht akzeptiert und deshalb heute nicht
       anwesend ist. Draußen bleibt auch, dass die beiden nur in wenigen
       katholischen Kirchen mit dem Segen rechnen könnten. Für eine Viertelstunde
       zählt nur noch, was in diesem Raum passiert.
       
       ## „Und Gott schwingt mit“
       
       Nach den Worten „Und Gott schwingt mit“, küssen sich die Frauen.
       Hildebrand-Wackwitz wirft Rosenkonfetti und klatscht. Mit Gottes Segen
       verlassen Önay und Waked das Trauzimmer. Draußen ertönt das Lied „Dancing
       Queen“. An dem Tisch, an dem eben noch die zwei Frauen saßen, sitzen nun
       Joachim und Sabine.
       
       Insgesamt sind an diesem Abend zehn Pfarrpersonen im Einsatz, genug, um
       auch spontan Paare zu segnen. Tobias Kuske macht das nicht zum ersten Mal,
       schon vergangenen Sommer hat das Segensbüro einen Hochzeitstag
       veranstaltet. „Das ist ein Jungbrunnen für meine Beziehung“, freut sich der
       Pfarrer am Ende des Abends. „Aber auch für meine Arbeit.“ In diesem Raum
       öffne sich die Kirche und „kommt endlich im 21. Jahrhundert an“, sagt er.
       
       Um kurz vor 22 Uhr ziehen zwei Pfarrer:innen ihre Talare nochmal an.
       „Wir geben noch eine Zugabe“, sagt einer von ihnen. Ein Paar aus Amsterdam
       habe die bunten Lichter auf der Kirche gesehen und sei neugierig
       reingekommen. Nun lassen sich die beiden spontan segnen.
       
       Önay und Waked trinken ihren Sekt aus und verschwinden durch den
       glitzernden goldenen Vorhang am Eingang der Kirche in die Berliner Nacht.
       Auf dem Weg zum queeren Club Schwuz, wo sie noch nie waren, oder vielleicht
       zu einer schwul-arabischen Party, von der sie gehört haben. Sie wissen es
       nicht, aber sie müssen es niemandem recht machen, außer sich selbst. Der
       heutige Abend war nur für sie.
       
       Die meisten Gäste und Paare sind bereits verschwunden. Joachim und Sabine
       stoßen nochmal an und zeigen stolz ihre Ringe. Vicky Leandros’ „Ich liebe
       das Leben“ erklingt aus den Lautsprechern. Joachim zieht seine Sabine ein
       letztes Mal auf die Tanzfläche. „Wir sind verheiratet, mein Schatz“,
       jauchzt er und küsst seine Frau.
       
       2 Mar 2024
       
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